Brigitte Pyka-Behrends

Johannes Wiedergänger


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Bildungsweg.

      2.

      Nach drei Jahren hielt ich mein Abiturzeugnis in der Hand und nach weiteren zweieinhalb Jahren besaß ich einen akademischen Grad in Betriebswirtschaft. Dieser Weg war vorgezeichnet gewesen: nach der Hauptschule ein zweijähriger Besuch der Handelsschule; viele Abendkurse in der Finanzbuchhaltung. Einige Jahre hatte ich als Sekretärin gearbeitet (Assistentin der Geschäftsführung sagte man damals noch nicht); dann, als Finanzbuchhalterin eines Kulturzentrums, konzentrierte ich mich wieder auf Zahlen, die mich weit weniger beanspruchten als das gut gelaunte Gequatsche meiner Kolleginnen (die Männer waren zurückhaltender – ohne Verständnis für den Humor oder Galgenhumor der Frauen, könnte ich auch formulieren) oder die Konkurrenzkämpfe in den Büroräumen – oft sehr subtil geführt, aber von den Gesichtern ablesbar. Als Buchhalterin hast du immer einen eigenen Raum und kannst dich hinter den Zahlen verstecken.

      Nach Abschluss des Studiums packte ich meinen Koffer und fuhr mit dem Zug nach Italien. Ich hatte mir eine Auszeit von ein paar Wochen verdient nach fünfeinhalb Jahren des Lernens. Warum Italien? Nun ja, damals gab es die Vorstellung, in Italien ließe es sich besser leben als in Deutschland. Irgendwie immer dolce vita; ewige Sonne (bis auf den sternenklaren Himmel der Nacht); das Mittelmeer von jedem Ort in Italien in Blitzesschnelle erreichbar. Ein ganz anderes Miteinander der italienischen Menschen als das der Menschen in Deutschland: mehr Leichtigkeit, mehr Lebensfreude, mehr Spontaneität; Musik und Tanz und ein lebenslang währender Gesang auf die Schönheit der Welt und die Liebe. Für mich kam hinzu: Ich mochte die italienische Sprache. Schon während des Studiums hatte ich angefangen, Italienisch zu lernen. Eine Kommilitonin, eine Italienerin, die seit ein paar Jahren in Berlin lebte, hatte zwar fleißig deutsche Vokabeln gelernt, doch ihre Grammatik war miserabel. Von einer korrekten Grammatik war ich geradezu besessen, während ich ungern Vokabeln lernte. Und so ergänzten Simonetta und ich uns wunderbar. Ich gab ihr Nachhilfeunterricht in deutscher Grammatik und erhielt von ihr fast nebenbei einen größeren Wortschatz an italienischen Substantiven und Adjektiven.

      Drei Wochen wollte ich in Italien bleiben. Ich blieb ein halbes Jahr. Gut einen Monat in Bologna, um an einer Sprachschule mein Italienisch aufzupäppeln und dann, in den ersten Tagen des Frühlings, setzte ich mich wieder in einen Zug und fuhr ans Meer, nahe Ravenna. Ich mietete ein kleines Appartment mit Meerblick und war vorläufig damit beschäftigt, stundenlang am Strand spazieren zu gehen. Das Geld ging mir so langsam aus, aber zurück nach Berlin wollte ich noch nicht. An einer Strandbar fand ich einen kleinen Aushang: Dolmetscherin – Deutsch/Italienisch – für Appartmentagentur gesucht. Die Agentur lag nur wenige Schritte von der Bar entfernt. Also ging ich hin, stellte mich vor und wurde gebeten, gleich dazubleiben, weil Touristen aus Deutschland erwartet wurden. Eine Dolmetscherin war ich nun keineswegs, denn meine Italienischkenntnisse waren immer noch rudimentär. Aber der Leiter der Agentur war zufrieden mit unserer kleinen Unterhaltung, ich gab mich zufrieden mit der Bezahlung, und so blieb ich den Sommer über in Lido Adriano.

      In Italien machte ich eine für mein künftiges Leben ganz wesentliche Erfahrung:

      nämlich alles tun zu dürfen, wohin es mich gerade zog. Allerdings hatte ich auch immer die Konsequenzen meines Handelns selbst zu tragen. Denn nicht jeder Spaziergang, abends, allein am Meer, lief glimpflich ab. Nicht einmal jede Bahnfahrt zwischen Ravenna und Bologna tat es. (Ich fuhr alle paar Wochen nach Bologna, um dort Bekannte zu treffen, die ich in der Sprachschule kennengelernt hatte und um Geld abzuholen oder einzuzahlen. Ich hatte in Bologna ein Konto bei einer Bank angelegt.) So im Vorübergehen eine fremde Hand auf meiner Brust zu spüren, war noch die harmlosere Variante eines unerwünschten Kontaktes. Von einer Männergruppe eingekesselt zu werden, war bedrohlicher. Die fremde Hand auf meiner Brust konnte ich wegschlagen, es waren immer auch andere Passanten oder Bahnreisende in der Nähe, die mir hätten beistehen können. Aber einem Pulk von Männern zu begegnen zu späterer Stunde, der gerade mal so drauf war, eine Frau einzuschüchtern, war schlimmer. Doch ich überlebte, weil ich Tricks kannte, mich zu wehren und blieb dank meines eigenen Beistands heil. Im Übrigen erlebte ich das sogenannte Einkesseln auch einmal in Kreuzberg. Da einer aus dieser Gruppe mich erkannte als Mitarbeiterin eines Kulturzentrums, forderte er seine Kumpane auf, sich gemeinsam zurückzuziehen.

      Ende September, als die Touristensaison zu Ende ging, brach ich auch meinen Aufenthalt in Italien ab und stieg in den Zug nach Berlin. Ich bewarb mich auf eine Stelle als Verwaltungsleiterin in einer senatsgeförderten Einrichtung, die treuhänderisch finanzielle Mittel verwaltete für gemeinnützige Vereine im Osten der Stadt. Die Mauer war gefallen. Zwar konnte ich in meiner neuen Position Kontakte zum sonstigen Personal nicht vermeiden, sie füllten hochprozentig meinen Arbeitstag, aber ich hatte gelernt, meine Ohren auf Durchzug zu stellen und verständnisvoll zu nicken, wenn Ansprüche erhoben wurden, die ich nicht erfüllen konnte. Es blieb aber ein starkes Bedürfnis nach einem isolierten Arbeitsbereich, in dem ich mich hingebungsvoll Zahlen und Wörtern zuwenden konnte, ohne immer wieder gestört zu werden durch Menschen, die ihre Wünsche, die über ihre eigentliche Arbeit hinausgingen, doch gefälligst in ihrem Privatleben unterzubringen hatten. Ich nahm da eine strikte Trennung vor. Ein paar Jahre später, kurz bevor Covid 19 die Welt in den Klammergriff nahm, kam ich mit einem entschlossenen Schritt endlich meinem Bedürfnis entgegen.

      Die Wünsche des Personals waren vielfältig. An erster Stelle immer: mehr Gehalt. Was der BAT mit seinen Stellenbeschreibungen zu einer festen Gehaltsklasse aber nicht zulässt. Oder es wurden ambulante Mittagessen gewünscht: mal vom Italiener, dann vom Thai oder Chinesen und so fort. Gewünscht wurde auch ein gemeinsames Mittagsessen im Besprechungsraum, um das kollegiale Miteinander zu fördern. Da ein Teil des Personals aus der ehemaligen DDR kam, lernte ich, wie viel besser die Arbeitsbedingungen hinter der Mauer gewesen waren: Frau konnte ruhig mal für eine Stunde verschwinden, um ein Schläfchen in einer ruhigen Ecke zu halten. Überhaupt: Warum gab es hier in dieser Einrichtung keine Liege? Kein Sofa, auf dem eine menstruierende oder eine im Klimakterium sich befindende Frau ein bisschen ausruhen konnte – eine Forderung, die ich aus der frühen Zeit meines Berliner Lebens kannte. Ich glaubte, ihren Schwanengesang schon längst gehört zu haben, doch nun tauchten Forderungen dieser Art wieder auf. Ich verstand diese Ansinnen nicht, die sich auf luxuriösen Nebenschauplätzen aufhielten, wie ich fand. Wenn es mir nicht gut ging, legte ich mich nach Feierabend auf mein Sofa oder in die Badewanne und ich lud auch keine gute Freundin ein, mir Gesellschaft zu leisten auf einem Hocker neben der Wanne mit einem Gläschen Prosecco in der Hand bei romantischem Kerzenlicht. Das schönste Erlebnis einer meiner Mitarbeiterinnen, das sie mir eines Morgens mit feuchten Augen anvertraute. Baby, dachte ich, was willst du mir eigentlich sagen? Dass ich dich jeden Morgen erst einmal abbusseln sollte, bevor du an deinem Schreibtisch Platz nimmst? Glaubst du wirklich, dass Menschen, die weniger als deine hundertundzwanzig Kilo auf die Waage bringen, zwangsläufig auch weniger Probleme haben?

      Und wann fände endlich mal ein Betriebsausflug statt wurde gefragt – ins Grüne der Uckermark oder für ein paar Tage an die Ostsee? Vielleicht habe ich bei dieser Forderung etwas Aufklärung geleistet: Unsere Einrichtung würde ja erst seit einem halben Jahr bestehen und wahrscheinlich nach zwei, drei Jahren wieder geschlossen werden, wenn der Senat im eigenen Haus die personelle und räumliche Möglichkeit zu einer unmittelbaren Verwaltung der Vereine geschaffen hätte. Vielleicht könnten wir nach Auflösung unserer Interimsverwaltung an eine kleine gemeinsame Reise denken, bei eigener Finanzierung natürlich, schlug ich vor.

      Eine Mitarbeiterin warf mir vor, mich wie ein Stück nasser Seife zu verhalten, das einem immer wieder durch die Hände flutscht. Ob ich mich nicht mal auf das Asperger-Syndrom untersuchen lassen wolle?

      Nein, wollte ich nicht. Ich habe nichts gegen Menschen mit dem Asperger-Syndrom. Das Bedürfnis, sich immer wieder einen Kokon um das eigene Leben zu spinnen, finde ich sehr nachvollziehbar. Und überhaupt: Wenn es mich an die Ostsee zog, dann packte ich am Wochenende meinen Rucksack und fuhr an die Ostsee. Dann lief ich nicht vorher zu meiner Geschäftsführerin und bat darum, meinen Ausflug zu sponsern. Und wenn ich die Uckermark erkunden wollte, dann kaufte ich mir ein kleines Auto und unternähme damit Spritztouren im Frühling und Sommer, vorbei an blühenden Feldern mit Klatschmohn und Kornblumen oder an Meeren von Rapsfeldern und hielt vielleicht Ausschau nach einem kleinen Ferienhaus zum Erwerb. Und genau so machte ich es auch. Fuhr mit dem Zug an die Ostsee und kaufte mir später, nach Jahren als U-Bahn-Nutzerin,