Maxim Gorki

Das Leben des Klim Samgin


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Dinge nicht so, wie sie waren, bald größer und bald kleiner, und berühre sie daher so behutsam, daß es geradezu komisch war, es mitanzusehen. Aber der Lehrer trug keine Brille, und immer war er es, der aus den violetten Heften vorlas, unschlüssig blätternd, als erwarte er, daß das Papier sich unter seinen glühenden Fingern entzünde.

      Nach dem Tee, wenn das Dienstmädchen Malascha das Geschirr abgetragen hatte, stellte der Vater zwei Stearinkerzen vor Tomilin auf. Alle setzten sich um den Tisch. Warawka schnitt eine Grimasse, als solle er Lebertran einnehmen und fragte übellaunig:

      »Was, schon wieder die Weisheiten des erlauchten Grafen?«

      Darauf verkroch er sich hinter den Flügel, ließ sich dort in einen Ledersessel fallen, zündete sich eine Zigarre an, und hohl tönten im Rauch seine Worte:

      »Kindereien. Der gnädige Herr belieben zu scherzen.«

      »Auch ein Denker!« blökte, ebenfalls mißbilligend, der Doktor, während er sein Bier schlürfte.

      Der Doktor sah unsympathisch aus, als habe er lange im Keller gelegen, sei muffig geworden, habe am ganzen Körper schwarzen Schimmel angesetzt und ärgere sich jetzt über alle. Er konnte wohl nicht klug sein, hatte er sich doch nicht einmal eine hübsche Frau ausgesucht: die seine war klein, häßlich und böse. Sie sprach selten und karg, nur zwei oder drei Worte, dann schwieg sie wieder eine lange Zeit und starrte in die Ecke. Mit ihr stritt man nicht, als wäre sie nicht da. Zuweilen kam es Klim so vor, als vergesse man sie absichtlich, weil man sie fürchte. Ihre gesprungene Stimme beunruhigte Klim beständig, denn sie zwang ihn zu lauern, daß diese spitznasige Frau etwas Sonderbares sagte, und das tat sie auch manches Mal.

      Einmal geriet Warawka plötzlich in Wut, schlug mit der klobigen Handfläche auf den Deckel des Flügels und sagte geifernd wie ein Diakon:

      »Unsinn! Jede vernünftige Tat des Menschen wird unvermeidlich eine Vergewaltigung seines Nächsten oder seiner selbst sein.«

      Klim erwartete, daß Warawka »Amen!« sagte, doch kam er nicht mehr zu Worte, denn jetzt knurrte der Doktor:

      »Der Graf spielt den Naiven. Hat Darwin nicht gelesen.«

      »Darwin ist – der Teufel«, sagte laut seine Frau. Der Doktor schlug jäh mit dem Kopf nach vorn, als habe er einen Genickstoß erhalten, und brummte leise in den Bart:

      »Bileams Eselin.«

      Maria Romanowna schrie Warawka an, doch durch ihr zorniges Geschrei hindurch vernahm Klim die eigensinnige Stimme der Doktorsfrau:

      »Er hat uns eingeschärft, Gesetz des Lebens sei das Böse.«

      »Genug, Anna!« knurrte der Doktor, der Vater aber begann mit dem Lehrer über irgendeine Hypothese und einen Malthus zu streiten. Warawka stand auf und ging, die Rauchschlange seiner Zigarre hinter sich herziehend, hinaus.

      Warawka war für Klim der Interessanteste und Verständlichste. Er verheimlichte nicht, daß er viel lieber Préférence spielte, als zuhörte, wenn vorgelesen wurde. Klim fühlte, daß auch sein Vater lieber Karten spielte als zuhörte, aber der Vater gestand es niemals ein. Warawka wußte so gut zu sprechen, daß seine Worte sich im Gedächtnis ansammelten wie Fünfer im Spartopf. Als Klim ihn fragte, was das sei – eine »Hypothese«, antworte er prompt:

      »Das ist der Hund, mit dem man auf die Wahrheit Jagd macht.«

       Er war lustiger als alle anderen Erwachsenen und gab allen komische Spitznamen.

      Klim wurde gewöhnlich zu Bett geschickt, bevor man mit dem Lesen oder dem Préférencespiel begann, doch der Junge sträubte sich immer und bettelte:

      »Noch ein bißchen, ein ganz kleines bißchen!«

      »Nein, wie er die Gesellschaft der Erwachsenen liebt!« staunte der Vater, und nach diesen Worten ging Klim ruhig in sein Zimmer. Er wußte, er hatte seinen Willen durchgesetzt und die Erwachsenen genötigt, sich noch einmal mit ihm zu beschäftigen.

      Manchmal jedoch bat der Vater:

      »Sag doch einmal das Gedicht »Betrachtung« auf, vom Vers

      »Du, der das Leben beneidenswert wähnt . . .«

      an.

      Klim reckte die rechte Hand in die Luft, hielt die linke an den Hosengurt und las mit tragisch verfinstertem Gesicht:

      Sättigung mit schamlosem Schmeichlerwort

       Müßiggang, Prassen und Spiel. Erwache!

      Warawka lachte Tränen, die Mutter lächelte gezwungen, und Maria Romanowna flüsterte ihr prophetisch zu:

      »Der wird ein ehrlicher Mensch!«

      Klim sah, daß die Erwachsenen ihn immer höher über die anderen Kinder stellten, das tat wohl. Doch er hatte schon Augenblicke, wo er fühlte, daß die Beachtung der Erwachsenen ihn störte. Es gab Stunden, wo auch er so selbstvergessen spielen wollte und konnte, wie der beschopfte, adlernasige Boris Warawka und dessen Schwester, wie sein Bruder Dmitri und die weißblonden Töchter Doktor Somows. Genau wie sie wurde er trunken von Erregung und ging im Spiel auf. Doch kaum merkte er, daß einer der Erwachsenen ihn sah, wurde er sofort nüchtern, – aus Furcht, die Freude am Spielen stoße ihn in die Reihe der gewöhnlichen Kinder zurück. Ihm schien immer, die Erwachsenen beobachteten ihn und forderten von ihm besondere Worte und Taten.

      Gleichzeitig mußte er wahrnehmen, daß alle Kinder immer unverhüllter zeigten, daß sie ihn nicht liebten. Sie betrachteten ihn neugierig wie einen Fremden und erwarteten gleich den Erwachsenen irgendwelche Kunststücke von ihm. Doch seine weisen Reden und Sprüche erregten bei ihnen nur spöttisches Frösteln, Mißtrauen und manchmal Feindseligkeit. Klim ahnte, daß sie ihm seinen Ruhm, den Ruhm eines Knaben mit außerordentlichen Gaben, neideten, doch es kränkte ihn trotzdem und rief bald Trauer und bald Ärger in ihm hervor. Er hatte den Wunsch, das Übelwollen der Kameraden zu besiegen, sah aber keinen anderen Weg, als um so eifriger die Rolle weiterzuspielen, die die Erwachsenen ihm aufgezwungen hatten. Er versuchte, Befehle zu geben, Belehrungen auszuteilen und stieß auf den erbitterten Widerstand Boris Warawkas. Dieser gewandte, tollkühne Junge schreckte Klim durch seinen herrischen Charakter. Seine Einfälle hatten stets etwas Waghalsiges, Schwieriges, doch er zwang alle, sich ihm zu fügen, und teilte sich selbst bei allen Spielen die Hauptrolle zu. Er versteckte sich an unzugänglichen Orten, kletterte wie eine Katze auf Dächern und Bäumen. Aalglatt, wie er war, ließ er sich niemals fangen. Endlich ergab sich die gegnerische Partei erschöpft, und Boris höhnte dann:

      »Wie, verloren? Ihr ergebt euch? Ihr seid Helden!«

      Klim kam es so vor, als denke Boris nie über etwas nach und wisse immer schon vorher, was getan werden mußte. Nur ein einziges Mal gab er sich, aufgebracht durch die Schlappheit seiner Spielgefährten, Träumereien hin:

      »Im Sommer schaff' ich mir anständige Feinde an, die Jungens aus dem Asyl oder aus der Ikonenwerkstatt und kämpfe mit ihnen, euch aber laß ich laufen.«

      Klim fühlte, der kleine Warawka haßte ihn zäher und offener als die anderen Kinder. Er hatte Lida Warawka gern, – ein schmales Mädel, bräunlich, mit großen Augen unter einer zerzausten Kapuze schwarzer Locken. Sie lief erstaunlich gut und flog über dem Erdboden weg, als berühre sie ihn nicht. Niemand als ihr Bruder konnte sie fangen oder einholen, und, wie der Bruder, nahm sie sich stets die erste Rolle. Wenn sie sich stieß, Arme und Beine zerkratzte, die Nase blutig schlug, weinte oder jammerte sie nicht wie die Somow-Mädchen. Aber sie war krankhaft empfindlich gegen Kälte, liebte Schatten und Dunkelheit nicht und war bei schlechtem Wetter unausstehlich. Im Winter schlief sie ein wie eine Fliege, hockte tagelang in den vier Wänden, ohne an die Luft zu gehen und beklagte sich zornig über Gott, der sie so ganz grundlos kränke und Regen, Wind und Schnee auf die Erde schicke.

      Von Gott sprach sie wie von einem lieben alten Mann, ihrem guten Bekannten, der irgendwo in der Nähe lebte, alles machen konnte, was er wollte, aber alles oft nicht so machte, wie es nötig war.

      »Es gibt keinen Gott«, erklärte Klim. »Nur Greise und alte Weiber glauben an ihn.«

      »Ich