Lars Gelting

Tod eines Agenten


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auf dieser aufgeweichten, verdammten Schotterstraße wie ein Wesen aus einer anderen Welt.

      Und er raste darauf zu, unfähig, zu reagieren. Starrte nur auf das Wesen in seinem langen, weißen Gewand, auf den alten Korbkinderwagen, den es quer über die Straße vor sich herschob, im Regen, im Scheinwerferlicht, wie über eine Bühne.

      Dann schoss Panik in ihm hoch. Er schrie, schrie seine Angst heraus, riss das Lenkrad herum. Instinktiv, kein klarer Gedanke. Alles in ihm wollte fort von diesem Wesen, das ihm nun entgegensah, den Mund erschreckt weit aufgerissen, die Augen groß wie Wagenräder.

      Der schwere Wagen rutschte daran vorbei, zu nah, räumte irgendetwas mit dumpfem Aufprall zur Seite.

      Er spürte es, spürte diesen Aufprall geradezu schmerzhaft und stemmte den Fuß auf die Bremse. Stemmte das Pedal nieder mit dem Gewicht seines Körpers, umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen. Und dann riss es ihn hoch vom Sitz, als ein Baum seine Fahrt jäh stoppte.

      Das trockene Krachen, mit dem der Wagen an einer Fichte aufschlug, drang ebenso wenig in sein Bewusstsein wie das Auslösen des Airbags, der verhinderte, dass sein Kopf gegen den Holm oder die Scheibe krachte.

      Dann war Stille.

      Ein – zwei Sekunden lang saß er nur da, starrte ins Nichts. Kein Gedanke.

      Die Beifahrertür wurde aufgerissen. „Sind Sie okay?“

      Eine Frauenstimme. Die Innenbeleuchtung war angegangen, er konnte dennoch nur den dunklen Umriss einer Kapuze erkennen.

      ‚Die Frau auf der Straße‘!

      Erik war wieder da. Löste hastig den Gurt, strich mit schnellen Bewegungen kleine Glasbrocken von seiner Kleidung und kletterte über die Mittelkonsole und den Beifahrersitz nach draußen in den Regen. Alles ohne klaren Gedanken.

      „Sind Sie verletzt?“ Die Fremde stand im Dunkeln vor ihm, umgeben von dichtem Buschwerk und nur eine Armlänge entfernt. Nur ihren regentriefenden Wachsmantel konnte er erkennen. Zwischen den tropfenden Büschen hindurch sah er auf der Straße den vor sich hin brabbelnden Geländewagen, einen Range Rover.

      „Halloo – haben Sie sich verletzt?“ Sie sprach laut jetzt, beugte sich etwas vor, um ihn sehen zu können.

      „Ich habe eine Frau angefahren.“ Er ließ sie stehen, hastete an ihr vorbei zur Straße, zum Geländewagen.

      „Hier ist keine Frau.“ Sie hatte ihn eingeholt, sah ihn forschend an. „Außer uns beiden ist hier niemand.“

      „Doch, verdammt noch mal. Sie war hier. Genau hier.“ Seine Hand wies in einen Bereich der Straße, direkt vor den Geländewagen. Im Scheinwerferlicht waren noch die Spuren zu erkennen, die sein schleudernder Wagen im aufgeweichten Schotterboden hinterlassen hatten.

      „Genau hier. Eine große Frau in einem weißen Kleid. Sie schob einen Kinderwagen. So einen uralten kleinen Korbkinderwagen.“ Er sah sie an, sah ihre gefurchte Stirn. „Ja. Ich weiß, das hört sich alles verrückt an. Aber genau so verrückt war es auch. Und ich bin sicher, dass ich sie angefahren habe.“ Der Regen lief ihm in die Augen, er wischte, sah sie wieder an, eindringlich. „Ich habe den Aufprall gehört. Die muss hier irgendwo sein.“

      Unruhig, besorgt sah er sich um, suchte den Bereich ab, den die Scheinwerfer ausleuchteten. Aber da war nichts außer Pfützen, in denen dicke Blasen platzten. Er sah ihr Gesicht, ihren skeptischen Blick und ließ sie einfach stehen.

      Vor dem Geländewagen her hastete er durch den Matsch auf die andere Straßenseite. Seine Schuhe sanken ein im Morast. Er achtete nicht darauf, lief am Rand entlang, dort wo nasses Gras und kleine Sträucher sich in die Straße hineinfraßen. Suchte im schwachen Licht, suchte zwischen und unter den nassen Sträuchern. Seine Hände fuhren suchend über die durchnässten Taschen seiner Jacke: sein Smartphone. Er brauchte Licht. Er würde den hellen Kleidungsstoff erkennen – oder den Kinderwagen. Er sah nichts!

      Scheiße! Wo bist du? Der Druck in seiner Magengegend nahm zu. Er hatte einen Menschen angefahren.

      „Kommen Sie rüber! Hierher!“

      Er fuhr herum, sah ihr Smartphone auf der anderen Seite des Range Rovers im Regen blinken. Empfand ihre Stimme wie einen Stich.

      „Ist sie dort?“ Er war schon unterwegs. Sah die Fremde vorgebeugt am Rand der Straße, direkt neben der Stelle, an der er in den Wald gerutscht war.

      „Hier unten, unter dem Busch.“ Sie richtete sich auf. „Ich denke, sie ist nicht durch den Unfall hier gelandet. Die hat sich hier verkrochen.“

      Das Licht ihres Smartphones schwenkte kurz zu ihm herum, als er näherkam; über ihnen flogen in der Dunkelheit einige Vögel aufgeschreckt davon.

      „Das ist Lotta. Ich habe es schon befürchtet, als Sie so fest davon überzeugt waren, hier eine Frau gesehen zu haben.“

      „Was meinen Sie?“ Erik wischte sich den Regen aus dem Gesicht, versuchte sie anzusehen, ihr Gesicht genauer zu erkennen.

      Das Licht war wieder nach unten gerichtet, leuchtete in den Straßengraben, unter wucherndes Buschwerk und erfasste etwas Helles. Etwas, das hier ganz klar nicht hingehörte. Das war sie.

      Wie ein scheues Tier hockte sie, vom Licht erfasst, im knietiefen, nassen Graben. Ein großes, verwundetes Tier in einem schmutzig-weißen Gewand mit überlangen grauen Haaren und einem alten Gesicht, das ihnen mit großen, dunklen Augen entgegensah; Lotta hatte Angst. Weit nach vorn gebeugt wiegte ihr Körper langsam vor und zurück. Ihre Arme hielt sie vor der Brust, presste dort irgendetwas gegen den Körper.

      Er schob die Zweige des Busches zur Seite. Merkte nicht, dass ihm der Regen und ein dünnes Rinnsal Blut jetzt auch in die Ärmel liefen. Er musste näher heran. Ging in die Hocke, um genau sehen zu können.

      „Lotta ist ein armes Ding. Sie lebt in ihrer eigenen Welt – und in der Welt von Lasse. Das sind gleich zwei Gottesstrafen.“

      Die Frau beugte sich mit ihrem Smartphone herunter, näher an Lotta heran.

      „Sie wohnt da vorn, in dem kleinen Haus.“ Ihre Hand wies flüchtig in die Richtung, in der er das Haus auch gesehen hatte.

      „Lotta?“ Vorsichtig und eher rutschend stieg er zu ihr hinunter in den Graben. Sah, dass sie eine Bewegung machte, als wollte sie aufstehen, vielleicht vor ihm fliehen. Sie zog das Bein an, versuchte sich von ihm weg zu drehen. Aber das Ergebnis war lediglich ein abgehacktes Stöhnen. Etwas hinderte sie daran, die Bewegungen richtig auszuführen. Er blieb, wo er war, beugte sich nur zu ihr herunter.

      „Lotta, du musst keine Angst haben. Ich will dir helfen. Tut dir etwas weh? Hast du Schmerzen?“

      Aber Lotta wimmerte nur leise vor sich hin, schaukelte langsam vor und zurück. Sie hatte den Kopf tief zwischen ihre Schultern gezogen, starrte ihn mit ihren großen, dunklen Augen von unten herauf an. Er fühlte Mitleid mit diesem schutzlosen Wesen und er fühlte sich hilflos. Sah, wie der Regen unaufhörlich an ihr herunterlief, an ihren langen Haaren herunter und über ihr Gesicht. Ein merkwürdig altes Gesicht.

      „Lotta, dein Kind. Was ist mit deinem Kind?“

      Augenblicklich saß Lotta ganz still. Dann, als habe er sie an etwas Wichtiges erinnert, riss sie Mund und Augen erschreckt auf. Sah ihm mit brennendem, stechendem Blick fest in die Augen. Unvermittelt zog sie das, was sie in den Armen hielt, mit einem Ruck bis zum Kinn hoch und beugte sich dann schützend weit darüber.

      „Baby!“ Sie stieß es heraus, dumpf, unter Anspannung. Schaukelte aufgeregt vor und zurück. Unversehens dann ruckte sie auf dem nassen Boden herum. Jammerte auf, mehrmals, abrupt, und versuchte in mehreren Anläufen aufzustehen. Endlich blieb sie wimmernd und wieder in sich gekehrt sitzen. Er konnte sie nicht erreichen.

      „Sie hat kein Kind. Sie hält eine Puppe, eine alte Puppe.“ Erik richtete sich langsam auf, wischte sich über das Gesicht. „Mein Gott. Eine Puppe.“ Erschöpft zog er sich an herunterhängenden Ästen aus dem Graben.

      „Sieht aus, als hätte sie sich was