Gestalt rief Wehmut hervor. An sonnigen Tagen, wenn sie über den Hof ging oder im Garten mit einem Buch in der Hand auf und ab wandelte, schien ihr Schatten schwerer und dunkler zu sein als der aller anderen Menschen, er kroch hinter ihr her wie eine Verlängerung ihres Trauerkleides und entfärbte die Blumen und das Gras. Die Streitigkeiten mit Maria Romanowna endeten damit, daß sie hinter dem Wagen, der ihre Sachen fortbrachte, den Hof verließ, – fortging, ohne jemandem Lebewohl zu sagen, in hoheitsvoller Haltung wie immer, in der einen Hand einen Reisesack mit Instrumenten tragend, mit der anderen einen grünäugigen schwarzen Kater an ihre flache Brust drückend.
Gewöhnt, die Erwachsenen zu beobachten, sah Klim, daß unter ihnen etwas Rätselhaftes und Beängstigendes anhub. Es war, als setzten sie sich auf andere Stühle als die, auf denen sie zu sitzen gewohnt waren. Der Lehrer veränderte sich gleichfalls zum Schlechten. Noch immer blickte er auf alles mit den komischen Augen eines Menschen, den man eben aufgeweckt hat, aber jetzt beleidigt und mürrisch, und bewegte dabei die Lippen, als müsse er gleich losschreien, traue sich aber nicht. Klims Mutter sah er genau so an wie Großvater Akim einen falschen Zehnrubelschein, den ihm jemand in die Hand gesteckt hatte. Er sprach mit ihr nur noch in unehrerbietigem Ton. Eines Abends betrat Klim den Salon in dem Augenblick, als Mama auf dem Flügel spielen wollte, und hörte die groben Worte Tomilins:
»Das ist nicht wahr, ich habe gesehen, wie er . . .«
»Was willst du, Klim?« fragte eilig die Mutter, der Lehrer verschränkte die Arme auf dem Rücken und ging, ohne seinen Schüler anzusehen, hinaus.
Einige Tage darauf jedoch, in der Nacht, als Klim aufgestanden war, um das Fenster zu schließen, sah er den Lehrer und die Mutter durch den Garten kommen. Mama wehrte mit den Zipfeln ihres blauen Schals die Mücken ab, der Lehrer rauchte und schüttelte seine kupferbraune Mähne. Das Mondlicht war schwerflüssig wie Öl, sogar der Rauch der Zigarette färbte sich in ihm golden. Klim wollte gerade rufen: »Mama, ich schlafe noch nicht!« Aber da schien Tomilin über etwas zu stolpern, fiel auf die Knie, fuchtelte drohend mit den Armen in der Luft herum, stieß einen brüllenden Laut aus und umarmte die Beine der Mutter. Die prallte zurück, stieß seinen zottigen Kopf von sich und ging, nervös den Schal zerreißend, fort. Der Lehrer sank schwer in eine hockende Stellung, sprang dann auf, fuhr sich in die straffen Haare, strich sie glatt und eilte Mama, mit den Armen fuchtelnd, nach. In diesem Augenblick rief Klim angstvoll:
»Mama!«
Sie blieb stehen, wandte den Kopf und ging, dem Lehrer ausweichend wie einem Laternenpfahl, ins Haus. An Klims Bett erschien sie mit einem ungewöhnlich strengen, beinahe fremden Gesicht und tadelte ihn unwillig:
»Du schläfst noch nicht, obwohl es bald zwölf ist, und morgens bist du nicht wachzukriegen. Jetzt wirst du früher aufstehen müssen, Stepan Andrejewitsch wird nicht mehr bei uns wohnen.«
»Weil er deine Beine umarmt hat?« fragte Klim.
Während sie sich mit dem Schal das Gesicht wischte, sprach sie nicht mehr ungehalten, sondern in dem eindringlichen Ton, womit sie ihm während der Musikstunde eine unbegreifliche Konfusion in den Noten erklärte. Sie sagte, der Lehrer habe ihr eine Raupe vom Rock genommen, weiter nichts, Ihre Beine habe er nicht umarmt, denn das wäre unanständig gewesen.
»Ach, mein Junge, mein Junge! Du denkst dir ja immer etwas aus«, seufzte sie. Klim, der nicht wünschte, daß sie ihm an den Augen ablese, daß er ihr nicht glaubte, senkte den Blick. Aus Büchern und aus den Gesprächen der Erwachsenen wußte er schon, daß ein Mann nur dann vor einer Frau niederkniet, wenn er in sie verliebt ist. Es war keineswegs nötig, auf die Knie zu fallen, um eine Raupe vom Rock zu nehmen.
Die Mutter streichelte zärtlich sein Gesicht mit ihrer heißen Hand. Er erwähnte den Lehrer nicht weiter, bemerkte nur noch, Warawka liebe den Lehrer auch nicht. Und fühlte, wie die Hand der Mutter zusammenzuckte und seinen Kopf heftig in das Kissen stieß. Als sie fort war, dachte er im Einschlafen: Wie seltsam! Die Erwachsenen fanden immer dann, wenn er die Wahrheit sprach, daß er sich etwas ausdachte!
Tomilin war in eine kleine, schmale Sackgasse gezogen, die von einem blauen Häuschen abgeriegelt wurde. Über der Vortreppe des Hauses hing ein Schild:
Koch und Konditor.
Nehme Bestellungen für Hochzeiten, Bälle
und Leichenfeiern entgegen.
Das Zimmer, das Tomilin beim Koch gemietet hatte, lag ebenfalls im Zwischengeschoß, war aber heller und sauberer. Doch er verschandelte es in wenigen Tagen mit Bergen von Büchern. Es schien, als sei mit ihm seine ganze frühere Behausung samt ihrem Staub, ihrer schwülen Luft und dem leisen Knarren ihrer von der Sommerglut ausgetrockneten Dielenbretter übergesiedelt. Unter den Augen des Lehrers hatten sich bläuliche Säckchen gebildet, die goldenen Funken in den Pupillen waren erloschen, der ganze Mensch irgendwie kläglich verwahrlost. Jetzt erhob er sich in den Stunden überhaupt nicht mehr von seinem liederlichen Bett.
»Die Beine schmerzen mir«, sagte er.
»Weil er sich damals im Garten die Knie verletzt hat«, mutmaßte Klim.
Seine Stunden erteilte Tomilin jetzt ungeduldig, in seiner leisen Stimme klang Gereiztheit. Zuweilen schloß er die schwermütigen Augen, schwieg lange und fragte plötzlich wie aus weiter Ferne:
»Nun, verstanden?«
»Nein.«
»Denk nach!«
Klim dachte jedoch nicht darüber nach, was es mit dem Gerundium für eine Bewandtnis hatte und wohin der Fluß Amu-Darja floß, sondern darüber, warum und weshalb niemand diesen Menschen liebte. Weshalb sprach der kluge Warawka stets in einer so spöttischen und verletzenden Weise von ihm? Der Vater, Großvater Akim, alle Bekannten übersahen Tomilin wie einen Schneider. Einzig Tanja Kulikow fragte von Zeit zu Zeit: »Was meinen Sie dazu, Tomilin?«
Er antwortete ihr barsch und achtlos. Er hatte über alles eine andere Meinung als die anderen, und eigensinnig klang seine blecherne Stimme, wenn er mit Warawka stritt.
»Im Grunde genommen . . .« war seine beständige Redewendung.
»Im Grunde genommen!« äffte Warawka nach. »Hol der Teufel Ihren Grund! Hundertmal wichtiger ist die Tatsache, daß Karl der Große Gesetze über Hühnerzucht und den Handel mit Eiern erlassen hat.«
Der Lehrer widersprach salbungsvoll:
»Der Sache der Freiheit sind die Laster eines Despoten viel weniger gefährlich als seine Tugenden.«
»Fanatismus!« rief Warawka, Tanja aber sagte erfreut:
»Ach nein, das ist unglaublich wahr! Ich will es mir notieren!«
Sie kritzelte die Worte auf den Umschlag von Klims Heft, vergaß aber, sie abzuschreiben, und so verbrannten sie, ohne in die Grube ihres Gedächtnisses gelangt zu sein, im Ofen. Das war nämlich Warawkas Ausdruck:
»Nun, Tanja, wühlen Sie rasch mal in der Müllgrube Ihres Gedächtnisses!«
An vieles hatte Klim zu denken. Alles rings um ihn wuchs ins Weite und drängte ebenso brutal und beharrlich in seine Seele wie die Wallfahrer in die Himmelfahrtskirche mit dem wundertätigen Bild der Mutter Gottes. Noch vor gar nicht langer Zeit standen die vertrauten Dinge an ihrem Platz, ohne Interesse zu wecken. Nun lockten sie ihn an, während andere, liebe Dinge ihren Zauber verloren. Selbst das Haus dehnte sich aus. Klim, der überzeugt war, daß es darin nichts Unbekanntes gäbe, sah plötzlich Neues auftauchen, das er früher nicht bemerkt hatte. Im halbdunklen Korridor über dem Kleiderschrank blickten ihn von einem Bild, das früher nur ein dunkles Viereck gewesen war, die sinnenden Augen einer grauhaarigen, in Nacht begrabenen alten Frau an. Auf dem Dachboden, in einem altertümlichen, eisenbeschlagenen Koffer entdeckte er eine Menge reizvoller, wenn auch zerbrochener Gegenstände: Bilderrahmen, Porzellanfiguren, eine Flöte, ein mächtiges Buch in französischer Sprache mit Bildern, die Chinesen darstellten, ein dickes Album mit den Porträts lächerlicher, schlecht frisierter Menschen. Das Gesicht eines von ihnen war mit Blaustift übermalt.
»Das sind die Helden der Großen Französischen Revolution, und dieser Herr dort ist Graf