Maxim Gorki

Das Leben des Klim Samgin


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seine Zerstreutheit auf diese Weise zu erklären, mit Ausnahme eines boshaften alten Männchens mit einem herunterhängenden chinesischen Schnurrbart.

      Dieser erteilte Unterricht in der russischen Sprache und in Geographie, die Kinder nannten ihn den »Unfertigen«, weil sein linkes Ohr kleiner war als das rechte, wenngleich so wenig, daß sogar Klim, als man es ihm zeigte, sich nicht sofort von der Ungleichheit der Ohren seines Lehrers überzeugen konnte. Der Knabe fühlte gleich in den ersten Stunden, daß der Alte nicht an seine Begabung glaubte, ihn überführen und verhöhnen wollte. Jedesmal, wenn er Klim vorrief, glättete der Greis seinen Schnurrbart und spitzte seine violetten Lippen, als wolle er pfeifen. Dann musterte er Klim sekundenlang durch seine Brille und fragte endlich milde:

      »Nun, Samgin, woran ist die Seenzone reich?«

      »An Fischen.«

      »So. Vielleicht gibt es dort auch Wälder?«

      »Ja.«

      »Und, wie denkst du, sitzen die Fische in den Bäumen?«

      Die Klasse brach in schallendes Gelächter aus, der Lehrer schmunzelte und entblößte seine braunen, goldplombierten Zähne.

      »Warum, mein Genialer, hast du dich so schlecht vorbereitet?«

      Kehrte Klim dann an seinen Platz zurück, erblickte er vor sich die Phalanx kugelförmiger, geschorener Köpfe, gefletschter Zähne, vielfarbiger Augen, in denen das Lachen funkelte. Dieser Anblick trieb ihm Tränen der Kränkung in die Augen.

      Nach Ansicht der Jungen waren die Stunden des »Unfertigen« ein Jux. Klim fand ihn dumm und boshaft und kam endgültig zu der Überzeugung, daß das Gymnasium langweiliger und schwieriger sei als die Stunden bei Tomilin.

      »Warum spielst du nie mit?« fiel Dronow in der Pause über Klim her. Er war bis zur Rotglut erhitzt, strahlend, glücklich. Er gehörte wirklich zu den besten Schülern seiner Klasse und zu den ersten Lausbuben im ganzen Gymnasium. Es schien, er beeilte sich, alle Spiele nachzuahmen, von denen ihn Turobojew und Boris Warawka ausgeschlossen hatten. Wenn er mit Klim und Dmitri aus dem Gymnasium kam, pfiff er selbstgefällig und lachte ungeniert über die Mißerfolge der Brüder. Doch nicht selten fragte er Klim:

      »Gehst du heute zu Tomilin? Ich komme mit.«

      Und wenn er dann den rothaarigen Lehrer aufsuchte, sog er sich an ihm fest und überschüttete ihn mit Fragen über Religion, den ödesten Gegenstand, den es für Klim gab. Tomilin ließ lächelnd seine Fragenflut über sich ergehen und antwortete zaudernd. Nachdem er ihn verlassen hatte, pflegte er einen Augenblick in Schweigen zu verharren und sich dann mit den Worten Glafira Warawkas an Klim zu wenden:

      »Nun, wie geht es zu Hause?«

      Er fragte in einem Ton, als erwarte er etwas Überraschendes zu hören. – Seine Bücher türmten sich im Zimmer zu immer höheren Bergen rings um ihn. In der Ecke und am Fußende des Bettes ragten sie beinahe bis an die Decke. Sich auf dem Bette rekelnd, belehrte er Klim:

      »Edelmetalle nennt man diejenigen Metalle, die beinahe oder überhaupt nicht oxydieren. Merke dir das, Klim. Edle und geistesstarke Menschen oxydieren auch nicht, das heißt – sie trotzen den Schicksalsschlägen und dem Unglück, und überhaupt . . .«

      Solche Erläuterungen zu den Wissenschaften behagten dem Jungen mehr als die Wissenschaften selbst und wurden von ihm besser behalten. Tomilin aber war mit seinen Erläuterungen sehr freigebig. Er schien sie von der Zimmerdecke abzulesen, die mit früher einmal weißem, jetzt aber schon stark vergilbtem und von einem Netz von Rissen durchzogenem Glanzpapier beklebt war.

      »Ein zusammengesetzter Stoff verliert beim Erhitzen einen Teil seines Gewichts, ein einfacher erhält oder vergrößert das seine.«

      Schwieg und ergänzte:

      »Du, zum Beispiel, bist nicht mehr einfach genug für dein Alter. Dein Bruder ist zwar älter, aber kindlicher als du.«

      »Aber Mitja ist dumm«, erinnerte Klim.

      Mit mechanischer Ruhe wie immer entgegnete der Lehrer:

      »Ja, er ist dumm, doch gemäß seinem Alter. Jedem Lebensalter entspricht eine bestimmte Dosis Dummheit und Verstand. Was man in der Chemie mit Kompliziertheit bezeichnet, ist etwas vollkommen Gesetzmäßiges, hingegen besteht das, was man im Charakter des Menschen als Kompliziertheit auszugeben pflegt, häufig nur in seiner Einbildung. Es ist Spielerei. Die Frauen . . . zum Beispiel . . .«

      Wieder verstummte er, als wäre er mit offenen Augen eingeschlafen. Klim sah von der Seite das porzellanähnliche glänzende Weiß seiner Augäpfel, es erinnerte ihn an die toten Augen Doktor Somows. Er erriet, daß sein Lehrer, als er sich Betrachtungen über die Einbildung hingab, mit sich selbst sprach und seinen Schüler gänzlich vergessen hatte, und oft hoffte Klim, er würde im nächsten Augenblick etwas über seine Mutter und jene Szene im Garten, als er ihre Knie umarmte, verraten. Doch der Lehrer sagte:

      »Eine gesunde Einbildung hat die Form der Frage, der Vermutung: ist es wohl so? Von vornherein wird ehrlich damit gerechnet, daß es vielleicht nicht so ist. Schädliche Einbildungen geschehen immer in der Form der Behauptung: so ist es und nicht anders. Daraus entspringen dann Verirrungen, Enttäuschungen und überhaupt . . . Ja.«

      Klim folgte diesen Reden mit gierigem Ohr und bemühte sich angestrengt, sie seinem Gedächtnis einzuverleiben. Er empfand Dankbarkeit für den Lehrer. Dieser unansehnliche Mensch, den niemand liebte, sprach mit ihm wie mit einem Erwachsenen und Gleichgestellten. Das war sehr nutzbringend: Klim machte von den Aussprüchen des Lehrers als von seinen eigenen Gebrauch und befestigte damit seinen Ruf eines gescheiten Jungen.

      Doch manchmal schreckte ihn der Rothaarige: er verlor sich in so langen und wirren Reden, daß Klim husten, mit dem Absatz auf den Boden klopfen oder ein Buch fallen lassen mußte, um sich bemerkbar zu machen. Doch auch dieser Lärm weckte Tomilin nicht immer aus seiner Vergessenheit, er redete weiter, sein Gesicht wurde wie Stein, seine Augen traten vor Anstrengung aus den Höhlen und Klim erwartete, Tomilin würde gleich losschreien wie die Frau des Doktors: »Nein! Nein!«

      Besonders unheimlich war der Lehrer, wenn er beim Sprechen die Hand vor das Gesicht hob und mit den Fingern in der Luft etwas Unsichtbares rupfte, wie der Koch Wlas Rebhühner oder anderes Geflügel.

      In solchen Augenblicken sagte Klim laut:

      »Es ist schon spät.«

      Tomilin starrte in die Finsternis vor dem Fenster und erklärte zustimmend:

      »Ja, für heute ist's genug.« Und er streckte dem Schüler die behaarten Finger mit den schwarzen Trauerrändern hin. Der Knabe ging fort, weniger mit Wissen als mit Betrachtungen beladen.

      An den Winterabenden war es schön, über den knirschenden Schnee zu schlendern und sich vorzustellen, wie zu Hause beim Tee Vater und Mutter von den neuen Gedanken ihres Sohnes überrascht sein würden. Schon lief der Laternenanzünder mit einer Leiter über der Schulter leichtfüßig von Lampe zu Lampe und spannte gelbe Lichter in die blaue Luft. Angenehm erklangen in der Winterstille die Laternenscheiben. Kutschpferde trabten, die rauhen Köpfe schüttelnd, vorüber. An einer Straßenkreuzung ragte ein steinerner Schutzmann und folgte mit greisen Augen einem kleinen, aber würdevollen Gymnasiasten, der gemächlich von einer Ecke zur anderen spazierte.

      Jetzt, da Klim einen großen Teil des Tages außerhalb des Hauses zubrachte, entglitt vieles seinen im Beobachten geübten Augen. Immerhin bemerkte er, daß es immer unruhiger im Hause wurde. Die Menschen bekamen einen anderen Gang, und selbst die Türen fielen mit einem anderen Geräusch ins Schloß.

      Der »richtige Greis« setzte seine stockig steif gewordenen Beine behutsam eins vors andere, stieß heftig mit dem Stock auf den Boden und hustete so, daß seine Ohren zitterten und Hals und Gesicht die Farbe reifer Pflaumen annahmen. Immerfort mit dem Stock aufstoßend und mit einem wütenden Husten kämpfend, sprach er:

      »Sie, Gnädigste, haben seinen weichen Charakter ausgenutzt . . . Sie haben die kindliche Vertrauensseligkeit Iwans ausgenutzt, Gnädigste, Sie haben . . .«

      Die Mutter warnte