Maxim Gorki

Das Leben des Klim Samgin


Скачать книгу

und einige Tage später so grausam geprügelt hatten, daß Blut und Tränen flossen. Klim sah zum erstenmal, wie erbittert Knaben raufen können. Er beobachtete ihre wutentstellten Gesichter, das nackt hervortretende Bestreben, einander so schmerzhaft wie möglich zu schlagen, er hörte ihre schrillen Schreie, ihr Keuchen, – und all das schüchterte ihn so sehr ein, daß er ihnen noch mehrere Tage nach dem Kampf ängstlich auswich und davon durchdrungen war, er, der sich nicht schlagen konnte, sei ein ganz besonderer Junge. Igor und Boris wurden schnell Freunde, wenngleich sie sich beständig zankten und jeder, ohne sich selbst zu schonen, dem anderen eigensinnig zu beweisen suchte, daß er mutiger und stärker sei als der Freund. Boris rannte wild aufgeregt umher, etwas Krampfhaftes ergriff Besitz von ihm, als haßte er, in allen Spielen Sieger zu sein, und fürchte, daß er es nicht schaffen werde.

      Durch Turobojews Kommen wurde Klim noch mehr in den Hintergrund gedrängt. Man stellte ihn seinem Bruder Dmitri gleich. Doch den gutmütigen, plumpen Dmitri liebte man, weil er sich befehlen ließ, niemals stritt, nie beleidigt war und geduldig und ohne Geschick die bescheidensten und unvorteilhaftesten Rollen spielte. Man mochte ihn auch, weil er plötzlich und in einer Weise, die Klims brennenden Neid erregte, die Aufmerksamkeit der Kinder zu erobern wußte: er erzählte ihnen von Vogelnestern, Schlupflöchern, Raubtierhöhlen, vom Leben der Bienen und Wespen – stets mit gedämpfter Stimme, und auf seinem breiten Gesicht, in den guten grauen Augen spielte dabei ein seliges Lächeln.

      »Dieser Wood ist viel schöner als Main-Reed«, sagte er seufzend. »Und dann kenne ich noch den Brehm.«

      Turobojew und Boris verlangten von Klim, daß er sich ihrem Willen ebenso gehorsam fügte wie sein Bruder. Klim gab zum Schein nach, aber mitten im Spiel erklärte er:

      »Ich mache nicht mehr mit.«

      Und ging weg. Er wollte zeigen, seine Unterwürfigkeit sei nur die Herablassung des Klugen, daß er unabhängig zu sein wünsche und verstehe und über diese ganzen netten Kindereien erhaben sei. Aber niemand verstand ihn, und Boris rief aufgebracht:

      »Geh zum Teufel, wir haben dich satt!«

      Sein sommersprossiges, spitznasiges Gesicht bedeckte sich mit roten Flecken, die Augen funkelten zornig. Klim fürchtete, gleich würde Warawka ihn schlagen.

      Lida blickte ihn scheel von der Seite an und runzelte die Stirn. Die Somows und Alina, die Lidas Verrat bemerkt hatten, wechselten verstohlene Blicke und flüsterten miteinander, und dies alles erfüllte Klims Herz mit nagender Trauer. Doch der Knabe fand Trost in dem Bewußtsein, daß man ihn nicht liebte, weil er klüger war als alle, und hinter diesem Trost tauchte wie sein Schatten der Stolz auf und der Wunsch, zu belehren und Kritik zu üben:

      »Kann man denn nichts Unterhaltenderes ausdenken?«

      »Denk was aus, aber stör' nicht«, sagte bissig Lida und drehte ihm den Rücken zu.

      »Wie grob sie geworden ist«, dachte kummervoll Klim.

      Er erfand für sich eine Manier zu gehen, die, wie er sich einbildete, ihm Wichtigkeit verlieh. Er schritt, ohne die Knie einzudrücken, und versteckte die Hände auf dem Rücken, wie der Lehrer Tomilin. Auf die Kameraden blickte er mit zugekniffenen Augen.

      »Warum plusterst du dich so auf?« fragte ihn Dmitri. Klim lächelte verachtungsvoll, ohne ihn einer Antwort zu würdigen. Er konnte den Bruder nicht leiden und hielt ihn für einen Esel.

      Turobojew, kalt, sauber und höflich, blickte Klim ebenfalls an, indem er seine dunklen unfreundlichen Augen zukniff – blickte herausfordernd. Sein allzu schönes Gesicht verzog sich zu einer besonders ärgerlichen Grimasse, wenn Klim sich Lida näherte. Aber das Mädchen sprach mit Klim lässig und stets auf dem Sprung, wegzulaufen. Sie trat von einem Fuß auf den anderen und schielte beständig zu Igor hin. Turobojew und sie verwuchsen immer inniger miteinander. Sie gingen Hand in Hand. Klim schien, sogar wenn sie sich dem Spielen hingaben, spielten sie nur für einander und sahen und bemerkten niemand.

      Wenn sie Verstecken spielten und Lida die Kinder fangen mußte, lief ihr merkwürdigerweise immer Igor in die Arme.

      »Mogelei!« rief Klim, und alle stimmten ihm zu. »Ja, ihr mogelt!« Turobojew zog seine schönen Augenbrauen ganz hoch und versicherte:

      »Aber meine Herrschaften, sie ist doch schwach.«

      »Nein«, regte Lida sich auf, »gar nicht!«

      »Ich bin auch schwach«, erklärte beleidigt Ljuba Clown, doch Turobojew, der sich die Augen zugebunden hatte, war schon dabei zu fangen.

      Einmal geschah es, daß Dmitri auf der Flucht vor Lidas Händen ihr einen Stuhl vor die Beine warf. Das Mädchen schlug mit dem Knie an das Stuhlbein und stieß einen Schmerzensschrei aus, Igor verfärbte sich und packte Dmitri an der Kehle:

      »Idiot, du spielst unfair.«

      Und als eines Tages bemerkt wurde, daß Iwan Dronow den Mädchen forschend unter die Röcke blickte, verlangte Turobojew energisch, daß Dronow nicht mehr mitspielen durfte.

      Iwan Dronow nannte sich nicht nur selber beim Nachnamen, auch seine Großmutter mußte ihn mit »Dronow« anreden. Mit seinen krummen Beinen, dem vorstehenden Bauch, dem plattgedrückten Schädel, der breiten Stirn und den großen Ohren, war er von betonter und doch anziehender Häßlichkeit. In seinem breiten Gesicht, in dessen Mitte der rote Pickel der Nase kaum zu sehen war, glänzten schmale, trübblaue, sehr flinke und gierige Äuglein. Gier war die auffälligste Eigenschaft Dronows. Mit ungemeiner Gier sog er die Luft in seine feuchte Nase, als müsse er an Luftmangel ersticken. Gierig und mit verblüffender Geschwindigkeit aß er, wobei er laut mit den grellroten Lippen schmatzte. Er sagte Klim:

      »Ich bin ein armer Mensch, ich muß viel essen.«

      Auf Drängen Großvater Akims bereitete Dronow sich gemeinsam mit Klim zum Gymnasium vor und legte während des Unterrichts bei Tomilin eine fieberhafte Hast an den Tag. Klim erschien auch diese als Gier. Wenn er den Lehrer fragte oder ihm antwortete, sprach Dronow sehr schnell, er sog die Worte gleichsam in sich hinein, als wären sie heiß und verbrannten ihm Lippen und Zunge, Klim drang wiederholt in den Kameraden, den der »richtige Greis« ihm aufgezwungen hatte:

      »Weshalb bist du so gefräßig?«

      Dronow rieb sich die Nase, schielte mit den irren Augen zur Seite und schwieg beharrlich.

      Doch in einem günstigen Augenblick senkte er geheimnisvoll seine hohe, schrille Stimme und verriet:

      »Ich habe einen hungrigen Wrum im Bauch.«

      »Wurm«, verbesserte Klim.

      »Deiner heißt Wurm und meiner Wrum.«

      Und hastig flüsternd gestand er, seine Tante sei eine Zauberin und habe ihn behext: sie habe ihm den Wurm »Wrum« in den Bauch getrieben, damit ihn, Dronow, Zeit seines Lebens unersättlicher Hunger quäle. Er vertraute Klim ferner an, daß er im selben Jahr geboren sei, als sein Vater gegen die Türken kämpfte, in Gefangenschaft geriet und den türkischen Glauben annahm, und daß er jetzt ein reicher Mann sei, daß aber seine Tante, die Hexe, als sie davon erfuhr, die Mutter und die Großmutter aus dem Haus gejagt habe. Seine Mutter wolle gerne in die Türkei, aber seine Großmutter lasse sie nicht fort.

      Klim, der bemerkte, daß Dronow seinen hungrigen Wurm »Wrum« nannte, glaubte ihm nicht. Doch wie er so dem geheimnisvollen Flüstern zuhörte, sah er staunend einen ganz anderen Jungen vor sich: das flache Gesicht des Enkels der Amme verschönte sich, die Augen irrten nicht mehr umher, in den Pupillen entzündete sich das bläuliche Feuer einer Seligkeit, die Klim nicht verstand. Beim Abendessen teilte Klim Dronows Erzählung dem Vater mit. Der Vater äußerte gleichfalls eine rätselhafte Freude:

      »Du hörst, Wera? Was für eine Phantasie! Ich sagte immer, der Bengel sei hochbegabt.«

      Aber die Mutter sagte Klim, ohne dem Vater zuzuhören, wie sie das oft tat, kurz und trocken, Dronow habe sich das alles ausgedacht: eine Tante, die eine Hexe sei, habe er gar nicht, sein Vater sei tot, er sei verschüttet worden, als er einen Brunnen grub. Die Mutter habe in einer Zündholzfabrik gearbeitet und sei gestorben, als Dronow vier Jahr alt war. Nach