Brigitte Pyka-Behrends

Johannes Wiedergänger


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vor allem während und nach der 68er Bewegung geschah.

      Ich ging mit Johannes spazieren, jetzt, hier entlang des Flusses. Hand in Hand. Ich war sechzehn, Johannes achtzehn Jahre alt. Es hatte solche Spaziergänge wenn auch nicht am Fluss entlang, während meiner Teenagerzeit gegeben. Hand in Hand. Mit dem einen jungen Mann über ein paar Wochen jeden Sonntag, mit dem anderen alle paar Wochen mal sonntags. Meine Scheu vor einer körperlichen Begegnung, die über das Händchenhalten hinausging, war unüberwindbar. Wäre es mit Johannes anders gewesen? Ein vorstellbarer Dialog zwischen uns:

      Klara, ich möchte dir gern einen Kuss geben. (Er lächelt mich an, nicht verschmitzt, sondern hingebungsvoll.)

      Ich: warum? (Den Blick gesenkt, meine Hand in seiner schwitzt.)

      Er: Weil ich wissen möchte, wie du schmeckst. (Er wendet seinen Oberkörper mir zu, leicht gebeugt, denn er ist etwas größer als ich, und vielleicht nimmt er meinen Kopf , der wie meist in Richtung Boden gesenkt ist, in seine Hände …)

      Und bevor ich in diesem Augenblick die Liste all meiner eventuellen körperlichen Unzulänglichkeiten abgearbeitet habe (vielleicht habe ich Mundgeruch; vielleicht habe ich einen Popel am Nasenausgang, vielleicht sieht er jetzt, dass ich zwei Zahnlücken habe), tut er es einfach und setzt einen zärtlichen Kuss auf meine Lippen.

      Nicht, dass er dafür einen wie auch immer gearteten Blick (verwundert? erschrocken? beglückt gar?) von mir geerntet hätte – oh, davon war ich noch Lichtjahre entfernt, einem Mann in die Augen blicken zu können. Aber vielleicht … Vielleicht hätten wir daran arbeiten können und noch zu unseren frühen Lebzeiten einen Erfolg gehabt. Doch Johannes war nicht mein Psychotherapeut und der Spaziergang mit ihm am Flussufer fand auch nicht statt. Eine tieftraurige, aber schöne Sehnsucht hatte mich begleitet. Das war ja auch etwas. Ich kehrte zurück ins Altenheim zu meiner Mutter oder in mein kleines Appartement.

      Wiederholte ich bei späteren Besuchen in meiner Heimatstadt den Spaziergang am Fluss? Ich kann mich nicht daran erinnern. Obwohl die Besuche bei meiner Mutter mit den Jahren immer langweiliger und frustrierender wurden, blieb ich bei meinem Vorsatz, sie viermal im Jahr zu besuchen über jeweils eine Woche. Bei einem dieser Besuche bat sie mich, wieder zu gehen, weil im TV gerade eine so schöne Volksmusik lief. Ich war von Berlin aus sechs Stunden mit der Bahn gefahren, zwanzig Minuten mit der Straßenbahn, eine halbe Stunde mit dem Bus, dann noch einen Fußweg von einer halben Stunde bis zu ihr ins Heim mit einer schweren Reisetasche zurückgelegt, die auch Geschenke für sie enthielt. Und sie schickte mich wieder weg. Natürlich wusste ich um ihr kopfloses Handeln, aber auch ein in die Jahre gekommenes, verständnisvolles Kind bringt seiner Mutter immer noch Gefühle entgegen, die eine Erwiderung erwarten oder zumindest einen höflichen Empfang. Mir wurde klar, ich musste meinen Aufenthalt bei ihr modifizieren, um nicht bei einem nächsten Mal verbal auszurasten.

      Der nächste Besuch stand für den Herbst an. Ich wollte einen größeren Umweg machen, bevor ich, wieder einmal außer Puste, aber doch freudig erregt, meiner Mutter gegenüberstand und dann eventuell wieder weggeschickt wurde, weil sie es vorzog, schöne Volkslieder zu hören. Ich buchte also eine kleine Reise auf dem Rhein. Ich liebte Wasser, ich liebte Schiffsreisen, ich war noch nie in Köln gewesen. Höchstens auf der Durchreise irgendwohin. Für eine Nacht ließ ich mir ein Hotelzimmer mit Blick auf den Kölner Dom reservieren. Das war ein Reisen zu meiner Mutter ganz anderer Art als alle Reisen vorher. Ich empfand mich geradezu als abenteuerlustig, obwohl es nur um eine kleine Schifffahrt ging. Aber auch die dauerte ein paar Tage. Und bevor ich meiner Mutter wieder begegnete, hätte ich sicher neue Eindrücke gesammelt, die mich ihre Schrullen besser ertragen ließen.

      5.

      Als ich am Kölner Hauptbahnhof eintraf, regnete es in Strömen. In Berlin war ich am Vormittag bei freundlichem Sonnenschein in den Zug gestiegen und hatte mir während der Zugfahrt ausgemalt, auf den Rheinterrassen gemütlich eine Kleinigkeit zu essen, Kaffee zu trinken und den unvergleichlichen Blick auf Rhein und Dom zu genießen – so wie mein Reiseführer es mir vorgeschlagen hatte. Daran war gar nicht zu denken. Also suchte ich schnell mein Hotel auf, um meine Reisetasche unterzustellen und zog mit kleinem Rucksack und Regenschirm wieder los, um wenigstens einige der must see sights mitzunehmen: den Dom, die Altstadt, den Bayenturm. Auf diese kleine Auswahl beschränkte ich mich am späten Nachmittag, um meiner Jeans Zeit zu geben, bis morgen früh um sechs Uhr zu trocknen. Ich ließ mir einen Imbiss aufs Zimmer bringen. Nachdem ich geduscht und meine Haare geföhnt hatte, schaltete ich den Fernseher ein und setzte mich aufs Bett. Das war auch gemütlich, wenn es auch nicht die Rheinterrassen waren.

      Am nächsten Morgen regnete es noch immer. Es war auch ziemlich kalt für Oktober und ich fragte mich, ob ich mir für eine Schifffahrt die richtige Jahreszeit ausgesucht hatte. Als ich dann meinen Blick über die wartende Menge der Passagiere an der Anlegestelle schweifen ließ und feststellen musste, wohl die einzige Alleinreisende zu sein, kam ich leicht panisch drauf. Auf all meinen Reisen hatte ich fast immer und sehr schnell eine Gleichgesinnte gefunden, die auch Ausschau hielt nach einer Solo-Reisenden, mit der sie sich ein wenig unterhalten und den Tisch teilen konnte beim Frühstück und beim Abendessen. Doch hier: außer mir nur Gruppen und Grüppchen und Paare. Kinder sah ich nicht. Die Gruppen dominierten die Stimmung, sobald es über die Gangway an Bord ging. Fläschchen wurden ausgepackt und reihum verteilt und man ließ es so richtig knallen, als käme man nach langer Kerkerhaft endlich wieder an die frische Luft. Yippiiie, und selbst fahren musste man auch nicht, man wurde geschippert.

      Ich versuchte freundlich-interessiert auszusehen, um nicht von Anfang an als die alleinreisende arrogante Zicke zu gelten. Ich hatte meine Erfahrungen gemacht, und es konnte höchst unangenehm werden für mich, wenn angetrunkene Menschen sich durch meinen Gesichtsausdruck kritisiert fühlten. Dann konnte die Stimmung sehr schnell umschlagen von bodenloser Heiterkeit in bodenlose Angriffslust: Was ist denn mit der los? Spaßbremse, was? He, du, lach doch mal! Schon lange nicht mehr flachgelegt worden, was? Komm mal her, ich zeig dir was Schönes!

      Alles schon erlebt, also freundlich-interessiert hin- oder ganz neutral wegsehen.

      Vor mir stritten sich Mutter und Tochter um den Sinn dieser kleinen Reise. Das heißt, die Tochter stritt, die Mutter stieß hin und wieder ein gequältes ach, Ulla, sei doch bitte nicht so, hervor. Die Tochter war um die fünfzig Jahre alt, die Mutter würde morgen achtzig werden, hörte ich, und die Schifffahrt über den Rhein war das Geburtstagsgeschenk für die Frau Mama. Was sich jetzt als viel zu großzügig von der Tochter gedacht herausstellte. Denn die hatte schon auf Yachten das Mittelmeer durchkreuzt, mehrmals, und auf Segelschiffen sich einen frischen Wind um die Nase blasen lassen auf den Ozeanen dieser Welt. Und jetzt das hier: anstehen in einer langen Schlange, um sich von einem tranigen Stewart Tisch und Stuhl im Bordrestaurant für die nächsten Tage zuteilen zu lassen. Wäre sie doch bloß nicht so gutmütig und großherzig, dann könnte sie jetzt zu Hause auf der Terrasse sitzen und relaxen. Ach, Ulla, seufzte die Mutter, sei doch nicht so.

      War ich selbst auch so? Wie Ulla?, fragte ich mich, während das Zetern der Gewitterhexe auch auf mich niederprasselte. Reagierte ich in der länger zurückliegenden Vergangenheit auch so ungeduldig, wenn meine Mutter einen Wunsch äußerte oder mir auch nur den Inhalt einer aktuellen Sendung von Kommissar Rex erzählen wollte? Ja, auf den Hund Kommissar Rex konnte ich tatsächlich sehr unwirsch reagieren. Aber auf die Wünsche meiner Mutter war ich doch immer und immer eingegangen. (Konditorn mit ihr im Restaurant des Kaufhofes unserer kleinen Stadt. Arm in Arm dahin. Einmal in der Woche wünschte sich meine Mutter meine Begleitung, wenn ich aus der Handelsschule nach Hause kam. Für sie war das ein Ausflug in den reinen Luxus, während wir Arm in Arm uns aufmachten und sie glücklich ihre Handtasche schlenkerte.)

      Später ging es um Spaziergänge oder kleine Wanderungen. Ich schlug sie auch selbst vor, wenn ich auf Besuch bei ihr war und merkte, sie fiel wieder in ein tiefes Loch, wie so oft nach dem Tod meines Vaters. Ich zog sie aus ihrem Sessel und bevor wir die Wohnung verließen, legte ich ihr eine Strickjacke um die Schultern und bot ihr vor dem Haus meinen Arm an. Nein, so wie Ulla hatte ich meine Mutter nie behandelt, und ich war mir fast sicher, zu Hause, in den eigenen vier Wänden, würde auch sie ihre Mutter nicht so angehen wie jetzt hier auf dem Schiff. Ulla bot ein Schauspiel, und das Schauspiel galt mir. Sie stellte sich einfach nur vor: Hallo, ich bin Ulla, glaub bitte nicht, meine