Maxim Gorki

Das Leben des Klim Samgin


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Tags, auf dem Heimweg, teilte Dronow Klim mit:

      »Weißt du, jemand hat ihn verraten.«

      »Wen?« fragte Klim.

      »Wen, wen – was stellst du dich dumm? Inokow.«

      »Ach, ich vergaß . . .«

      »Gestern gleich nach der Pause haben sie ihn geholt. Sie jagen ihn fort. Wüßt' ich nur den Lumpen, der den Angeber gespielt hat.«

      Klim hatte wirklich sein Gespräch mit Dronow vergessen. Jetzt begriff er, daß er es gewesen war, der Dronow verraten hatte, und überlegte erschrocken, warum er es getan hatte. Er kam zu dem Schluß, daß das Schattenbild des Inspektors das plötzliche Verlangen in ihm geweckt habe, dem großmäuligen Dronow zu schaden.

      »Du bist daran schuld, du hast geschwatzt«, sagte er wütend.

      »Wann habe ich geschwatzt?« verteidigte sich Dronow.

      »In der Pause, zu mir.«

      »Aber du konntest ihn doch nicht angeben? Du hattest doch gar nicht die Zeit dazu. Inokow wurde ja sogleich danach aus der Klasse geholt.« Sie standen sich wie kampfbereite Hähne gegenüber. Aber Klim fühlte, daß es unklug war, sich mit Dronow zu überwerfen.

      »Vielleicht wurden wir belauscht?« sagte er friedfertig, und ebenso friedfertig antwortete Dronow:

      »Es war niemand da. Jemand aus Inokows Klasse muß ihn verraten haben.«

      Sie gingen schweigend. Seine Schuld erkennend, dachte Klim nach, auf welche Weise er sie wieder gutmachen könne, doch da ihm nichts einfiel, verstärkte sich sein Wunsch, Dronow Ungelegenheiten zu bereiten.

      In diesem Frühjahr hörte die Mutter auf, Klim mit Musikstunden zu quälen, sie spielte nun selbst eifrig. Abends besuchte sie mit seiner Geige der glatzköpfige Advokat Makow, ein unfroher Mensch mit einer schwarzen Brille im roten Gesicht. In einer knarrenden Chaise kam Xaweri Rziga mit seinem Cello angefahren, – dürr, krummbeinig, mit einem Paar Eulenaugen in der knochigen Glätte. Über seinen gelben Schläfen ragten gleich Hörnern zwei graue Wirbel, beim Spiel streckte er die Zunge heraus, die, am Oberkiefer zwei Goldzähne entblößend, auf seiner Altmännerlippe lag. Er sprach, im Diskant eines Vorsängers in der Kirche, stets etwas Denkwürdiges und immer so, daß man nicht wußte, ob er ernsthaft sprach oder scherzte.

      »Will sagen, die Schüler wären viel besser, wenn ihre Eltern nicht lebten. Will sagen, Waisen sind gehorsam«, verlautbarte er, seinen Zeigefinger an die Nase führend. Er legte Klim seine dürre Hand auf den Kopf und wandte sich zu Wera Petrowna:

      »In Ihrem Sohn glüht ein ritterliches, ehrliches Herz – dixi.«

      Klim selbst belehrte er:

      »Um die Wissenschaft zu beherrschen, bedarf es der Beobachtung und des Vergleichs. Dann entblößen wir das innerste Mark der Wirklichkeit.«

      Beobachten, – das verstand Klim gut. Er glaubte, bei seinen Kameraden unbedingt Mängel suchen zu müssen, er war unruhig, wenn er keine fand, doch sich zu beunruhigen war selten Anlaß, weil er sich einen untrüglichen Maßstab geschaffen hatte: alles, was ihm mißfiel oder seinen Neid erregte, war schlecht. Er hatte es bereits gelernt, das Lächerliche und Dumme der Menschen aufzufangen, mehr: er verstand es meisterhaft, die Fehler des einen in den Augen des anderen zu unterstreichen. Als Boris Warawka und Turobojew in den Ferien nach Hause kamen, bemerkte Klim als erster, daß Boris etwas sehr Schlimmes begangen haben mußte und Furcht hatte, daß man es erfuhr. Er war zerstreut und unruhig. Wie früher im Spiel unermüdlich, erfinderisch in Streichen, war er reizbar geworden, auf seinem sommersprossigen Gesicht flammten kleine rote Flecke auf, die Augen funkelten angriffsbereit und wütend, und wenn er lächelte, zeigte er die Zähne, wie um zu beißen. In seiner wilden Unrast witterte Klim etwas Gefährliches und wich dem Spiel mit ihm aus. Auch bemerkte er, daß Igor und Lida in Boris' Geheimnis eingeweiht waren. Sie versteckten sich zu dritt in den Ecken und tuschelten besorgt miteinander.

      Da – eines Abends, der Postbote hatte gerade einen Brief abgegeben –, krachte das Fenster von Warawkas Arbeitszimmer, und seine Stimme schrie zitternd vor Unwillen:

      »Boris, komm einmal her!«

      Boris und Lida knüpften auf der Küchentreppe aus Bindgarn ein Netz, Igor schnitzte aus einer hölzernen Schaufel einen Dreizack. Man beabsichtigte einen Gladiatorenkampf zu veranstalten. Boris stand auf, zupfte seine Bluse zurecht, zog sich den Gurt straffer und bekreuzigte sich hastig.

      »Ich gehe mit dir«, sagte Turobojew.

      »Ich auch?« sagte Lida in fragendem Ton, aber ihr Bruder stieß sie sanft zurück und sagte:

      »Untersteh dich!«

      Die Knaben gingen. Lida blieb zurück, warf das Garn aus der Hand und hob horchend den Kopf. Kurze Zeit vorher war der Garten vom Regen reichlich besprengt worden, im vom Abendrot bestrahlten Laub funkelten lustig bunte Tropfen. Lida fing an zu weinen, wischte mit dem Finger die Tränentröpfchen von den Wangen, ihre Lippen bebten, und ihr ganzes Gesicht verzog sich schmerzhaft. Klim beobachtete es vom Fenster seines Zimmers aus. Er schrak zusammen, als über ihm das wütende Geschrei Warawkas ertönte:

      »Du lügst!«

      Sein Sohn antwortete mit einem ebenso durchdringenden Geschrei:

      »Nein! Er ist ein Schuft!«

      Dann wurde die immer ruhige Stimme Igors vernehmlich:

      »Erlauben Sie, lassen Sie mich erzählen.«

      Das Fenster oben wurde geschlossen, Lida erhob sich und ging durch den Garten, wobei sie absichtlich die Zweige der Sträucher streifte, damit die Regentropfen ihr auf den Kopf und ins Gesicht fielen.

      »Was hat Boris getan?« fragte Klim sie. Es war nicht das erste Mal, daß er in sie drang, doch Lida antwortete ihm auch dieses Mal nicht, sondern blickte ihn nur an wie einen Fremden. Ihm kam der heftige Wunsch, in den Garten hinabzuspringen und sie gehörig bei den Ohren zu nehmen. Seit Igor zurückgekehrt war, hatte Klim wieder aufgehört, für sie zu existieren.

      Nach dieser Szene begannen sowohl Warawka wie die Mutter Boris zu betreuen, als habe er soeben eine gefährliche Krankheit überstanden oder eine heldenmütige und geheimnisvolle Tat vollbracht. Dies erbitterte Klim, reizte Dronows Wissensdrang und schuf im Hause eine unangenehme Atmosphäre der Heimlichkeiten.

      »Zum Teufel«, brummte Dronow und kratzte sich die Nase, »einen Groschen würde ich geben, wenn ich erfahren könnte, was er ausgefressen hat. Ach, wie ich diesen Burschen nicht leiden kann . . .«

      Klim schmeichelte sich bei der Mutter ein, um herauszukriegen, was mit Boris geschehen sei, doch sie wehrte ab:

      »Man hat ihn schwer gekränkt.«

      »Wodurch?«

      »Das brauchst du nicht zu wissen.«

      Klim blickte in ihr strenges Gesicht und verstummte resigniert, fühlte jedoch, daß seine alte Abneigung gegen Boris mit verdoppelter Kraft wieder auflebte.

      Eines Tages gelang es ihm zu belauschen, wie Boris, hinter dem Schuppen versteckt, lautlos weinte. Er hatte sein Gesicht in den Händen vergraben und schluchzte so heftig, daß er hin und her schwankte, und seine Schultern bebten wie bei der weinerlichen Wera Somow. Klim wollte sich Warawka nähern, traute sich aber nicht, außerdem war es angenehm zu sehen, wie Boris weinte, und nützlich zu erfahren, daß die Rolle des Gekränkten nicht so beneidenswert war, wie es schien.

      Plötzlich leerte sich wieder das Haus. Warawka schickte die Kinder, Turobojew und die Somows unter der Aufsicht Tanja Kulikows zu einer Dampferfahrt auf der Wolga: Klim war natürlich auch eingeladen, aber er sagte gesetzt:

       »Ich muß mich doch aber fürs Examen vorbereiten?«

      Er wollte mit dieser Frage nur an seine ernste Auffassung von der Schule erinnern, aber die Mutter und Warawka hatten es merkwürdig eilig, ihm darin zuzustimmen, daß er nicht mitfahren konnte. Warawka nahm ihn am Kinn und sagte sogar belobend:

      »Brav!