Maxim Gorki

Das Leben des Klim Samgin


Скачать книгу

sie sagt, Gott spielt mit den Menschen wie Boris mit seinen Bleisoldaten.«

      Lida schilderte ihre Mutter als Märtyerin. Man brannte ihr den Rücken mit glühenden Eisen, spritzte ihr Arzneien unter die Haut und peinigte sie auf jede Art.

      »Papa will, sie soll ins Ausland reisen, aber sie will nicht, sie hat Angst, daß Papa ohne sie umkommt. Natürlich kann Papa überhaupt nicht umkommen. Aber er widerspricht ihr nicht, er sagt, Kranke denken sich immer gräßliche Dummheiten aus, weil sie Angst vor dem Sterben haben.«

      In der Gesellschaft dieses kleinen Mädchens war Klim leicht und wohl, so wohl, wie wenn er den Märchen der Kinderfrau lauschte. Klim begriff, daß Lida in ihm nicht den hervorragenden Knaben sah. In ihren Augen wuchs er nicht, sondern blieb so klein wie vor zwei Jahren, als Warawkas eingezogen waren. Er wurde verlegen und unwillig, wenn er bemerkte, wie das Mädchen ihn wieder in die Welt des Kindlichen und Dummen hinabzog, aber es gelang ihm nicht, sie von seiner Bedeutung zu überzeugen. Das war schon aus dem Grunde schwer, weil Lida eine geschlagene Stunde reden konnte, aber ihm selbst nicht zuhörte und auf seine Fragen keine Antwort gab.

      Am Abend, wenn sie vom Spielen ermattet war, wurde sie oft still. Die freundlichen Augen weit geöffnet, so ging sie im Hof und im Garten umher und streifte behutsam mit ihren geschmeidigen Füßen die Erde, als suche sie etwas Verlorenes.

       »Komm, wir wollen uns hinsetzen«, schlug sie Klim vor.

      In einem Winkel des Hofes, zwischen dem Pferdestall und der Steinwand eines kürzlich erbauten Nachbarhauses verkümmerte ohne Sonne ein hoher Ahornbaum. An seinem Stamm waren alte Bretter und Balken aufgeschichtet, auf ihnen lag in gleicher Höhe mit dem Dach des Pferdestalls der aus Weidenruten geflochtene Schlitten von Großvaters Kutsche. In diesen Wagenschlitten kletterten Klim und Lida und saßen dort lange in traulichem Gespräch beieinander. Das Mädchen fröstelte und schmiegte sich innig an Samgin, und es erfüllte ihn mit besonders wohligem Behagen, ihren festen, sehr heißen Körper zu fühlen und ihre nachdenkliche, spröde Stimme zu hören.

      Ihre Stimme war arm. Klim schien, sie schwinge nur zwischen den Noten f und g. Und mit seiner Mutter fand er, daß das Mädchen zu viel für ihr Alter wisse.

      »Das mit dem Klapperstorch und dem Kohl ist ein Märchen«, sagte sie. »Das erzählen sie nur, weil sie sich schämen, Kinder zu kriegen. Aber die Mamas kriegen doch welche, genau wie die Katzen, ich habe es gesehen und Pawlja hat es mir erzählt. Wenn mir erst Brüste gewachsen sind wie bei Mama und Pawlja, werde ich auch einen Jungen und ein Mädchen gebären, solche wie ich und du. Gebären ist notwendig, sonst sind es immer dieselben Menschen, und wenn sie gestorben sind, bleibt überhaupt niemand übrig. Dann müssen auch die Katzen und die Hühner sterben, denn wer soll sie füttern? Pawlja sagt, Gott verbietet nur den Nonnen und den Gymnasiastinnen das Kinderkriegen.«

      Besonders oft und viel und immer etwas Neues erzählte Lida von ihrer Mutter und dem Dienstmädchen Pawlja, einer rotbäckigen, lustigen Dicken.

      »Pawlja weiß alles, sogar mehr als Papa. Pawlja und Mama singen leise Lieder, und beide weinen dabei, und Pawlja küßt Mamas Hände. Mama weint sehr viel, wenn sie Madeira getrunken hat, weil sie krank ist und böse. Sie sagt: ›Gott hat mich böse gemacht.‹ Und es gefällt ihr nicht, daß Papa mit anderen Damen und mit deiner Mama bekannt ist. Sie mag überhaupt keine Damen leiden, nur Pawlja, aber die ist ja keine Dame sondern eine Soldatenfrau.«

       Wenn sie erzählte, schloß sie ihre Finger fest zusammen und schlug, sich wiegend, mit ihren kleinen Fäusten auf die Knie. Ihre Stimme erklang immer leiser, immer müder, zuletzt sprach sie wie im Halbschlaf, und Klim wurde von einem Gefühl der Trauer ergriffen.

      »Bevor Mama erkrankte, war sie eine Zigeunerin, und es gibt sogar ein Bild von ihr, darauf hat sie ein rotes Kleid an und eine Gitarre in der Hand. Ich werde ein bißchen ins Gymnasium gehen und dann auch zur Gitarre singen, aber in einem schwarzen Kleid.«

      Manchmal regte sich in Klim der Wunsch, dem Mädchen zu widersprechen, mit ihr zu streiten, doch er wagte es nicht, denn er fürchtete, daß Lida zornig werden könnte. Da er fand, daß sie das netteste unter den Mädchen war, die er kannte, war er stolz darauf, daß sie ihn besser behandelte als die übrigen Kinder, und als die launische Lida ihm einmal untreu wurde und Ljuba Somow mit auf den Wagenschlitten nahm, fühlte Klim sich schwer getroffen und verraten und weinte zornige Tränen der Eifersucht.

      Die Somowmädchen schienen ebenso unangenehm und dumm zu sein wie ihr Vater. Die eine war ein Jahr älter als die andere. Beide waren kurzbeinig und dick und hatten Gesichter, rund und flach wie Untertassen. Wera, die Ältere, unterschied sich von ihrer Schwester nur darin, daß sie immer krank war und Klim nicht so häufig unter die Augen kam. Die Jüngere nannte Warawka »die weiße Maus«, die Kinder gaben ihr den Spitznamen Ljuba-Clown. Ihr weißes Gesicht war gleichsam mit Mehl bestreut, die wässerigen blaugrauen Augen verschwanden hinter den roten Polstern der entzündeten Lider, die farblosen Brauen waren auf der Haut ihrer stark gewölbten Stirn fast nicht zu sehen, das Flachshaar lag wie an den Schädel geklebt. Sie flocht es in ein lächerliches Zöpfchen, an dem eine gelbe Schleife baumelte. Sie war fröhlich, doch Klim argwöhnte, ihre Heiterkeit sei von dem unschönen und nicht klugen Mädchen erdacht. Sie dachte sich viel aus und immer ohne Glück. Sie erfand ein langweiliges Spiel »Wer geht mit Wem?«: – zerschnitt Papier in kleine Vierecke zu festen Röllchen zusammen und ließ die Kinder aus ihrer Rockfalte je drei Röllchen herausziehen.

      »Ring, Klang, Wolf«, las Lida ihre Orakel, und Ljuba sagte ihr mit der greisenhaften, schnarrenden Stimme einer Wahrsagerin:

       »Du, liebes Fräulein, bekommst einen Pfaffen zum Mann und wirst auf dem Dorf leben.«

      Lida wurde böse.

      »Du kannst nicht wahrsagen! Ich kann es auch nicht, aber du noch weniger.«

      Auf Klims Zettel befanden sich die Worte:

      »Mond. Traum. Lauch.«

      Ljuba Clown preßte die Zettel in ihrer Faust zusammen, dachte einen Augenblick nach und rief aus:

      »Du wirst im Traum sehen, daß du den Mond geküßt und dich verbrannt hast und weinst. Aber nur im Traum.«

      »Dummes Zeug, aber fein!« billigte Boris. Unter allen Märchen von Andersen gefiel der Somow am besten »Die Hirtin und der Schornsteinfeger«. In stillen Stunden bat sie Lida, ihr dieses Märchen vorzulesen, hörte stumm zu und weinte ganz ohne Scham. Boris Warawka murrte mit finsterer Miene:

      »Hör auf. Noch gut, daß sie nicht in Stücke zerbrochen sind.«

      Und diese lächerliche Trauer über den Porzellan-Schornsteinfeger, wie alles an diesem Mädchen, kam Klim gemacht vor. Er hatte sie in dem unbestimmten Verdacht, sich als etwas ebenso Besonderes auszugeben, wie er, Klim Samgin, es war.

      Einmal, spät abends, kam Ljuba aufgeregt von der Straße auf den Hof gelaufen, wo lärmend die Kinder spielten, blieb stehen, streckte den Arm hoch zum Himmel empor und schrie:

      »Hört doch!«

      Alle verstummten und starrten aufmerksam in das blasse Himmelsblau.

      Doch niemand vernahm etwas. Klim erfreut, daß Ljuba ein Trick mißlungen war, trampelte mit den Füßen und neckte sie:

      »Hast niemand angeführt! Hast niemand angeführt!«

      Aber das Mädchen stieß ihn zurück, zog ihr mehliges Gesicht in angestrengte Falten und leierte hastig herunter:

      Gestern hat mein Vater seinen Hut aufgesetzt

       und sah auf einmal aus wie ein weißer Pilz.

       Ich habe ihn gar nicht wiedererkannt.

       Schwieg, bedeckte die Augen und sagte dann in gereiztem, vorwurfsvollen Ton zu Klim:

      »Du hast alles verdorben.«

      »Er drängt sich immer vor – wie ein Blinder«, sagte finster Boris.

      Klim, der sah, daß alle mißvergnügt waren, konnte die Somows noch weniger leiden und empfand wieder, daß er es mit den Kindern schwerer hatte als mit den Erwachsenen.