Maxim Gorki

Das Leben des Klim Samgin


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dann an der Erde, jammerte und drohte:

      »Ich beschwere mich!«

      Zwei oder drei Wochen war Ljuba Somow mit Iwan innig befreundet, sie gingen zusammen spazieren, versteckten sich in den Winkeln und tuschelten geheimnisvoll und lebhaft. Doch bald – eines Abends – kam Ljuba in Tränen gebadet zu Lida gelaufen und schrie empört:

      »Dronow ist ein Dummkopf!«

      Warf sich aufs Sofa, vergrub ihr Gesicht in den Händen und wiederholte:

      »Ach, was für ein Dummkopf!«

      Ohne jemand von dem Geschehenen ein Wort zu sagen, stürmte Lida, die tief errötet war, in die Küche, kehrte zurück und verkündete triumphierend und wild:

      »Er hat sein Teil bekommen!«

      Noch drei Tage danach lief Dronow mit Beulen auf der Stirn und unterhalb des linken Auges herum.

      Ja, Dronow war ein unangenehmer, ein abscheulicher Junge. Klim sah aber, daß sowohl der Vater und der Großvater als auch der Lehrer von seinen Fähigkeiten begeistert waren, und witterte in ihm den Rivalen. Neid, Eifersucht und Sorge verzehrten ihn. Gleichwohl zog ihn Dronow an, und oft genug verschwanden die unfreundlichen Gefühle für diesen Knaben, um einem plötzlichen Interesse und der Zuneigung für ihn Platz zu machen.

      Es gab Augenblicke, in denen Dronow aufblühte und ein ganz anderer wurde. Versonnenheit nahm von ihm Besitz, er bekam gleichsam Haltung und vertraute Klim mit sanfter Stimme wunderbare Wachträume und Märchen an. So erzählte er einmal, aus dem Brunnen im Hof sei ein riesiger, wie ein Schatten leichter und durchsichtiger Mann gestiegen, durchs Tor hinaus und die Straße hinab gewandert. Als er am Glockenturm vorbeigegangen, sei dieser schwarz geworden und habe sich nach links und rechts geneigt wie ein schlanker Baum im Windstoß.

      »Und neulich, bevor der Mond aufging, flog ein ungeheurer schwarzer Vogel über den Himmel, flog an einen Stern heran und pickte ihn auf, flog zu einem zweiten und pickte ihn auch auf. Ich schlief nicht, saß auf dem Fenster und plötzlich wurde mir unheimlich. Ich lief ins Bett, zog die Decke über den Kopf, und, weißt du, mir taten die Sterne so leid, – ich dachte, morgen ist der Himmel ganz leer . . .«

      »Das denkst du dir aus«, sagte Klim nicht ohne Neid.

      Dronow widersprach nicht. Klim begriff, daß er sich alle diese Dinge ausdachte. Aber er erzählte mit einer so überzeugenden Ruhe von seinen Visionen, daß Klim wünschte, die Lügen möchten Wahrheit sein. Zuletzt war Klim sich selbst über sein Verhältnis zu diesem Jungen, der ihn immer heftiger bald anzog, bald abstieß, im unklaren.

      Die Aufnahmeprüfung bestand Dronow glänzend. Klim fiel durch. Das traf ihn so hart, daß er, heimgekehrt, den Kopf in den Schoß der Mutter vergrub und laut schluchzte. Die Mutter beruhigte ihn freundlich, sagte ihm viel liebe Worte und lobte ihn sogar:

      »Du bist ehrgeizig, das ist gut.«

      Abends hatte sie Streit mit dem Vater. Klim hörte sie zornig sagen:

      »Du solltest endlich begreifen, daß ein Kind kein Spielzeug ist.«

      Nach einigen Tagen aber fühlte der Knabe, daß seine Mutter aufmerksamer und freundlicher geworden war. Sie fragte ihn sogar:

      »Liebst du mich?«

      »Ja«, sagte Klim.

      »Sehr?«

      »Ja«, wiederholte er überzeugt. Die Mutter drückte seinen Kopf fest an ihre weiche, duftige Brust und sagte strenge:

      »Du sollst mich sehr lieben.«

      Klim erinnerte sich nicht, daß seine Mutter ihn früher schon einmal danach gefragt hätte. Sich selbst würde er ihre Frage kaum mit solcher Bestimmtheit beantwortet haben können wie ihr. Unter allen Erwachsenen war Mama die Unzugänglichste, über sie konnte man sich so wenig Gedanken machen wie über eine Heftseite, die noch unbeschrieben war. Alle im Hause fügten sich ihr gehorsam, selbst der »richtige Greis« und die eigensinnige Maria Romanowna – die »Tyrannenmieze«, wie Warawka sie hinter ihrem Rücken nannte. Die Mutter lachte selten und redete wenig, sie hatte ein strenges Gesicht, dichte dunkle Brauen über sinnenden blauen Augen, eine lange spitze Nase und kleine rosige Ohren, Sie flocht ihr mondblondes Haar in einen schweren Zopf und legte ihn sich in Kränzen um den Kopf, was sie sehr groß, viel größer als der Vater, erscheinen ließ. Ihre Hände waren immer heiß. Es war für jedermann klar, daß ihr von allen Männern Warawka am besten gefiel. Sie unterhielt sich mit ihm am liebsten und lächelte ihm viel häufiger zu als den anderen. Alle Bekannten sagten, sie nehme erstaunlich an Schönheit zu.

      Auch der Vater veränderte sich – unmerklich, aber stark. Er wurde noch quecksilbriger und zupfte sich sein dunkles Bärtchen, was er früher nicht getan hatte. Seine Taubenaugen blinzelten kurzsichtig und blickten so verloren, als habe er etwas vergessen, woran er sich auf keine Weise erinnern könne. Er war noch redseliger geworden und seine Stimme noch schreiender und betäubender. Er redete über Bücher, Dampfschiffe, Wälder, Feuersbrünste, über den dummen Gouverneur und die Volksseele, über die Revolutionäre, die sich grausam getäuscht hatten, über den wunderbaren Menschen Gleb Uspenski, der »durch alles hindurchsah«. Er redete immer von etwas Neuem und stets mit einer Hast, als fürchte er, daß ihm morgen jemand verbieten würde, davon zu sprechen.

      »Wunderbar!« rief er. »Erstaunlich!«

      Warawka gab ihm den Spitznamen »Wanja, der Staunende!«

      »Du bist wahrhaftig ein Meister im Staunen, Iwan!« sagte Warawka und spielte mit seinem üppigen Bart.

      Seine Frau hatte er ins Ausland gebracht, Boris nach Moskau auf eine vorzügliche Schule, die auch Turobojew besuchte. Lida wurde von einer großäugigen alten Frau mit einem grauen Schnurrbart abgeholt und reiste mit ihr in die Krim zu einer Traubenkur. Aus dem Ausland kehrte Warawka verjüngt und spottlustiger denn je zurück. Er hatte gleichsam an Schwere verloren, trat aber im Gehen noch lauter auf und verweilte häufig vor dem Spiegel, mit seinem Bart liebäugelnd, den er so zurechtgestutzt hatte, daß die Ähnlichkeit mit einem Fuchsschweif noch auffälliger wurde. Er begann sogar in Versen zu reden. Klim hörte, wie er zur Mutter sagte:

      »Da ich der Finsternis des Irrtums

       Mit heißem Wort der Überredung

       Die gefallene Seele entriß,

      natürlich, damals war ich ein Idiot . . .«

       »Das ist wohl nicht ganz richtig und sehr roh ausgedrückt, Timofej Stepanowitsch«, tadelte die Mutter. Warawka pfiff wie ein Gassenjunge und sagte dann scharf:

      »Eine zarte Wahrheit gibt es nicht.«

      Beinahe an jedem Abend hatte er Streit mit Maria Romanowna, und sogleich zankte sich auch Wera Petrowna mit ihr. Die Hebamme fuhr in die Höhe, reckte sich kerzengerade auf und sagte ihr mit finster gerunzelten Augenbrauen:

      »Wera, besinne dich!«

      Der Vater lief aufgeregt zu ihr hin und schrie:

      »Beweist denn nicht England, daß das Kompromiß ein Erfordernis der Zivilisation ist?«

      Die Hebamme polterte:

      »Hören Sie auf, Iwan!«

      Darauf lief der Vater zu Warawka:

      »Du mußt zugeben, Timofej, in einem gewissen Augenblick verlangt die Evolution einen entscheidenden Schlag . . .«

      Warawka schob ihn mit einer Bewegung seiner kurzen, starken Hand beiseite und rief, spöttisch lachend:

      »Nein, Maria Romanowna, nein!« Der Vater ging zum Tisch, um Doktor Somow beim Biertrinken Gesellschaft zu leisten, und der halbbezechte Doktor knurrte:

      »Nadson hat recht: die Feuer sind heruntergebrannt und . . . wie heißt es doch weiter?«

      ». . . die Zeit der Blüte ist dahin«, half der Vater nach, verständnisvoll mit dem schon ein wenig kahlen Schädel nickend. Nachdenklich trank er sein Bier und schrumpfte gleichsam zusammen.

      Auch Maria Romanowna