Maxim Gorki

Das Leben des Klim Samgin


Скачать книгу

hat man mit ihr gemacht?« fragte Klim.

      Die Mutter sagte, die Somows hätten sich gezankt, und die Frau des Doktors habe einen heftigen nervösen Anfall bekommen. Man habe sie ins Krankenhaus bringen müssen.

      »Es ist keine Gefahr. Sie sind beide nicht recht gesund. Sie haben viel Schweres erlebt und sind vor der Zeit alt geworden.«

      Nach ihrer Erzählung waren der Doktor und seine Frau zerbrochene Menschen, und Klim erinnerte sich an das Zimmer, das mit Gerümpel vollgestopft war.

      »Es ist keine Gefahr«, wiederholte die Mutter.

      Aber Klim konnte ihr aus irgendeinem Grund nicht glauben, und es zeigte sich, daß sein Gefühl ihn nicht trog: zwölf Tage später starb des Doktors Frau. Dronow vertraute ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, sie sei aus dem Fenster gesprungen und habe dabei den Tod gefunden.

      Am Tage ihrer Beerdigung, morgens früh, kam der Vater von einer Reise zurück. Er hielt am Grabe der Doktorsfrau eine Rede und weinte. Alle Bekannten weinten, nur Warawka hielt sich abseits, rauchte eine Zigarre und schimpfte mit den Bettlern.

      Doktor Somow ging vom Friedhof aus zu Samgins, betrank sich rasch und krakeelte in seinem Rausch:

      »Ich habe sie geliebt, sie aber haßte mich und lebte nur, um mir das Dasein zu verleiden.«

      Klims Vater tröstete den Doktor wortreich, der aber reckte seine schwarze behaarte Faust bis zur Höhe des Ohrs, schüttelte sie und krächzte, während Tränen der Betrunkenheit sein Gesicht überströmten:

      »Fünfzehn Jahre habe ich mit einem Menschen gelebt, mit dem mich nicht ein gemeinsamer Gedanke verband, und ich liebte ihn, liebte ihn und liebe ihn noch. Sie aber hat alles gehaßt, was ich las, dachte und sprach . . .«

      Klim hörte, wie Warawka halblaut zur Mutter sagte:

      »Sehen Sie mal, was der sich alles ausgedacht hat.«

      »Es ist ein Körnchen Wahrheit darin«, verwies ihn ebenso leise die Mutter.

      Man schaffte den Doktor ins Bett, in das Zwischengeschoß, wo Tomilin gewohnt hatte. Warawka hielt ihn unter den Achseln fest und stemmte seinen Kopf gegen seinen Rücken, während der Vater mit einer brennenden Kerze voranging. Doch eine Minute später stürzte er, mit dem Leuchter, dem die Kerze entfallen war, fuchtelnd, ins Eßzimmer und rief mit gedämpfter Stimme:

      »Wera, komm rasch, Großmutter ist es schlecht geworden.«

      Die Großmutter war gestorben.

      Sie hatte auf der Küchentreppe gesessen und die Küken gefüttert und war plötzlich ohne einen Laut umgesunken. Es war seltsam, aber nicht schrecklich, ihren großen breithüftigen Körper zu sehen, der vornüberhing. Der Kopf lag auf der Seite, und das Ohr war wie lauschend an die Erde gepreßt, Klim blickte auf ihre blaue Wange, auf ihr offengebliebenes ernstes Auge, fühlte keine Angst, sondern staunte nur. Er hatte gedacht, die Großmutter habe sich so sehr daran gewöhnt, mit dem Buch in der Hand, einem geringschätzigen Lächeln im dicken, würdevollen Gesicht und der stets gleichen Vorliebe für Hühnerbouillon fortzuleben, daß diese ihre Lebensweise unendlich lange währen konnte, ohne daß sie jemand störte.

      Als man den unförmigen Körper, der wie ein riesiges Bündel alter Kleider aussah, ins Haus getragen hatte, sagte Dronow:

      »Die ist mal schön gestorben.« Und fügte sogleich, zu seiner Großmutter gewandt, hinzu:

      »Da, nimm dir ein Beispiel, Amme!«

      Die Amme war der einzige Mensch, der stille Tränen über dem Sarg der Entschlafenen vergoß. Bei Tisch, nach der Beerdigung, hielt Iwan Akimowitsch eine kurze und dankerfüllte Rede über Menschen, die zu leben verstanden, ohne ihre Angehörigen zu stören. Akim Wassiljewitsch Samgin dachte nach und sagte:

      »Auch für mich ist es wohl Zeit, mich zu den Vätern zu versammeln.«

      »Er ist nicht sehr überzeugt davon«, flüsterte Warawka an Wera Petrownas rosigem Ohr. Das Gesicht der Mutter war nicht traurig, nur ungewöhnlich milde. Ihre strengen Augen leuchteten sanft. Klim saß an ihrer anderen Seite, vernahm das Flüstern und merkte, daß der Tod der Großmutter niemand schmerzte. Bald erkannte er, daß er für ihn sogar einen Gewinn bedeutete: die Mutter gab ihm das freundliche Zimmer der Großmutter mit dem Fenster auf den Garten und dem milchweißen Kachelofen in der Ecke. Das war schön, denn es wurde beunruhigend und unangenehm, mit dem Bruder in einem Zimmer zu wohnen. Dmitri arbeitete lange und störte ihn beim Schlafen. Seit einiger Zeit besuchte ihn auch der ungenierte Dronow, und häufig murmelten und wisperten sie bis spät in die Nacht.

      Dronow trug jetzt einen engzugeknöpften langen, ihm über die Knie reichenden Gymnasiastenrock, war abgemagert, hatte den Bauch eingezogen und sah mit seinem kahlgeschorenen Kopf wie ein Liliputsoldat aus. Wenn er mit Klim sprach, schlug er die Schöße seines Rocks zurück, vergrub die Hände in den Taschen, spreizte gewichtig die Beine, rümpfte seinen rosa Nasenknopf und fragte:

      »Und du, Samgin, lernst schlecht, höre ich? Ich dagegen bin schon der Dritte in der Klasse.«

      Er straffte die Schultern, bewegte die Arme und sagte selbstgewiß:

      »Sollst sehen, ich werde besser als Lomonossow.«

      Großvater Akim hatte durchgesetzt, daß Klim doch ins Gymnasium aufgenommen wurde. Aber der Knabe glaubte sich beim ersten Examen von den Lehrern ungerecht behandelt und hatte bei der zweiten Prüfung bereits eine vorgefaßte Meinung gegen die Schule. Gleich nachdem Klim die Gymnasiastenuniform angezogen hatte, blätterte Warawka in den Schulbüchern und schleuderte sie verächtlich beiseite:

      »Sie sind ebenso blöde, wie die Bücher, aus denen wir lernen mußten.«

      Hierauf erzählte er lange und witzig von der Dummheit und der Bosheit der Lehrer, und Klim behielt besonders gut im Gedächtnis, was er von der Ähnlichkeit des Gymnasiums mit einer Zündholzfabrik sagte:

      »Die Kinder werden wie die Hölzchen mit einem Stoff bestrichen, der sich leicht entzündet und schnell verbrennt. So erhält man miserable Zündhölzer, bei weitem nicht alle zünden, und lange nicht mit jedem kann man Feuer machen.«

      Klim ging der Ruf eines Jungen von außergewöhnlichen Fähigkeiten vorauf, er machte die Lehrer doppelt aufmerksam und mißtrauisch und erregte die Neugier der Schüler, die in dem neuen Kameraden so etwas wie einen Zauberkünstler vermuteten. Sofort fühlte Klim sich wieder in der vertrauten, aber nur noch qualvolleren Lage eines Menschen, der die Pflicht hat, so zu sein, wie man ihn zu sehen wünscht. Doch er hatte sich an diese Rolle fast gewöhnt, die für ihn offenbar etwas Unentrinnbares war, so unentrinnbar wie die allmorgendlichen kalten Abreibungen, wie die Portion Lebertran, die Suppe zum Mittag und das lästige Zähnereinigen vor dem Schlafengehen.

      Der Selbsterhaltungstrieb gab ihm ein, wie er sich zu benehmen hatte. Er erinnerte sich, daß Warawka dem Vater einzuschärfen pflegte:

      »Vergiß nicht, Iwan, je weniger ein Mensch spricht, desto klüger erscheint er.«

      Klim beschloß, so wenig wie möglich zu reden und der rasenden Herde kleiner Unholde aus dem Weg zu gehen. Ihre aufdringliche Neugier kannte kein Erbarmen, und Klim sah sich in den ersten Tagen in der Lage eines gefangenen Vogels, dem man die Federn ausrupft, bevor man ihm den Hals umdreht. Er war in Gefahr, sich unter den gleichaltrigen Knaben, die sich kaum voneinander unterschieden, zu verlieren, – sie rissen ihn in ihre Mitte hinein und suchten ihn zu einem unscheinbaren Teilchen ihrer Masse zu machen.

      Erschreckt verbarg er sich hinter der Schutzmaske der Langenweile, in die er sich einhüllte wie in eine Wolke. Er zwang sich zu einem gemessenen Schritt, versteckte die Hände auf dem Rücken wie Tomilin und gab sich das Aussehen eines Knaben, der mit etwas sehr Ernstem beschäftigt ist, fern allen Streichen und wilden Spielen.

      Von Zeit zu Zeit verhalf ihm das Leben selbst zur Einkehr: in einer regnerischen Septembernacht erschoß sich Doktor Somow auf dem Grabe seiner Frau.

      Seine erkünstelte Nachdenklichkeit erwies sich für ihn von zweifachem Nutzen: die Knaben ließen das langweilige