Daimon Legion

Deadman's Hostel


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Gut, vielleicht auch Schreiben und Malen, wenn man denn dazu Talent besaß. Sheryl seufzte und besah sich die bunten Buchrücken, die mehr oder weniger von Benutzung sprachen. Der Welt der Buchstaben gegenüber war sie zwar nicht abgeneigt, doch bisher hatte sie ihre Tage anderweitig verbracht. Das würde sich nun ändern müssen …

      Sie griff nach einer der leeren Pappstiegen, die sich seitlich stapelten und nahm, was sie benötigte aus den Fächern. Im hinteren Bereich des Lagers fand sie sogar einen Kühlraum für Tiefgefrorenes. Da dieser aber abgesperrt war, begnügte sie sich mit dem Gebotenen.

      Vorsichtshalber schrieb das Mädchen auf einem Zettel eine Liste aller Dinge, die sie entnommen hatte, und wollte diese später Ace geben, damit der über ihren „Einkauf“ Bescheid wusste.

      Ace goss sich das Glas bis zum Rand voll und trank einen kräftigen Schluck.

      Bisher wurde er von fünf Personen gestört, die ihn darauf aufmerksam machen wollten, dass Sheryl sich im Haus herumtrieb. Er überlegte, ob er nicht ein Schild aufstellen sollte. „Achtung, frei laufende Göre!“, oder so.

      „Hat sie was angestellt?“, war seine einzige Gegenfrage, doch offenbar hielt sich die Kleine an seine Vorgaben. Dass sie sich im Lager rumtrieb, beruhigte ihn. Somit versorgte sie sich selbst, statt bei ihm angekrochen zu kommen und weinerlich um Hilfe zu betteln. Er hatte genug zu tun und wollte sich nicht auch noch um sie kümmern.

      Was seine Kunden betraf, so sollten die sich an die dauerhafte Anwesenheit des Mädchens gewöhnen. Sheryl würde vorerst bleiben. Ob die Leute wollten, oder nicht.

       Was ist mit den Anderen?

      Er atmete rauchend aus und trank noch einen Schluck.

       Na, erst mal sehen. Die müssen es ja nicht wissen …

      Der Kühlschrank brummte.

      Sheryl stopfte dessen bislang leere Fächer mit Eistee, Limonade, Butter, Toastbrot, Salami, Käse und Marmelade voll. Im Küchenschrank lagerte sie ein paar Konservendosen und Nudelgerichte. Zumindest für die nächsten Tage sollten diese Vorräte reichen. Ihre „Einkaufsliste“ legte sie auf dem Beistelltisch bereit. Laut Uhr war jedoch noch sehr viel Zeit, eh Ace Feierabend hatte.

      Also setzte sie sich in den Sessel und nahm eines der Bücher zur Hand, welches ihr interessant genug schien, gelesen zu werden. Es handelte sich um einen tragischen Liebesroman. In der Schule hatten viele ihrer Freundinnen von dieser Geschichte geschwärmt, seit sie mit Starbesetzung verfilmt im Kino lief. Ein gut aussehender, doch leidgeplagter Junge – etwa in ihrem Alter –, der sich nach Anerkennung sehnte und verzweifelt versuchte, das Herz des schönsten Mädchens der Stadt zu erobern.

      Nachdem Sheryl eine Stunde lang gelesen hatte, legte sie das Buch beiseite. Es tat ihr nicht gut, von einem Schulalltag und Familienleben zu lesen, das sie niemals mehr so erleben würde. Keine Treffen auf dem Schulhof. Kein Anstehen in der Kantine. Keine verliebten Zweisamkeiten mit Gleichaltrigen. Keine heimlichen Blickkontakte. Keine Gute-Nacht-Küsse.

      Diese zerrissene Romanze erschien ihr fast schon abgedroschen gegenüber der Tragödie, die sie hier am eigenen Leib erlebte. Ein junges Mädchen in der sexuellen Gewalt eines alkoholkranken Mannes, der ihr für gewisse Dienste Leben und Freiheit schenkte. Sollte sie jemals aus dieser Wüste herauskommen und ein ordentliches Leben führen, würde sie wahrscheinlich ihre Geschichte an einen Autor verkaufen.

      Schweiß lief ihr über die Stirn. Im Zimmer war es unerträglich warm.

      Sie öffnete die Tür und ließ die kühle Luft vom Korridor herein.

       Und obwohl das Buch sie nur mäßig unterhielt, zwang sich das Mädchen dazu, weiterzulesen. Mehr konnte Sheryl im Hostel derzeit nicht tun.

      4

      Der Geruch von verbranntem Tabak weckte sie.

      Irritiert stellte das Mädchen fest, dass sie im Sessel eingeschlafen war und inzwischen war der Tag vergangen. Die Nacht zwinkerte ihr durch die Jalousielamellen zu. Das Buch war aus ihrer Hand gerutscht und lag mit umgeknickten Seiten am Boden.

      Die Erschöpfung von der langen Reise musste sie stärker getroffen haben als angenommen. Mit Kraft hatte Sheryl nie prahlen können.

      „Ist nach elf …“, informierte sie eine raue Stimme über die Uhrzeit.

      Im Stockdunkeln vor ihr lehnte Ace im noch immer offenen stehenden Türrahmen. Seine große Gestalt wirkte beklemmend und faszinierend zugleich, wie der Anblick eines schwarzen Monolithen. Die Glut seines Glimmstängels erhellte beim Zug rot das kantige Gesicht. Mit finsteren Augen, die ihr wohl ewig einen Schauer über den Rücken jagen würden, starrte er zu ihr in das Zimmer hinein.

      „Musst du im Haus rauchen?“, beschwerte sie sich zurückhaltend über den Gestank.

      „Würd selbst im Tod noch rauchen“, feixte er frech. Sein Atem roch scharf nach Alkohol. Die eckige Flasche Bourbon, die er bei sich trug, war bis auf wenige Schlucke geleert. Wie bereits gestern Abend war er sturzbetrunken.

      Seufzend schüttelte Sheryl über seine Unvernunft den Kopf.

       „Hab mit dem Boss geredet, Kleines“, murmelte er und hatte sofort ihre volle Aufmerksamkeit. „Meint, kannst bleiben … solang du tust, was ich dir sag. Kein Schnüffeln, kein Nerven, kein In-die-Quere-komm’. Unser Deal ist ihm egal – Hauptsache, der Job leidet nicht drunter. Mehr interessiert den nicht.“

       Was für ein komischer Boss, dachte sie misstrauisch. Das klang so, als ob seine Angestellten mit allem durchkommen könnten – vorausgesetzt sie erfüllten auch weiterhin ihr Pensum. Das warf die Frage auf, wer von beiden unmoralischer war: Ace oder sein Chef? Am Ende akzeptierte der sogar Mord, solange die Zahlen stimmten. Ob das Hostel der Mafia gehörte?

      „Danke“, sagte sie trotzdem.

      „Wie du meinst …“, erwiderte er unpassend und trank aus. Stieß geräuschvoll auf.

       Sie seufzte. Ich verlange ja keinen Prinzen, aber das …

      Da fiel ihr die Warenliste ein. Sheryl stand vom Sessel auf, schnappte sich diese vom Tisch und hielt sie Ace vor die Nase. Der aber ignorierte das Schreiben. Sie zog die Hand zurück.

      „Ich habe mir ein paar Dinge aus dem Lager genommen. Ich dachte, ich schreib sie dir auf. Interessiert dich das nicht?“

      „Erst wenn’s alle wird“, sprach er gediegen. „Kannst dir nehm’, was du willst. Kannst alles kriegen, was du willst. Ich will bloß meine Bezahlung …“

      Die Zigarettenglut ließ seine Augen funkeln. Oder lag das am Alkohol?

      „Bist du deshalb hier?“, fragte sie ernst.

      „Größtenteils“, gestand er grinsend. „Dazu die Nachricht und weil die Tür offen war. Gehörst mir doch jetzt, Schätzchen. Und was mir gehört, teil ich nicht gern mit andren. Weißt ja nie, wer hier nachts noch rumschleicht …“

       Niemand, du versoffener Idiot. Deine imaginären Saufkumpane zähle ich nicht dazu. Wir sind allein.

      Dennoch schloss Ace die Tür hinter sich, als er ins Zimmer trat. Seine Zigarette drückte er auf ihrem leeren Essteller aus, der auch auf dem Tisch stand. Obwohl sie sein Benehmen missbilligte, hatte sie andere Sorgen. Ihr Herz begann wieder schneller zu schlagen, je mehr er sich wie eine Wand vor ihr aufbaute.

      „Los, Hose aus und umdrehen!“, befahl er rau.

      Nervös schlüpfte sie aus der geliehenen Camouflage-Hose und kehrte ihm den Rücken zu. Sie stand nun vor ihrem Bett.

      „Vorbeugen!“, kam die nächste Weisung und sie hörte, wie er seinen Reißverschluss öffnete. Die Angst ließ ihre Beine zittern, doch was hatte sie für eine Wahl? Gehorsam stützte sie sich mit den Armen auf der Matratze ab und ließ es über sich ergehen. Als Teil des Geschäfts.

      „Miete und Verpflegung.