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      Das Buch: Protagonistin ist Klara, die sich tapfer und meist allein durchs Leben schlägt, aber immer wieder auf der Suche nach ihrem Johannes ist – konkret oder virtuell, und zwar in Zeiten großer seelischer Not, wie sie selbst erkennt.

      Klara ist beruflich erfolgreich, scharfzüngig und in ihren Freundschaften etwas sperrig, aber gern Gastgeberin und dort, wo sie Zuneigung verspürt, auch großzügig und liebevoll.

      Die Autorin: Gitta Behrends wurde in einer Kleinstadt am Niederrhein geboren und hat Germanistik und Geschichte an der FU Berlin studiert. Sie arbeitet seit vielen Jahren im Kulturbereich und kann auf zahlreiche Veröffentlichungen im Kunst- und Kulturbereich sowie auf Erzählungen in Anthologien von (Frauen-) Verlagen zurückblicken.

      Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Berlin.

      1. KAPITEL

      1.

      September 2021

      Da taucht er schon wieder auf meinem Bildschirm auf, wie seit Monaten jeden Morgen: der dünne kleine Kerl mit der Zahnlücke. Noch vor den Nachrichten aus aller Welt und dem Wetterbericht für Berlin. Doch was er zu verkünden hat, rückt schlechtes Wetter in den Hintergrund. Seine Botschaften sind klar und müssten vom Dümmsten verstanden werden. Das schätze ich an Johannes, diese Klarheit. So war er schon als Kind.

      Ich heiße Johannes. Darf ich deine Schultasche tragen?

      Und ich sehe auch, dass er immer noch gern lacht, obwohl seine Prognosen so düster sind. Die Kontakte, die er sucht, machen mir deutlich, dass er nicht in einem Meer aus Tränen versinken wird oder mit dem Gedanken spielt, sich vor einen ICE zu werfen. Warum auch? Die Nachrichten aus aller Welt, die ich mir jeden Morgen reinziehe, deprimieren auch mich und ich wundere mich: Wie armselig muss ein Mensch sein, der den Ehrgeiz entwickelt, durch Barbarei größer zu werden? Aber bislang sammle ich keine Tabletten, um sie, in Alkohol aufgelöst, mit einem letzten Prost auf die Welt mir einzuverleiben. Warum also sollte Johannes das tun? Er befindet sich immerhin in einem Metier, in dem er sich auskennt und wohlfühlt und nicht nur mit-, sondern gar vorreden kann.

      Warum Johannes damals den Kontakt zu mir suchte, weiß ich nicht. Ich bekam als Kind den Mund kaum auf, weil ich sehr schüchtern war. Vielleicht hatte er die Neigung, schüchterne Mädchen aufzuheitern. Vielleicht fand er mich einfach nur hübsch. Obwohl ich nicht glaube, dass es so einfach ist im Leben: einen Menschen hübsch/gut aussehend zu finden und in der Fortsetzung der Betrachtung, in einem vorgeschritteneren Alter als in einem kindlichen, als unwiderstehlich sexy. Und dann eine alles überwältigende Lust zu empfinden, sich mit diesem Menschen zu verbinden. Das würde zum Beispiel eine Völkerwanderung von Frauen auslösen auf den Sexiest Man Alive. Es muss etwas anderes geben, etwas Wesentlicheres, die Lust auf einen Menschen zu wecken, sonst hätte Johannes mich in unserem kindlichen Alter nicht angesprochen und mir angeboten, meine Schultasche zu tragen, um mich in die Schule zu begleiten.

      Jahrelang hatte ich nicht mehr an ihn gedacht. Bis er dann, während eines verlängerten Wochenendes, das ich auf meinem Sofa verbrachte, mir wieder einfiel. Er war ausgelöscht aus meiner Erinnerung an eine Kindheit, als ich sechs, sieben Jahre alt war und in die erste oder zweite Schulklasse ging. Johannes mag damals eine, vielleicht zwei Klassen über mir gewesen sein. Jedenfalls saß er nicht in meiner Klasse, denn sonst hätte er mein Leben vielleicht nachhaltiger geprägt und wäre nicht zu einer Erinnerung verblasst, die erst viele Jahre später wieder lebendig wurde. Er hätte vielleicht immer wieder von der linken Schulklassenseite, in der die Jungs saßen, zu mir in die Mädchenseite herübergeschaut und mich – ungehemmt ob seiner Zahnlücke – angestrahlt. Vielleicht hätte er aber auch mit einem Bein nervös gewippt, wie das viele Jungs taten und was ich schon als Kind nicht leiden konnte.

      So aber, mit einem Altersunterschied von ein, zwei Jahren, gab es da nur den gemeinsamen Schulweg und den auch nur einmal. Allerdings sah ich ihn noch einige Male auf dem Pausenhof unserer Schule. Er spielte ausgelassen mit anderen Jungs Fußball in einer abgelegenen Ecke des Hofes. Ballspiele waren zwar nicht erlaubt, aber das Aufsichtspersonal blickte großzügig über das Verbot hinweg, wenn keine Gefährdung für andere Kinder bestand.

      Dann sah ich Johannes nicht mehr. Ich weiß nicht, ob er auf das Gymnasium wechselte. Wenn es so war, dann muss er zwei Klassen über mir gewesen sein. Also auch zwei Jahre älter.

      Darf ich deine Schultasche tragen?, hat er mich also gefragt und mich dabei angelacht. Er muss sich auch vorgestellt haben, denn warum sonst konnte ich mich viel später an seinen Namen noch erinnern. (Der Name irgendeiner biblischen Gestalt, musste ich nur kurz überlegen, bis er mir wieder einfiel. Und sofort fiel mir auch sein Nachname ein. Wie aneinandergekoppelt in meinem Gedächtnis – sein Vor- und sein Nachname.) Ich heiße Johannes, sagte er damals und wird mich gefragt haben, wie ich denn heiße. Vorstellbar, dass ich ihm meinen Namen leise genannt habe, den kurz und bündigen Vornamen Klara. Weitergegeben von meiner Großmutter, die auch meine Patin war und auf die Vererbung ihres Vornamens an ihr erstes Enkelkind bestand. Dankbar war ich für das Erbe nicht, es klang für mich immer nach Oma.

      Vorstellbar aber auch: Ich habe ihm meinen Namen nicht verraten.

      Ich weiß nicht, ob ich Johannes meine Schultasche zum Tragen überlassen habe. Warum auch? Sie war leicht. Sehr viel leichter als zum Beispiel die Taschen, die Kinder heute zu schultern haben. Sie zog mich keineswegs zu Boden. Und selbst wenn sie es getan hätte: Es war meine Schultasche, auf die ich zu achten hatte. Was ich weiß, ist: Ich habe den Weg in die Schule gehasst.

      Weil er mich zur Schule führte.

      Ein vieljähriges Elend, aus dem ich mich erst mit Beginn der Pubertät durch ein ziemlich clowneskes Verhalten erlösen konnte. Noch fand ich innerhalb des Klassenzimmers keine Sprache. Meine albernen Aufführungen drückten sich eher in Grimassen und schnell gebastelten Accessoires aus: eine dicke rote Schleife um meinen Hals gebunden; Eselsohren aus Papier, die ich meinen ohnehin schon großen Ohren überstülpte. Und noch immer wurde meine Mutter von Zeit zu Zeit in die Schule zitiert, um zu bestätigen, dass ich meine Hausaufgaben selbst erledigte. Vor allem meine Aufsätze: Wer schrieb sie für mich? Es war dem Lehrpersonal unverständlich, dass ein Kind, das während des Unterrichts nicht sprach, selbst auf nachdrückliche Forderungen oder auf ein flehendes Bitten hin den Mund nicht öffnete, dass ein solches Kind rechnen und schreiben konnte.

      Nun aber fand ich Freundinnen in der Schule. Mädchen, die sich sogar von ihren Busenfreundinnen trennten, um mich zu begleiten. Ich war unterhaltsam geworden – lustig und frech. Und endlich sprach ich auch, wenn auch immer noch nur außerhalb des Klassenzimmers. Was ich meinen neu gewonnenen Freundinnen erzählte, strotzte nur so vor Übertreibungen und Unwahrheiten. Aber wem machte das etwas aus? Nicht unserer kleinen Mädchengruppe, die sich nach Schulschluss gemeinsam auf den Weg nach Hause machte.

      Warum ich mich so viele Jahre später an Johannes erinnerte: Es war seine Selbstverständlichkeit, sich einem anderen Menschen, der ihm gefiel, zuzuwenden. Ich hätte mich das nie getraut. Und an sein freundliches Lachen habe ich mich erinnert. Und natürlich an seine Zahnlücke. Ich hatte zwei.

      Vielleicht überließ ich dem Johannes aber doch meine Schultasche. Denn warum sonst hätte meine Mutter, die uns auf dem Hinweg zur Schule beobachtet haben musste, nicht so überaus belustigt meinem Vater nach meiner Rückkehr aus der Schule verkündet haben: Klara hat einen Kavalier! In dem Moment war mein Status als Dame mit einem Kavalier auch schon Vergangenheit.

      Die fängt ja früh an, wird mein Vater gedacht oder gesagt haben. Kochend vor Wut. Sofortiges Einschreiten war nötig. Wie er den Kontakt unterbunden hat, weiß ich nicht, jedenfalls nicht wie ein paar Jahre später. Da war ich neun oder zehn Jahre alt und somit noch gefährdeter als im Alter von sechs, sieben Jahren.

      Wir waren zu der Zeit in einen Neubau gezogen, raus aus der barackenähnlichen Unterkunft, in der wir zusammen mit den Großeltern gelebt hatten. Aus unserer neuen Wohnung, die im vierten Stock lag, hatten wir einen weiten Überblick über die Straße, in der wir nun zu Hause waren. Aus dem Küchenfenster heraus wird mein Vater mich entdeckt haben (ja, ich stand unter fast ständiger elterlicher Beobachtung), als ich in einer kleinen Gruppe aus dem Freibad kam. In der Gruppe befand sich auch ein Junge, der nach Ansicht meines Vaters nur mich meinen konnte als das Objekt seiner Begierde. Was so falsch