knurrte der Lehrer und verzog das Gesicht.
»Ist denn dies das Volk?« fragte Klim.
»Wer denn sonst meinst du?«
»Und die Feuerwehr ist auch das Volk?«
»Natürlich. Doch keine Engel.«
»Warum löscht denn nur die Feuerwehr den Brand und nicht das Volk?«
Tomilin sprach lange und ermüdend von Zuschauern und Tatmenschen, doch Klim, der es aufgab, etwas zu verstehen, wünschte Auskunft:
»Und wann stöhnt das Volk?«
»Ich erzähle es dir später«, versprach der Lehrer und – vergaß es.
Das Wichtigste und Unangenehmste über das Volk erzählte Klim dem Vater. In der Dämmerung eines Herbstabends lag er halb ausgezogen und flaumweich wie ein Küken behaglich auf dem Sofa – er konnte sich wunderbar behaglich hinkuscheln. Klim bettete seinen Kopf auf die wollige Brust des Vaters und streichelte mit der flachen Hand die sämischledernen Wangen des Vaters, die straff waren wie ein neuer Gummiball. Der Vater fragte, wovon die Großmutter heute in der Religionsstunde gesprochen habe.
»Von Abrahams Opfer.«
Klim berichtete, wie Gott Abraham befohlen habe, Isaak zu schlachten, aber als Abraham ihn schlachten wollte, sprach Gott: nein, es ist nicht nötig, schlachte lieber einen Widder. – Der Vater lachte ein wenig, umarmte den Sohn und erklärte dann, wie diese Geschichte zu verstehen war.
»Al-le-go-risch. Gott – ist das Volk. Abraham ist der Führer des Volkes. Seinen Sohn opfert er nicht Gott, sondern dem Volke. Siehst du, wie einfach das ist?«
Ja, das war sehr einfach, aber es mißfiel dem Knaben. Er dachte nach und fragte dann:
»Du sagst doch aber, das Volk ist ein Dulder?«
»Nun ja. Darum verlangt es auch Opfer. Alle Dulder verlangen Opfer, – alle und zu allen Zeiten.«
»Wozu?«
»Kleiner Dummbart! Um nicht zu leiden, will sagen, um das Volk zu lehren, wie es leben kann, ohne zu leiden. Christus ist gleichfalls Isaak, Gott-Vater opferte ihn dem Volk. Verstehst du: hier haben wir dasselbe Märchen von Abrahams Opferdarbringung.«
Klim dachte wieder nach und fragte dann vorsichtig:
»Bist du ein Führer des Volkes?«
Diesmal war es der Vater, der mit zugekniffenen Augen nachdenken mußte. Doch überlegte er nicht lange:
»Siehst du, jeder von uns ist Isaak. Ja. Zum Beispiel Onkel Jakow, der verbannt ist, Maria Romanowna, überhaupt unsere Bekannten. Na, nicht alle, aber die meisten Gebildeten haben die Pflicht, ihre Kräfte dem Volk zu opfern.«
Der Vater redete noch lange, doch der Sohn hörte ihm nicht mehr zu, und seit diesem Abend erstand das Volk in ganz neuer Beleuchtung vor ihm, weniger nebelhaft, dafür aber noch drohender als vordem.
Und überhaupt: je weiter er in die Gedankenwelt der Erwachsenen vordrang, desto schwieriger wurde es, sie zu verstehen, desto schwerer, ihnen zu glauben. Der »richtige Greis« war überaus stolz auf seine Waisenschule und erzählte sehr fesselnd von ihr. Doch da nahm er die Enkel zur Weihnachtsbescherung in diese gelobte Schule mit, und Klim erblickte ein paar Dutzend magerer kleiner Knaben, die man in blau und weiß gestreifte Anzüge gesteckt hatte, wie er sie bei weiblichen Sträflingen gesehen hatte. Alle Knaben waren kahl geschoren, viele hatten von Skrofeln zerfressene Gesichter, und alle sahen aus wie lebende Zinnsoldaten. Sie waren in drei Reihen hufeisenförmig um den häßlichen Christbaum herum aufgestellt und starrten ihn gierig, erschrocken und dumm an. Bald erschien ein feistes Männchen mit kahlem Schädel und gelbem Gesicht ohne Bart und Augenbrauen, so daß man glauben konnte, es sei ebenfalls ein abstoßend aufgedunsener Knabe. Er winkte mit den Armen, und alle Gestreiften begannen verzweiflungsvoll zu singen:
Ach du Freiheit, meine Freiheit,
Goldene Freiheit du!
Mit weit aufgerissenen Mäulern, wie Fische auf dem Trocknen, priesen die Knaben den Zaren:
Traun er weiß gewiß, der Teure,
Um unser graues Leben, unsere bittere Not.
Er hat gewiß gesehen, unser Ernährer,
Die Träne des Kummers in unseren Augen.
Das war ohrenbetäubend, und als die Knaben ihren Gesang beendet hatten, wurde es drückend im Saal. Der »richtige Greis« wischte sich mit dem Tuch das schweißnasse Gesicht, Klim schien, daß außer dem Schweiß auch Tränen über die Wangen seines Großvaters rannen. Man wartete die Bescherung nicht ab, Klim hatte Kopfschmerzen bekommen. Unterwegs fragte er den Großvater:
»Lieben die den Zaren?«
»Versteht sich«, erwiderte der Großvater, fügte aber sofort ärgerlich hinzu: »Pfefferkuchen lieben sie.«
Und, nach einigem Schweigen:
»Essen lieben sie.«
Es war peinlich zu glauben, daß der Großvater ein Großmaul war, aber Klim mußte es annehmen.
Die Großmutter, dick und würdig, in einem Morgenrock aus rotem Kaschmir, blickte auf alles durch ihre goldene Lorgnette und sagte mit gedehnter vorwurfsvoller Stimme:
»In meinem Hause . . .«
In ihrem Hause war alles bemerkenswert und märchenhaft gut gewesen, aber der Großvater glaubte ihr nicht und brummte spöttisch, während seine dürren Finger in den beiden Hälften seines grauen Backenbartes wühlten:
»Ihr Haus, Sofia Kirillowna, muß das reinste Paradies gewesen sein.«
Die massige Nase der Großmutter lief vor Kränkung rot an, und die Alte schwebte langsam, gleich einer Wolke im Abendrot, davon. Stets trug sie ein französisches Buch in der Hand, in dem ein grünseidenes Lesezeichen steckte. Auf das Lesezeichen waren schwarz die Worte gestickt:
»Gott weiß – der Mensch ahnt nur.«
Niemand liebte die Großmutter. Klim, der dies sah, kam darauf, daß er nicht schlecht daran täte, wenn er zeigte, daß er als Einziger die einsame Greisin liebe. Willig hörte er ihre Geschichten von dem geheimnisvollen Haus. Aber an seinem Geburtstag führte ihn die Großmutter in eine entlegene Straße der Stadt, in die Tiefe eines weiten Hofes und zeigte ihm ein plumpes, graues und verwittertes Gebäude, mit fünf, von drei Säulen geteilten Fenstern, einem verfallenen Söller und einem Zwischengeschoß mit einer Front von zwei Fenstern.
»Dies ist mein Haus.«
Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, der Hof mit einem Haufen zerschlagener Fässer und Flaschenkörbe vollgeworfen und mit Flaschenscherben besät. In der Mitte des Hofes kauerte ein Hund, beschäftigt, sich Kletten aus dem Schwanz zu beißen. Und das alte Männchen auf dem Bild aus dem Klim längst langweilig gewordenen Märchen »Vom Fischer und dem Fischlein« – derselbe Greis, zottelhaarig wie ein Köter, hockte auf den Söllerstufen und kaute Brot mit Schnittlauch.
Klim wollte die Großmutter daran erinnern, daß sie ihm von einem ganz anderen Haus erzählt habe, doch als er ihr ins Gesicht blickte, fragte er:
»Warum weinst du?«
Die Großmutter wischte sich die Tränen mit einem Spitzentüchlein aus den Augen und gab keine Antwort.
Ja, alles war nicht so, wie die Erwachsenen erzählten. Klim schien, den Unterschied verstanden nur zwei Menschen, er und Tomilin, die »Persönlichkeit mit unbekannter Bestimmung«, wie Warawka den Lehrer nannte.
Im Lehrer sah Klim etwas Geheimnisvolles. Er war klein, eckig, hatte ein gespaltenes rotes Bärtchen und kupferbraunes Haar, das ihm auf die Schultern fiel. Der Lehrer blickte starr und gleichsam aus weiter Ferne auf die Dinge. Seine Augen waren seltsam: im Weiß von trüb-milchiger Farbe erschienen die stark gekrümmten goldgesprenkelten Pupillen wie aufgeklebt. Tomilin ging im blauen Ballon eines Hemdes aus besonders rauhem Stoff, in schweren Bauernstiefeln und schwarzen Hosen. Sein Gesicht erinnerte