Fuhre vom Fleck rücken konnte. Seltsam war nur, daß der Doktor, auch ein starker Mann, Warawkas Ansicht nicht teilte, vielmehr grimmig seine schwarzen Augen rollte und schrie:
»Das, wissen Sie, ist schon ein starkes Stück!«
Maria Romanowna erhob sich kerzengerade wie ein Soldat und sagte strenge:
»Schämen Sie sich, Warawka!«
Manchmal entfernte sie sich feierlich im hitzigsten Augenblick des Streites, blieb aber an der Türschwelle stehen und schrie rot vor Zorn:
»Besinnen Sie sich, Warawka! Sie stehen an der Grenze des Verrats!«
Warawka, der auf dem stärksten Stuhl saß, lachte schallend, und der Stuhl krachte unter ihm.
Die rundlichen, warmen Handflächen reibend, begann der Vater seine Rede:
»Erlaube, Timofej! Einerseits natürlich die Praktiker innerhalb der Intelligenz, die ihre Energie dem Werk der Industrialisierung zuwenden und in den Staatsapparat eindringen . . . anderseits jedoch das Vermächtnis der jüngsten Vergangenheit . . .«
»Du sprichst nach allen Seiten miserabel«, schrie Warawka, und Klim gab ihm recht. Ja, der Vater sprach schlecht und mußte sich immer rechtfertigen, als habe er etwas Ungehöriges getan. Auch die Mutter stimmte Warawka zu.
»Timofej Wassiliewitsch hat recht«, erklärte sie entschieden. »Das Leben erwies sich verwickelter, als wir annahmen. Vieles, was zu unseren unerschütterlichen Glaubenssätzen gehörte, muß neu überprüft werden.«
Sie redete nicht viel, ruhig und ohne gesuchte Worte, und sie wurde selten zornig, doch dann nicht »sommerlich«: laut und unter Donner und Blitzen wie Lidas Mutter, sondern »winterlich«. Ihr schönes Gesicht wurde blaß, die Brauen senkten sich tiefer herab. Den schweren, prachtvoll frisierten Kopf in den Nacken werfend, blickte sie ruhevoll auf den Menschen herab, der sie erzürnt hatte, und sagte etwas Knappes und Einfaches. Wenn sie so den Vater ansah, schien es Klim, als vergrößere sich zwischen ihr und dem Vater der Abstand, obwohl doch beide sich nicht vom Fleck bewegten. Einmal wurde sie sehr »winterlich« zornig auf den Lehrer Tomilin, der lange und eintönig von den zwei Wahrheiten sprach: von der Wahrheit-Erkenntnis und der Wahrheit-Gerechtigkeit.
»Genug«, sagte sie leise, aber so, daß alle verstummten. »Genug der fruchtlosen Opfer. Großmut ist kindlich. Es ist Zeit, klug zu werden.«
»Du bist ja verrückt geworden, Wera!« entsetzte sich Maria Romanowna und verschwand augenblicklich, laut mit den breiten pferdehufähnlichen Absätzen ihrer Stiefel aufschlagend. Klim entsann sich nicht, daß seine Mutter je verlegen geworden wäre, wie das oft dem Vater geschah. Nur ein einziges Mal geriet sie aus ganz unbegreiflichen Gründen in Verwirrung. Sie säumte Taschentücher, und Klim fragte sie:
»Mama, was heißt das: ›Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib‹?«
»Frag deinen Lehrer«, sagte sie, wurde aber sogleich rot und fügte hinzu:
»Nein, frag den Vater.«
Wenn von interessanten und verständlichen Dingen gesprochen wurde, wünschte Klim, die Erwachsenen möchten ihn vergessen, doch wenn die Streitigkeiten ihn ermüdeten, meldete er sich sehr bald, und die Mutter oder der Vater wunderte sich:
»Was, du bist noch hier?«
Über die zwei Wahrheiten stritt man langweilig herum, Klim wollte wissen:
»Woran erkennt man, ob etwas Wahrheit ist oder nicht?«
»Was?« rief fragend und bedeutsam zwinkernd der Vater. »Seht doch einmal!«
Warawka faßte Klim um und antwortete ihm:
»Die Wahrheit, Bruder, erkennt man am Geruch. Sie riecht stark.«
»Wonach?«
»Nach Zwiebel und Meerrettich.«
Alle lachten, und Tanja Kulikow sagte traurig:
»Ach, wie wahr das ist! Die Wahrheit ruft auch Tränen hervor, ja, Tomilin?«
Der Lehrer rückte stumm und behutsam von ihr weg. Tanjas Ohren erröteten zart, sie senkte den Kopf und sah lange unverwandt vor sich hin auf den Fußboden.
Klim machte ziemlich früh die Beobachtung, daß an der Wahrheit der Erwachsenen etwas Falsches, Erdachtes war. Ihre Gespräche drehten sich besonders häufig um den Zaren und das Volk. Das kurze, kratzende Wort »Zar« rief in ihm keinerlei Vorstellungen hervor, bis Maria Romanowna eines Tages ein zweites sagte: »Vampir!«
Sie warf dabei den Kopf so schroff zurück, daß ihre Brille über die Augenbrauen hinauf hüpfte, Klim erfuhr bald und gewöhnte sich an diesen Gedanken, daß der Zar ein Kriegsmann war, sehr böse und schlau, und daß er unlängst »das ganze Volk betrogen« hatte.
Das Wort »Volk« war erstaunlich umfassend, es enthielt die mannigfaltigsten Empfindungen. Vom Volk sprach man mitleidig und ehrfurchtsvoll, freudig und besorgt. Tanja Kulikowa beneidete offenkundig das Volk um irgend etwas, der Vater nannte es einen Dulder, Warawka einen müßigen Schwätzer. Klim wußte, das Volk – das waren die Bauern und ihre Weiber, die in den Dörfern lebten und jeden Mittwoch in die Stadt gefahren kamen, um Holz, Pilze, Kartoffeln und Kohl zu verkaufen. Doch dieses Volk war in seinen Augen nicht jenes wirkliche Volk, von dem alle so viel und so besorgt redeten, das in Versen besungen wurde, das alle liebten, bedauerten und einmütig glücklich zu sehen wünschten.
Das wirkliche Volk dachte Klim sich als eine unübersehbar große Menge Männer von gewaltigem Wuchs, unglücklich und furchterregend wie der unheimliche Bettler Wawilow. Das war ein hochgewachsener Greis mit einem Dach krauser, an Schafwolle erinnernder Haare. Ein schmutzig-grauer Bart wuchs ihm von den Augen bis zum Hals übers ganze Gesicht, vom Mund fehlte jede Spur, und an der Stelle der Augen blinkten zwei trübe Glasscherben. Doch wenn Wawilow unterm Fenster brüllte:
»Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich unser!«
öffnete sich in der Tiefe seines Urwaldbartes eine finstere Höhle, drei schwarze Zähne ragten drohend aus ihr hervor, und schwer bewegte sich eine Zunge, dick und rund wie eine Keule.
Die Erwachsenen sprachen voller Mitleid von ihm und gaben ihm ihre Almosen mit Respekt. Klim schien, sie waren sich einer Schuld gegen ihn bewußt, ja fürchteten ihn ein wenig, genau so, wie Klim ihn fürchtete. Der Vater begeisterte sich:
»Das ist der erniedrigte Ilja Muromez, das ist die stolze Kraft des Volkes!« redete er.
Die Amme Jewgenia aber, rund und prall wie ein Faß, rief, wenn die Kinder allzu unartig waren:
»Gleich rufe ich Wawilow!«
Nach ihren Erzählungen war dieser Bettler ein großer Sünder und Bösewicht, der im Hungerjahr den Leuten Sand und Kalk statt Mehl verkauft hatte, dafür vor Gericht kam und sein ganzes Vermögen ausgab, um die Richter zu kaufen, und der, obwohl er in anständiger Armut sein Leben hätte fristen können, es dennoch vorzog zu betteln.
»Das tut er aus Bosheit, den Leuten zum Trotz!« sagte sie, und Klim glaubte ihr mehr als den Geschichten des Vaters.
Es war schwer zu verstehen, was denn eigentlich das Volk war. Einst im Sommer fuhr Klim mit dem Großvater zum Jahrmarkt in ein Kirchdorf. Die riesige Menge festlich gekleideter Bauern und Bäuerinnen, der Überfluß an angeheiterten, ausgelassenen und gutmütigen Menschen setzten Klim in Erstaunen. In Versen, die der Vater ihn auswendig lernen und den Gästen vortragen ließ, fragte Klim den Großvater:
»Wo ist denn das wirkliche Volk, das da stöhnt auf den Fluren, auf den Straßen und im Kerker, das unterm Wagen nächtigt in der Steppe?«
Der alte Mann lachte, wies mit dem Stock auf die Menschen und sagte:
»Da ist es ja, kleiner Schafskopf!«
Klim blieb ungläubig. Doch als in der Vorstadt die Häuser brannten und Tomilin Klim hinführte, um sich die Feuersbrunst anzusehen, wiederholte der Knabe seine Frage. Im dichten Gedränge fand sich kein einziger, der pumpen wollte. Die Polizisten