Maxim Gorki

Das Leben des Klim Samgin


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Kinder reisten ab. Klim weinte fast die ganze Nacht vor Kummer. Einen Monat lebte er mit sich allein wie vor einem Spiegel, Dronow verschwand schon in aller Frühe, er befehligte eine Bande Straßenjungen, ging mit ihnen baden, führte sie in den Wald zum Pilzesammeln und sandte sie zu Überfällen auf Gärten und Gemüsefelder aus. Aufgeregte Leute kamen zur Amme, um über ihn Klage zu führen, doch sie war schon ganz taub und starb mählich in ihrer kleinen dämmrigen Kammer hinter der Küche dahin. Während die Leute schreiend ihre Klagen vorbrachten, wälzte sie ihren Kopf auf dem eingefetteten Kissen hin und her und murmelte, ihnen wohlwollend versprechend:

      »Nun, nun, der Herr sieht alles, der Herr wird alle bestrafen . . .«

      Die Leute verlangten »die gnädige Frau«. Strenge und aufrecht trat sie auf die Freitreppe hinaus, und nachdem sie die furchtsamen und wirren Reden angehört hatte, verhieß auch sie:

      »Gut, ich werde ihn bestrafen.«

      Doch sie bestrafte ihn nicht. Nur einmal hörte Klim, wie sie in den Hof rief:

      »Iwan, wenn du Gurken stiehlst, wird man dich von der Schule jagen!«

      Sie und Warawka wurden immer weniger sichtbar für Klim. Spielten sie Verstecken miteinander? Einige Male am Tage wandte man sich an ihn oder an Malascha mit der Frage:

      »Wo ist die Mutter – im Garten?«

      »Ist Timofej Stepanowitsch schon gekommen?«

      Wenn sie sich sahen, lächelten sie einander an, Klim war das Lächeln der Mutter fremd, ja unangenehm, wenngleich ihre Augen dunkler und noch schöner geworden waren, während Warawkas schwere, wulstige Lippe gierig und mißgestaltet aus dem Bart hing. Neu und unangenehm war auch, daß die Mutter sich so stark und reichlich parfümierte, daß das Parfüm, wenn er ihr vor dem Schlafengehen die Hand küßte, seine Nüstern beizte und ihm beinahe Tränen in die Augen trieb, wie der grausam scharfe Geruch des Meerrettichs. An Abenden, an denen nicht musiziert wurde, führte Warawka die Mutter am Arm durch das Eßzimmer oder den Salon und brummte:

      »O–o–o! O–o–o!«

      Die Mutter lächelte ironisch dazu.

      Wenn aber gespielt wurde, nahm Warawka in seinem Sessel hinter dem Flügel Platz, brannte sich eine Zigarre an und betrachtete durch die schmalen Spalten seiner zugedeckten Augen und durch den Rauch Wera Petrowna. Er saß regungslos da, es schien, ihn schläferte, er entließ Rauchwolken und schwieg.

      »Schön?« fragte lächelnd Wera Petrowna.

      »Ja«, antwortete er leise, als fürchte er, jemand zu wecken. »Ja.«

      Und einmal sagte er:

      »Dies ist das Schönste, weil es immer etwas Ewiges ist, – die Liebe.«

      »Nein, nicht doch«, wandte Rziga ein, »nichts Ewiges.«

      Und er hob die Hand mit dem Violinbogen hoch empor und verbreitete sich so lange über die Musik, bis der Advokat Makow ihn unterbrach:

      »Meine selige Frau liebte die Musik nicht.«

      Seufzend und gallig setzte er hinzu:

      »Ich bin völlig außerstande, eine Frau zu begreifen, die die Musik nicht liebt, während doch selbst Hühner, Wachteln und . . . hm . . .«

      Die Mutter fragte ihn:

      »Sind Sie lange Witwer?«

      »Neun Jahre. Ich war siebzehn Monate verheiratet. Ja.«

      Alsdann begann er von neuem auf seiner Geige zu spielen.

      Klim fiel in den Unterhaltungen der Erwachsenen über Gatten, Ehefrauen und Familienleben der unsichere, schuldbewußte und oft spöttische Ton dieser Gespräche auf, es war gleichsam von traurigen Irrtümern und verkehrten Handlungen die Rede. Er sah die Mutter an und fragte sich, ob auch sie so sprechen würde.

      »Nein, sie wird es nicht«, antwortete er überzeugt und lächelte.

      In einem freundlichen Augenblick fragte Klim sie:

      »Hast du einen Roman mit ihm?«

      »O Gott, es ist noch viel zu früh für dich, an solche Dinge zu denken«, sagte aufgeregt und ärgerlich die Mutter. Dann wischte sie sich mit ihrem Spitzentüchlein die purpurnen Lippen und bemerkte sanfter:

      »Siehst du, er ist allein und ich auch. Wir langweilen uns. Langweilst du dich nicht auch?«

      »Nein«, sagte Klim.

      Aber er langweilte sich tödlich. Die Mutter kümmerte sich so wenig um ihn, daß Klim bis zum Mittagessen und bis zum Tee sich ebenso unsichtbar zu machen begann wie sie und Warawka. Er empfand ein schwaches Vergnügen, wenn er hörte, wie das Mädchen ihn im Hof und im Garten suchte.

      »Wo steckst du eigentlich immer?« fragte befremdet und manchmal sogar unruhig die Mutter. Klim antwortete:

      »Ich denke nach.«

      »Worüber?«

      »Über alles. Auch über die Stunden.«

      Die Stunden bei Tomilin wurden immer öder und verworrener. Der Lehrer selbst war unnatürlich in die Breite gegangen und hatte etwas Untersetztes bekommen. Jetzt trug er ein weißes Hemd mit gesticktem Kragen. An seinen nackten, kupferbraunen Füßen glänzten Pantoffeln von grünem Saffianleder. Wenn Klim etwas nicht verstand und Tomilin darauf aufmerksam machte, blieb der, ohne Unwillen zu äußern, doch offensichtlich befremdet, mitten im Zimmer stehen und sagte fast immer dieselbe Phrase:

      »Du mußt vor allen Dingen eins begreifen: das eigentliche Ziel aller Wissenschaft ist die Gewinnung einer Reihe von einfachsten, verständlichen und tröstlichen Wahrheiten . . .«

      Er trommelte mit den Fingern auf seinem Kinn, überflog die Zimmerdecke mit dem Weiß seiner Augäpfel und fuhr eintönig fort:

      »Eine solche Wahrheit ist Darwins Theorie vom Kampf ums Dasein, – du erinnerst dich, ich habe dir und Dronow von Darwin erzählt. Diese Theorie weist die Unvermeidlichkeit des Bösen und der Feindseligkeit auf der Erde nach. Dies, Bruder, ist der gelungenste Versuch des Menschen, sich vollkommen zu rechtfertigen. Hm, ja . . . Erinnerst du dich an Doktor Somows Frau? Sie haßte Darwin bis zum Wahnsinn. Es ist denkbar, daß eben dieser bis zum Wahnsinn gesteigerte Haß es ist, der die allumfassende Wahrheit gebiert . . .«

      Stehend redete er am wirrsten und rief dadurch Verdruß hervor. Klim hörte nun dem Lehrer nicht mehr genau zu: ihn beschäftigten eigene Sorgen. Er wollte die Kinder so empfangen, daß sie sogleich sähen, er war nicht mehr der, den sie zurückgelassen hatten. Lange grübelte er, was er zu diesem Zweck unternehmen solle, und gelangte zu dem Ergebnis, durch nichts würde er sie stärker verblüffen, als wenn er eine Brille trüge. Er klagte der Mutter, die Augen würden ihm so rasch müde, man habe ihm im Gymnasium zu einer Brille geraten, und schon am nächsten Tag beschwerte er seine spitze Nase mit dem Gewicht zweier Gläser von rauchgrauer Farbe. Durch diese Gläser erschien alles auf Erden wie mit einer leichten Schicht von grauem Staub überzogen, und selbst die Luft wurde grau, ohne ihre Durchsichtigkeit zu verlieren. Der Spiegel überzeugte Klim vollends davon, daß sein feines Gesicht etwas Bezwingendes bekommen hatte und außerdem klüger aussah.

      Doch kaum waren die Kinder zurückgekehrt, als Boris, der Klims Hand absichtlich nicht aus seinen starken Fingern ließ, spöttisch sagte:

      »Seht doch, da habt ihr den Affen aus der Fabel!«

      Ljuba Somow rief mitleidig:

      »Oh, du bist ja ein Eulenkücken geworden!«

      Turobojew lächelte höflich und verletzend, noch verletzender aber war die Gleichgültigkeit Lidas, die ihre Hand auf Igors Schulter legte und Klim mit einer Miene ansah, als wünsche sie, ihn nicht zu erkennen. Sie seufzte müde und fragte beiläufig:

       »Sind deine Augen erkrankt? Warum tut dir eigentlich immer etwas weh?«

      »Mir tut niemals etwas weh!« sagte Klim empört, er fürchtete, daß er sofort in Tränen ausbrechen würde.

      Doch