Brigitte Pyka-Behrends

Johannes Wiedergänger


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Leben in Berlin.

      Mir ging es gut. Oder sagen wir mal: relativ gut. Denn immer wieder hätte ich gern einen Partner an meiner Seite gehabt, um mit ihm gemeinsam die schönen Bilder der Uckermark, die an den Fenstern meines Autos vorbeizogen, genießen zu können: Guck mal, wie wunderbar, dieses Ballett des Weizenfelds im Wind! (Er hätte mich auch korrigieren dürfen: kein Weizen, sondern Roggen.) Und ich hätte auch gern einen Partner an meiner Seite gehabt, um mit ihm gemeinsam das kleine Haus zu renovieren. Ich stellte zwar fest, über körperliche Kräfte zu verfügen, von denen ich bislang nichts geahnt hatte. Aber ich stieß auch an Grenzen. Zum Beispiel als ich einen wuchtigen zweiteiligen Küchenschrank aus den fünfziger Jahren auseinandernehmen wollte. Ich schaffte es zwar irgendwie, mit einer Konstruktion aus Küchenstühlen und ein paar Wolldecken, das Oberteil des Schranks Zentimeter für Zentimeter auf die Stuhllehnen zu schieben, wobei nicht mal die Glastüren der oberen Schrankhälfte zu Bruch gingen. Doch das Ergebnis war: Nun standen da zwei Hälften des Mammutteils herum, die ich nicht zu entsorgen wusste. Ich ging immer nur Schritt für Schritt vor, ohne mir über die Konsequenzen Gedanken zu machen. Das verbot ich mir, denn hätte ich das getan, wäre Kapitulation die Konsequenz meiner innerhäuslichen Neugestaltung gewesen.

      Nicht weit entfernt von einer Kapitulation war ich dann doch, als ich meine erste Winkelspinne entdeckte. Um die Tapete im Wohnraum abreißen zu können, musste ich ein kleines Vertiko aus der Gründerzeit (eines der Stücke, das ich gern behalten wollte) von der Wand abrücken. Und da entdeckte ich sie. Ich hatte nicht gewusst, dass es Spinnen von einer solchen Dimension in unserem Land überhaupt gab und hielt sie für ein einmaliges Exemplar. Ein Exot, der Gott weiß wie seinen Weg in die Uckermark gefunden hatte. Vielleicht heimlich eingeschleust durch die Vorbesitzer meines kleinen Hauses, mitgebracht aus einem Urlaub in Shanghai. Dann hatten sie nicht gewusst, wohin mit dem Biest und es hier ausgesetzt. Sollten sich doch die neuen Besitzer darum kümmern.

      Natürlich musste ich diese Spinne loswerden. Ich musste sie töten, und bei diesem ersten Mord an einer Winkelspinne lernte ich: Sie bleibt an der Stelle sitzen, an der du sie entdeckt hast. Sie beobachtet dich so lange, bis du eine Waffe gefunden hast, mit der du ihr den Garaus machen kannst. Und wenn du dann ausholst mit der Waffe, läuft sie blitzschnell davon. Sie rennt davon. Aber du kannst schneller sein als sie. Du musst schneller sein, weil in keinem Raum der Welt Platz ist für euch beide.

      Mit welchem Gegenstand ich meine erste Winkelspinne erledigt habe, erinnere ich nicht mehr. Eine Fliegenklatsche wäre zu klein gewesen. Vielleicht nahm ich ein Kissen oder so. Und bei späteren Besuchen von Winkelspinnen in meinem kleinen Haus nahm ich den Staubsauger, dessen Fuß ich dann anschließend mit einer Plastiktüte verschloss.

      Dachte ich während dieser abenteuerlichen Zeit überhaupt an Johannes? Ich glaube es nicht. Der zweite Bildungsweg und die Studienzeit hatten einige Begegnungen mit Männern mit sich gebracht. Flüchtiger Art. Ein Liebeskummer ist mir aus dieser Zeit nicht in Erinnerung geblieben. Vor allem aber hatte ich viel zu tun. Viel zu lernen. Und während meiner Zeit als Verwaltungsleiterin und Eigentümerin eines Ferienhauses in der Uckermark wurde die Sehnsucht nach einer wunderbaren Partnerschaft in den Hintergrund gedrängt durch die schwierige Suche nach guten Handwerkern, um zum Beispiel einen Wanddurchbruch zwischen meinen beiden Zimmern herzustellen. Und am Arbeitsplatz gab es nicht nur viel Arbeit, sondern auch Aufregung und Abwechslung genug, um perspektivisch zu einer harmonischeren Ost-West-Verständigung zu kommen. Es war also nicht die Zeit, sich in Tagträumen zu verlieren. Ich war meistens zu müde dazu.

      Dann aber rief mich eines Tages eine junge Verwandte aus Nordrhein-Westfalen an, um mich zu bitten, für meine demenzkranke Mutter einen Platz in einem Seniorenheim zu finden. Die Betreuung sei von ihr nicht mehr zu leisten, weil meine Mutter extrem vergesslich geworden sei und neuerdings auch zu einem undankbaren, um nicht zu sagen leicht aggressiven Verhalten neige. Ich möge bitte schnellstens meine Reisetasche packen und nach Hause kommen.

      Ich nahm also ein paar Tage Urlaub und fuhr mit dem Zug in meine Heimatstadt am Niederrhein.

      3.

      Wann immer ich in den zurückliegenden Jahren von Berlin nach Hause in Nordrhein-Westfalen fuhr, gab es einen ganz besonderen Moment für mich. Wenige Kilometer, bevor der Zug unsere Kleinstadt erreichte, musste er eine Kurve nehmen und in der setzte prompt ein beschleunigter Herzschlag ein. Ich wusste: gleich sehe ich sie. Einen Moment noch, und die Burg, die über unserer Stadt thront, würde in mein Blickfeld geraten. Und bei ihrem Anblick war ich glücklich. Zu Hause. Egal, was ich in dieser Stadt an Kränkungen erlebt hatte, egal auch, wie der letzte Besuch bei meiner Mutter oder früher bei den Eltern verlaufen war, ich war einfach glücklich, weil ich mich minutenlang gut aufgehoben fühlte. Dieser Moment ließ sich nur vom Zugfenster aus erleben, da der Autoverkehr anders geleitet und die Burg nur kurz von der Seite oder von hinten sichtbar wurde. Ich wollte sie frontal in ihrer Behäbigkeit und ich wollte sie romantisch angestrahlt. Deshalb nahm ich den Zug, deshalb fuhr ich von Berlin erst gegen Mittag los, um am Abend, wenn die Scheinwerfer eingeschaltet waren, den Willkommensgruß meiner Burg zu genießen.

      Es bot sich das erwartete Bild: die solide Burg, eingetaucht in ein unaufdringliches, leicht gelbliches Licht. Aber es stellten sich nicht die erhofften Emotionen ein. Kein Glücksgefühl. Ich fühlte mich nicht wie mit offenen Armen empfangen. Im Gegenteil: Die Wehmut, die mich schon über die ganze Zugfahrt begleitet hatte, vertiefte sich. Mir war zum Weinen. Mir wurde klar, dass die Burg schon immer für etwas anderes gestanden hatte: eine Metapher war für die Geborgenheit in der Familie. Ein paar Ohrfeigen in der Kindheit, ein oft übel gelaunter Vater und eine Mutter, deren Lieblingskind, weil Sorgenkind, nun einmal mein Vater war, hatten nichts daran ändern können, mich in dieser Familie, bei diesem Elternpaar, aufgehoben zu fühlen. Eine gewisse Scheu vor meinem Vater hatte ich zwar nie verloren. Und mir war auch später, wenn ich von Berlin nach Hause fuhr, immer mulmig zu Mute vor einer erneuten Begegnung mit ihm. Mein Vater war unberechenbar. Saß oft stundenlang grübelnd in seinem Sessel. Dann wieder wurde er laut und reagierte auf die geringste Kleinigkeit mit einem Wutanfall. Er hatte auch die Neigung, sich während meiner Pubertät über mich lustig zu machen. Über die Veränderung meines Körpers. Erst nach seinem Tod erfuhr ich von meiner Mutter von seiner Kindheit und Jugend, die durch eine äußerst rigide Erziehung geprägt war. Bedingt auch durch die Zugehörigkeit zu einer Sekte. Immer, wenn mein Vater mal wieder durchdrehte, wie meine Mutter es ausdrückte, griff sie beschwichtigend ein und stellte sich schützend vor mich. Und jetzt kam ich angereist, um meine Mutter in einem Altenheim abzuliefern. Furchtbar.

      Wir hatten Jahre vorher schon geklärt – meine Mutter und ich –, dass ich sie niemals nach Berlin holen dürfte, auch dann nicht, wenn sie so langsam ballaballa werden würde – ihre Umschreibung der Alzheimerkrankheit, die auch ihre Mutter, meine Oma Klara, heimgesucht hatte. Sie wollte dort bleiben, wo sie ihr Leben verbracht hatte, und sie hatte mich, zielgerichtet wie sie in praktischen Dingen war, auch auf ein Heim aufmerksam gemacht, in dem sie ihr restliches Leben verbringen wollte, sollte es jemals nötig werden. Sie hatte einen guten Geschmack bewiesen, wie ich feststellte. Das lang gestreckte Gebäude war nur zweigeschossig, und es lag in unmittelbarer Nähe des Stadtparks, in dem meine Mutter sich gerne aufhielt: im Rosengarten, im Sommer. Heeerlich!

      Es gab nicht sofort einen freien Platz für sie. Schon gar nicht in einem Einzelzimmer. Aber sobald ein Bett in einem Zweibettzimmer frei würde, bekämen wir eine Benachrichtigung.

      Seit meiner Ankunft vor zwei, drei Tagen hatte meine Mutter sich gesträubt, ihre Wohnung für immer zu verlassen und in ein Altenheim zu ziehen. Sie hatte das Seniorenheim und ihren Wunsch, dort untergebracht zu werden, im Falle eines Falles, einfach nicht mehr in ihrer Erinnerung. Sie musste nur Altenheim oder Seniorenresidenz hören, um aufsässig zu werden. Ich bin noch zu jung, rief sie dann. Verstehst du das denn nicht? Sie lag in ihrem Nachthemd auf ihrem Teil des Doppelbettes, das sie mit meinem Vater geteilt hatte, und strampelte mit ihren langen Beinen. Ihr Körper war tatsächlich noch jung. Sie konnte kilometerweit gehen (wandern sagte sie), ohne außer Puste zu geraten. Was für mich nicht unbedingt galt, als fleißige Raucherin, die ich damals noch war. Bisher hatte sie sich also gesträubt, sich mit mir auf den Weg zu machen in ihre nächste Unterkunft. Nachdem wir dem Haus einen Besuch abgestattet hatten und die Erinnerung meiner Mutter zurückgekehrt war, konnte sie einen Umzug nicht mehr erwarten. Nun wollte sie