Maxim Gorki

Das Leben des Klim Samgin


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. . .«

      »Bitte, ich höre.«

      Die Mutter ging zur Eßzimmertür und schloß sie fest zu.

      Immer häufiger fuhr der Vater in den Wald, auf die Fabrik oder nach Moskau. Er war zerstreut geworden und brachte Klim auch keine Geschenke mehr mit. Sein Haar hatte sich stark gelichtet, die Stirn war zurückgetreten und lastete schwer über den Augen, die sich immer starrer wölbten. Sie waren farblos und stumpf geworden, ihr blaues Dunkel war erloschen. Er hatte eine lächerliche, hüpfende Art zu gehen angenommen, die Hände in den Taschen und einen Walzer pfeifend. Die Mutter betrachtete ihn immer mehr als einen Gast, der bereits langweilig geworden ist, aber noch immer nicht begreift, daß es für ihn Zeit ist, zu gehen. Sie begann, sich sorgfältiger und festlicher zu kleiden, hielt sich noch gerader und stolzer, wurde kräftiger, voller und sprach mit sanfterer Stimme, wenngleich sie ebenso selten und karg lächelte wie früher. Klim war sehr erstaunt und daher verletzt, als er bemerkte, daß sein Vater sich ihm entfremdete und zu Dmitri hielt und mit dem Bruder Geheimnisse hatte. An einem heißen Sommerabend überraschte Klim die beiden in der Gartenlaube. Der Vater, der neben Dmitri saß und ihn innig an sich drückte, lachte in einer ihm fremden, schluckenden Art. Dmitris Gesicht war verweint, er sprang sofort auf und lief fort, der Vater aber sagte zu Klim, während er mit dem Taschentuch Tränenspuren von seinen Hosen wischte:

      »Er ist traurig geworden.«

      »Worüber weint er?«

      »Er? Über . . . über die Dekabristen. Er hat Nekrassows ›Russische Frauen‹ gelesen. Hm, ja, und da habe ich ihm hier von den Dekabristen erzählt. Das hat er sich eben zu sehr zu Herzen genommen.«

      Der Vater bemerkte gezwungen noch einiges über die Dekabristen, stand auf und entfernte sich pfeifend und ließ in Klim den eifersüchtigen Wunsch zurück, sich von der Wahrheit seiner Worte zu überzeugen. Unverzüglich suchte er den Bruder und fand ihn in seinem Zimmer, auf der Fensterbank kauernd. Er saß, die Beine mit den Armen umschlungen und das Kinn auf die Knie gestützt, und bewegte die Backenknochen. Er hörte nicht, wie sein Bruder eintrat. Als Klim ihn um das Buch von Nekrassow bat, stellte es sich heraus, daß Dmitri es gar nicht besaß, daß aber der Vater versprochen hatte, es ihm zu schenken.

      »Hast du über die ›Russischen Frauen‹ geweint?« nahm ihn Klim ins Gebet.

      »Wa-as?«

      »Worüber hast du geweint?«

      »Ach, geh zum Teufel«, sagte kläglich Dmitri und sprang vom Fenster in den Garten. Dmitri war stark aufgeschossen, abgemagert, und auf seinem runden, dicken Gesicht traten jetzt die Backenknochen noch schärfer hervor. Wenn er nachdachte, bewegte er genau so unangenehm die Kiefer wie Großvater Akim. Er war sehr oft in Gedanken vertieft und sah scheel und mißtrauisch auf die Erwachsenen. Zwar noch ebenso häßlich wie früher, war er doch gewandter und weniger schwerfällig geworden. Jedoch zeigte sich etwas Grobes in seinem Wesen. Er hatte sich stark mit Ljuba Somow angefreundet, lehrte sie Rollschuhlaufen und fügte sich willig in ihre Launen, und als einmal Dronow Ljuba beleidigt hatte, zauste Dmitri ihm grausam, dabei ganz kaltblütig, die Haare. Klim übersah er genau so, wie Klim früher ihn übersehen hatte, und auf die Mutter sah er mit gekränkter Miene, als habe sie ihn ungerecht bestraft.

      Die Schwestern Somow lebten unter der Aufsicht Tanja Kulikows bei Warawka. Warawka selbst verhandelte in Petersburg wegen des Baues einer Eisenbahn und mußte von dort ins Ausland reisen, um seine Frau zu begraben. Fast jeden Abend ging Klim hinauf, und immer traf er dort den Bruder, der mit den Mädchen spielte. Wenn sie genug vom Spielen hatten setzten die Mädchen sich auf das Sofa und verlangten, daß Dmitri ihnen etwas erzählte.

      »Etwas Komisches«, bat Ljuba.

      Er setzte sich zur Wand, auf die Sofalehne, und ergötzte, unsicher lächelnd, die Mädchen mit Geschichten über die Lehrer und Gymnasiasten.

      Manchmal wandte Klim ein:

      »Das war ja gar nicht so.«

      »Und wenn schon«, gab Dmitri gleichmütig zu, und Klim schien, daß der Bruder, selbst wenn er etwas genau so erzählte, wie es sich zugetragen hatte, doch nicht daran glaubte. Er wußte eine Fülle dummer und komischer Witze, erzählte sie aber, ohne zu lachen, vielmehr beinahe verlegen. Überhaupt hatte sich in ihm eine unverständliche Sorglichkeit entwickelt, und er musterte die Leute auf der Straße mit so forschenden Blicken, als hielte er es für seine Pflicht, jeden einzelnen von den sechzigtausend Einwohnern der Stadt zu ergründen.

      Dmitri besaß ein dickes Heft mit Wachstuchumschlag. Darin machte er sich Notizen oder klebte Zeitungsausschnitte hinein; heitere Kleinigkeiten, Witze und kurze Gedichte, die er dann den Mädels in seiner mißtrauisch zögernden Art vorlas:

       »Auf dem städtischen Friedhof von Odojewsk lenkt folgende Inschrift auf dem Grabstein der Kaufmannsfrau Polikarpow die Aufmerksamkeit auf sich:

      Der Tod fand sie allein, ohne Gatten und Sohn.

       In Krapiwnja lärmte der Ball.

       Niemand wußte es.

       Sie erhielten das Telegramm

       Und verließen schleunigst das Hochzeitsfest.

       Hier ruht die Gattin und Mutter

       Olga – doch was könnte man ihr sagen,

       Das ihrer Seele zum Heil gereichte?

       Friede ihrer Asche.«

      »Was für ein Blödsinn«, regte Lida sich auf.

      »Dafür ist es komisch«, meinte Ljuba. »Es gibt nichts Herrlicheres als etwas Komisches.«

      In dem breiten Gesicht ihrer Schwester zerfloß langsam ein träges Lächeln.

      Manchmal kam Wera Petrowna und fragte uninteressiert:

      »Spielt ihr?«

      Lida erhob sich sogleich vom Sofa und setzte sich ihr mit betonter Höflichkeit gegenüber, die Somows schmiegten sich geräuschvoll an sie, Dmitri schwieg verlegen und bemühte sich ungeschickt, sein Heft zu verstecken, aber Wera Petrowna fragte:

      »Hast du dir etwas Neues aufgeschrieben? Lies vor!«

      Dmitri las, sein Gesicht hinter dem Heft verbergend:

      »Am blauen Meer steht ein Gendarm.

       Das blaue Meer, das lärmt und braust,

       Und der Gendarm giftet sich schwer,

       Weil er den Lärm nicht verbieten kann.«

      »Streich das aus«, befahl die Mutter und ging darauf hoheitsvoll von einem Zimmer ins andere, wobei sie etwas berechnete und ausmaß. Klim sah, daß Lida sie mit feindseligen Blicken verfolgte und sich die Lippen biß. Ein paarmal war er im Begriff, das Mädchen zu fragen:

      »Was hast du eigentlich gegen meine Mutter?«

      Doch er getraute sich nicht: seit Turobojews Abreise hatte Lida sich ihm wieder freundschaftlich genähert.

      Eines Tages kam Klim von der Stunde bei Tomilin heim, als man mit dem Abendessen bereits fertig war. Das Eßzimmer war dunkel, im ganzen Haus herrschte eine so fremde Stille, daß der Knabe, nachdem er seinen Mantel abgelegt hatte, in dem nur von einer Wandlampe dürftig erhellten Flur stehen blieb und ängstlich in die verdächtige Stille horchte.

      »Laß, ich glaube, es ist jemand gekommen«, vernahm er da das heiße Flüstern der Mutter. Jemandes schwere Füße schleiften dumpf über den Fußboden mit vertrautem Klang klirrte die Messingpforte des Kachelofens und wieder trat Stille ein, lockend, in sie hinein zu horchen. Das Flüstern der Mutter wunderte Klim, da sie niemand außer dem Vater mit du anredete, der Vater aber gestern aufs Sägewerk hinausgefahren war. Vorsichtig schlich der Junge zur Tür des Eßzimmers, und ihm entgegen seufzten die leisen, müden Worte:

      »Mein Gott, wie bist du unersättlich und stürmisch.«

      Klim warf einen Blick durch die Tür: vor dem viereckigen, mit roter Kohlenglut gefüllten Ofenschlund, auf dem niedrigen Lieblingssessel der Mutter räkelte sich Warawka. Er hatte den Arm um die Taille