Maxim Gorki

Das Leben des Klim Samgin


Скачать книгу

      Dmitri Samgin lächelte breit und sagte:

      »Klim lügt auch gern.«

      Der Vater wandte sich zu ihm hin:

      »Das hast du recht plump ausgedrückt, Mitja, man muß zwischen Lüge und Phantasie unterscheiden.«

      Jetzt trat Warawka ein, nach ihm erschien der »richtige Greis«. Man begann zu diskutieren, und Klim vernahm wieder einmal nicht wenig, was ihn im Recht und in der Notwendigkeit, sich etwas auszudenken, bestärkte, gleichzeitig jedoch ein Interesse für Dronow in ihm wachrief, das der Eifersucht ähnelte. Gleich am nächsten Tag fragte er Iwan:

      »Warum hast du das mit der Tante gelogen? Du hast doch gar keine Tante gehabt.«

      Dronow sah ihn wütend schief von der Seite an und erwiderte:

      »Und du schwatz nicht Dinge, die du nicht verstehst. Deinetwegen hat mich die Großmutter bei den Ohren genommen. Klatschbase!«

      Jeden Morgen um neun Uhr stiegen Klim und Dronow zu Tomilin ins Zwischengeschoß hinauf und saßen bis Mittag in dem kleinen Zimmer, das einer Rumpelkammer glich in die man in unordentlichem Durcheinander drei Stühle, einen Tisch, einen eisernen Waschständer, ein knarrendes Holzbett und einen Haufen Bücher geworfen hatte. In diesem Zimmer war es immer heiß, es roch muffig nach Katzen und nach Taubenmist. Durch das ovale Fenster sah man die Wipfel der Bäume im Garten, ausgeputzt mit Reif oder Schnee wie mit Wattebäuschen. Hinter den Bäumen ragte der graue Wachturm der Feuerwehr in die Höhe, auf seinem runden Dach bewegte sich ein Mensch in grauer Joppe eintönig und langsam im Kreise. Hinterm Wachturm war die Leere des Himmels.

      Der Lehrer empfing die Kinder mit einem unbestimmten, stummen Lächeln. Zu jeder Tageszeit sah er aus wie ein Mensch, der eben aufgewacht ist. Er pflegte sich sogleich mit dem Gesicht nach oben auf das Bett zu legen, das Bett ächzte traurig. Die Finger in den ungepflegten roten Büscheln seiner straffen, rauhen Haare vergraben, das kupferbraune, gespaltene Bärtchen gegen die Zimmerdecke gerichtet und ohne seine Schüler anzusehen, fragte er ab und erzählte leise, doch mit verständlichen Worten. Aber Dronow fand, der Lehrer spreche »hinterm Ofen hervor«.

      Manchmal und zumeist während der Geschichtsstunde stand Tomilin auf und ging im Zimmer auf und ab, sieben Schritte – vom Tisch zur Tür und zurück. Mit gesenktem Kopf vor sich auf die Füße stierend, scharrte er mit seinen abgetragenen Pantoffeln den Boden und versteckte die Hände auf dem Rücken, wobei er die Finger so fest zusammenpreßte, daß sie dunkelrot anliefen.

      Klim Samgin sah, daß Tomilin Dronow lieber und gewissenhafter unterrichtete als ihn.

      »Also, Wanja«, fragte er von der Tür her und zupfte sich sein Hemd zurecht. »Was tat Alexander Newski?« Dronow antwortete rasch und bestimmt:

      »Der heilige und rechtgläubige Fürst Alexander Newski rief die Tataren ins Land und schlug mit ihrer Hilfe die Russen.«

      »Warte mal, was ist das? Woher hast du das?« staunte der Lehrer und bewegte seine buschigen Augenbrauen. Der Mund stand ihm lächerlich offen.

      »Das haben Sie gesagt.«

      »Ich? Wann?«

      »Am Donnerstag.«

      Der Lehrer schwieg eine Weile, glättete sich das Haar mit der flachen Hand, trat dann zum Tisch und sagte strenge:

      »Das braucht ihr euch nicht zu merken.«

      Er hatte die Angewohnheit, laut mit sich selbst zu sprechen. Oft, wenn er einen geschichtlichen Stoff behandelte, versank er eine oder zwei Minuten in tiefes Sinnen und begann dann sehr leise und unverständlich zu reden. In solchen Augenblicken stieß Dronow Klim mit dem Fuß an, blinzelte mit dem linken Auge, das unruhiger war als das rechte, zum Lehrer hin und grinste boshaft. Dronows Lippen glichen denen der Fische: sie waren abgeplattet und hart wie Knorpel. Nach der Stunde fragte Klim:

      »Weshalb hast du mich angestoßen?«

       »Hi hi!« schluckte aufgeregt Dronow. »Das mit dem Newski hat er gelogen, ein Heiliger wird sich auch mit den Tataren anfreunden! Weil er gelogen hat, – darum brauchen wir es uns auch nicht zu merken. Ein feiner Lehrer. Er lehrt einen etwas, aber merken soll man es sich nicht.«

      Wenn er von Tomilin sprach, dämpfte Iwan Dronow die Stimme, sah sich ängstlich nach allen Seiten um und kicherte, und Klim fühlte, während er ihm zuhörte, daß Iwan seinen Lehrer mit Wonne haßte, und daß es ihm Freude bereitete zu hassen.

      »Mit wem, glaubst du, unterhält er sich? Mit dem Teufel.«

      »Es gibt keine Teufel«, wies Klim ihn streng zurecht.

      Dronow sah ihm voll Verachtung in die Augen, spuckte über die linke Schulter, unterließ es aber zu streiten.

      Klim, der Dronow eifersüchtig beobachtete, nahm wahr, daß Dronow danach strebte, ihn zu überflügeln, und sein Ziel leicht erreichen würde. Er sah, daß der frische Junge die Erwachsenen überhaupt nicht liebte und sie mit der gleichen Wollust haßte wie seinen Lehrer. Seine dicke, seelengute Großmutter, die sich rührend mit ihm abgab, brachte er zum Weinen mit seinen Bosheiten: er schüttete ihr Asche oder Pfeffer in ihre Tabakdose, verbog ihre Stricknadel, löste die Strumpfmaschen auf, warf den Wollknäuel den Kätzchen zum Spielen vor oder beschmierte den Faden mit Öl und Leim. Die alte Frau züchtigte ihn, bekreuzigte sich aber dann lange vor dem Ikonenwinkel und flehte unter Tränen:

      »Mutter Gottes, verzeih mir um Christi willen das Leid, das ich der Waise zugefügt habe!«

      Und seufzend steckte sie ihrem Enkel ein Stück Kuchen oder Süßigkeiten zu:

      »Da – iß, Dronow, du mein Peiniger.«

      »Dein Vater ist aber komisch«, sagte Dronow Klim. »Ein richtiger Vater ist grimmig, oh!«

      Vor Wera Petrowna wand Dronow sich wie ein zutrauliches Hündlein. Klim beobachtete, daß der Enkel der Kinderfrau sie ebenso fürchtete wie den Großvater Akim, daß er aber am meisten Angst vor Warawka hatte:

      »Der Teufel!« nannte er ihn und erzählte über ihn: Warawka sei ursprünglich Fuhrmann und später Pferdedieb gewesen, davon sei er reich geworden. Klim war sprachlos. Er wußte genau, daß Warawka der Sohn eines Gutsbesitzers und in Kischinew geboren war, in Petersburg und Wien studiert hatte und dann in diese Stadt gekommen war, in der er bereits das siebente Jahr lebte. Als er dies empört Dronow vorhielt, schüttelte der ungestüm den Kopf und murmelte:

      »Wien – das gibt es, von dort kommen die Stühle, aber Kischinew existiert vielleicht nur im Geographiebuch . . .«

      Klim empfand oft, daß von den seltsamen Einfällen Dronows, von seinen offenkundigen plumpen Lügen eine abstumpfende Wirkung auf ihn ausging. Es schien ihm manchmal, Dronow lüge nur, um ihn zu verhöhnen. Seine gleichaltrigen Kameraden haßte Dronow eher noch heftiger als die Erwachsenen, besonders seitdem die Kinder es ablehnten, mit ihm zu spielen. Beim Spiel glänzte er durch viele scharfsinnige Einfälle, war aber feige und benahm sich gegen die Mädchen roh, vor allem gegen Lida. Er nannte sie verächtlich eine Zigeunerin, kniff sie und suchte sie so hinzuwerfen, daß ihr Schamgefühl verletzt wurde.

      Wenn die Kinder auf dem Hof tollten, saß Iwan Dronow als ein Ausgestoßener auf der Küchentreppe. Er hatte die Arme auf die Knie gestützt, preßte seine Hand an die Backenknochen und verfolgte mit von Schmerz verdunkelten Augen die Spiele der Herrenkinder. Selig kreischte er, wenn jemand hinfiel oder sich so verletzte, daß er sich vor Schmerz wand.

      »Drück ihn feste!« feuerte er an, wenn Warawka und Turobojew sich prügelten. »Hau ihn gegen das Schienbein!«

      Wenn im Garten gespielt wurde, stand Dronow am Zaun, stemmte den Bauch gegen das Gitter und steckte seinen Kopf durch die Stäbe. So stand er und rief von Zeit zu Zeit:

      »Faß sie! – Hinterm Kirschbaum hat sie sich versteckt! – Von links mußt du herankommen . . .!«

      Er suchte auf jede Weise die Spielenden zu stören. Mit berechneter Langsamkeit schlenderte er über den Hof und sah dabei angestrengt auf den Boden.