Maxim Gorki

Das Leben des Klim Samgin


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       »Ja, ja, die Vergangenheit . . . Gerümpel . . .«

      Klim entdeckte im Hause sogar ein ganzes Zimmer, bis zur Decke vollgestopft mit zerbrochenen Möbeln und einem Haufen von Gegenständen, deren einstige Bestimmung schon dunkel, ja geheimnisvoll geworden war. Es sah aus, als seien alle diese verstaubten Dinge plötzlich ins Zimmer gestürmt wie ein Menschenhaufen, den eine Feuersbrunst erschreckt. In der Panik hatten sie sich übereinander gewälzt, sich zermalmend und verstümmelnd, bis sie einander zertrümmert hatten und gestorben waren. Traurig war der Anblick dieser Verwüstung, die zerbrochenen Dinge erfüllten mit Mitleid.

      Ende August, eines Morgens früh, erschien ungewaschen und struppig Ljuba-Clown. Mit den Füßen trampelnd und vor Schluchzen erstickend, keuchte sie:

      »Kommt rasch, – Mama ist verrückt geworden!« Sie fiel vor dem Sofa nieder und versteckte ihren Kopf unter dem Kissen.

      Klims Mutter machte sich sogleich auf den Weg. Das Mädchen befreite ihren Kopf aus dem Kissen, kauerte sich auf dem Boden nieder, sah Klim kläglich mit nassen Augen an und berichtete:

      »Ich habe schon gestern, als sie mit einander schimpften, gesehen, daß sie verrückt geworden ist. Warum nicht der Papa? Er ist immer betrunken.«

      Auf die Füße springend, ergriff sie Klims Ärmel.

      »Wir gehen hin!«

      Ohne zu wissen wie, von Ljuba mitgezogen, stand Klim auf einmal in der Wohnung der Somows. Im halbdunklen Schlafzimmer, dessen Fensterläden geschlossen waren, auf einem verwühlten, zerfetzten Bett wand sich Sofia Nikolajewna in Zuckungen. Ihre Hände und Füße waren mit Handtüchern zusammengebunden. Sie lag mit dem Gesicht nach oben, zuckte wild mit den Schultern, krümmte die Knie, schlug mit dem Kopf gegen die Kissen und brüllte:

      »Nein, nein!«

      Ihre Augen, schrecklich aus den Höhlen getreten, hatten sich bis zum Umfang von Fünfkopekenstücken geweitet. Sie stierten in den Lampenschein und waren rot wie glühende Kohlen. Unterhalb des einen Auges brannte eine Schramme, aus der Blut sickerte.

       »Nein!« schrie die Doktorsfrau mit hohler Stimme und, noch lauter:

      »Nein, nein!«

      Ihre Zuckungen wurden heftiger, ihre Stimme klang böser und schriller. Der Doktor lehnte zu Häupten des Bettes an der Wand und nagte und kaute an seinem schwarzen, borstigen Bart. Er war unanständig aufgeknöpft, struppig, seine Hosen wurden von einem Hosenriemen gehalten, den anderen hatte er sich um den Handrücken gewickelt und zerrte ihn hoch. Die Hosen rutschten hinauf und hinunter, die Beine des Doktors zitterten wie die eines Betrunkenen, und seine trüben Augen zwinkerten so heftig, daß es schien, als klapperten die Lider wie die Zähne seiner Frau. Er schwieg, wie wenn sein Mund für immer unter dem Bart zugewachsen wäre.

      Ein zweiter Arzt, der alte Williamson, saß am Tisch, blinzelte ins Kerzenlicht und schrieb vorsichtig etwas auf. Wera Petrowna schüttelte ein Glas mit einer trüben Flüssigkeit. Mit einem Teller mit Eis und einem Hammer lief das Dienstmädchen durch das Zimmer.

      Plötzlich krümmte die Kranke sich wie ein Bogen, fiel auf den Fußboden, schlug mit dem Kopf auf und kroch weiter, wobei sie wie eine Eidechse den Körper wand und triumphierend kreischte:

      »Aha? Nein!«

      »Haltet sie!« rief Klims Mutter. Der Doktor löste sich schwerfällig von der Wand, hob seine Frau auf, legte sie auf das Bett, befahl irgend jemandem: »Geben Sie noch Handtücher!« und setzte sich dann zu ihren Füßen.

      Die Frau fuhr in die Höhe und stieß ihren Kopf gegen seine Backe. Er erhob sich mit einer heftigen Bewegung, und sie schlug von neuem dumpf auf den Fußboden. »Aha, aha!« röchelnd, machte sie sich daran, ihre Füße loszubinden.

      Klim versteckte sich im Winkel zwischen der Tür und dem Schrank. Wera Somow kauerte hinter ihm, legte ihr Kinn auf seine Schulter und flüsterte:

      »Das geht doch vorüber, nicht wahr, das geht vorüber?«

      Ljuba rannte mit Handtüchern an ihnen vorbei und wimmerte:

      »O Gott, o Gott!«

      Plötzlich fragte sie, mit dem Fuß aufstampfend, die Schwester:

       »Werka, bekommen wir keinen Tee?«

      Klims Mutter wurde auf den Lärm aufmerksam und rief streng:

      »Kinder, hinaus!«

      Sie befahl ihnen, Tanja Kulikow zu holen. Alle Bekannten dieses jungen Mädchens bürdeten ihr die Pflicht einer aktiven Teilnahme an ihren Trauerspielen auf.

      Die Kinder begaben sich in raschem Schritt nach dem Vorort. Klim schwieg bedrückt. Er ging hinter den Schwestern und hörte durch sein tiefes Entsetzen hindurch, wie die ältere Somow ihrer Schwester Vorhaltungen machte:

      »Mama ist verrückt geworden, und du schreist, ich will Tee haben!«

      »Halts Maul, du Drachen!«

      »Du bist gierig und schamlos.«

      »Und du willst vielleicht die Tugendhafte spielen?«

      Sie blieb stehen und schloß sich Klim an:

      »Ich gehe nicht mehr mit ihr, komm, laß uns spazierengehen.«

      Klim ging willenlos an ihrer Seite. Nach einigen Schritten sagte er:

      »Liebst du deine Mama?«

      Ljuba bückte sich, um das gelbe Blatt einer Pappel aufzuheben, seufzte und sprach:

      »Ich . . . ich weiß nicht. Vielleicht liebe ich überhaupt noch niemand.«

      Während sie mit dem staubigen Blatt ihre geschwollenen Augenlider rieb und ungeschickt stolperte, fuhr sie fort:

      »Vater klagt, es sei schwer, zu lieben. Einmal hat er sogar Mama angeschrien; versteh doch, Närrin, ich liebe dich ja! Siehst du?«

      »Was?« fragte Klim, aber Ljuba hörte seine Frage wohl nicht.

      »Und sie sind vierzehn Jahre verheiratet . . .«

      Klim fand, Ljuba redete dummes Zeug, und achtete nicht mehr auf ihre Worte, sie aber redete unaufhörlich fort, langweilig wie eine Erwachsene, und schwenkte dabei einen Birkenzweig, den sie vom Trottoir aufgenommen hatte, in der Luft herum. Ihnen selbst unerwartet, waren sie an das Ufer des Flusses getreten und ließen sich auf einem Stapel Balken nieder. Aber die Balken waren feucht, Ljuba beschmutzte sich ihren Rock, wurde unwillig und lief über die Balken zu einem Boot, das an ihnen festgemacht war. Sie setzte sich ans Steuer, Klim folgte ihr. Lange saßen sie schweigend. Ljuba betrachtete das verzerrte Bild ihres Gesichts im Wasser, schlug mit dem Zweig hinein, wartete, bis es im grünlichen Spiegel von neuem auftauchte, schlug wieder hinein und wandte sich ab:

      »Wie häßlich ich bin! Nicht wahr, ich bin häßlich?«

      Da sie keine Antwort erhielt, fragte sie:

      »Warum schweigst du?«

      »Weil ich keine Lust habe, etwas zu sagen.«

      »Daß ich häßlich bin?«

      »Nein, ich mag überhaupt nichts sagen.«

      »Du schämst dich einfach, die Wahrheit zu sagen«, beharrte Ljuba. »Aber ich weiß, daß ich garstig bin und einen schlechten Charakter habe. Das sagen Papa und Mama, beide. Ich muß ins Kloster gehen . . . Ich will nicht mehr hier sitzen!«

      Sie sprang auf, lief rasch über die Balken und verschwand. Klim saß noch lange am Steuer des Bootes und blickte ins trägfließende Wasser, niedergedrückt von einer öden Trauer wie er sie noch niemals empfunden hatte, wunschlos, durch seine Trauer hindurch ahnend, daß es nicht gut war, den Menschen zu gleichen, die er kannte.

      Die Mutter empfing ihn mit dem erschreckten Ausruf:

      »Herrgott, wie du mich ängstigst!«

      Klim schien, diese Worte galten nicht ihm, sondern dem Herrgott.

      »Hast