Anne-Christine Schmidt

Als die Angst kam - als die Angst ging


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Zu dieser Zeit besaßen einige meiner Klassenkameraden schon eine eigene Wohnung. Wenn ich abends in das kleine Zimmer zurückkehren wollte, in welchem ich mir am Tag eine eigene kleine Kinder- und Jugendwelt aufbaute, saß meine Großmutter am Schreibtisch. Sie übernachtete dort. Meine kindliche und später jugendliche Seele verkraftete dies nur schwer, zumal meine Freundinnen eigene Kinder- und später Jugendzimmer besaßen. Ganz sicher behinderte diese aus Platzmangel resultierende Lage mein Erwachsenwerden und die Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit. Ich litt unter der häuslichen Enge, fand aber keinen Ausweg. Statt mich nach vorn in Richtung der Schritte zu einer jungen Frau zu orientieren, suchte ich Halt in Kindheitserinnerungen, um in der Folge in eine Magersucht zu schlittern, welche mir den kindlichen Körperbau erhalten sollte. Im Innersten wollte ich längst erwachsen werden, aber ich fand in meinem familiären Umfeld keine Akzeptanz dafür. Stattdessen fühlte ich mich nur dann geliebt und in meiner Rolle als Familienmitglied bestätigt, wenn ich das brave Kind blieb. Somit verlief meine Jugend artig und still. Ich konzentrierte mich auf Schule und Studium. Dabei brach ich nicht aus der kleinbürgerlichen familiären Enge heraus. Ich flippte nicht aus wie andere Jugendliche und revoltierte nicht gegen meine Eltern, sondern versank ganz in meinem einsamen, magersüchtigen Unglück.

      Ein aktueller Spielfilm aus dem Jahr 2020 stellt die dramatische Situation einer an Magersucht erkrankten Jugendlichen und ihrer Familie dar ["Aus Haut und Knochen"; Drehbuch: Burkhardt Wunderlich, Regie: Christina Schiewe]. Als Gründe für die Manifestation einer Magersucht werden darin neben einem übersteigerten Schlankheitsideal unserer Zeit Familienverhältnisse angeprangert, die junge Menschen regelrecht erdrücken. Am Ende des Spielfilms steht die bittere Erkenntnis, dass die Eltern ihre Tochter selbst in die Krankheit stießen, bei der das Mädchen Souveränität und Selbstbewusstsein in der scheinbaren Beherrschung des eigenen Körpers anstrebte.

      Magersucht (Anorexia nervosa) zählt zu den psychischen Krankheiten mit der höchsten Sterberate. Ein tödlicher Verlauf tritt bei etwa 10 bis 15 Prozent der Betroffenen auf. Todesursachen sind Unterernährung, Organversagen oder Selbstmord. Die Statistikplattform Statista [8] weist einen Anstieg stationär behandelter Anorexie-Fälle in deutschen Krankenhäusern um knapp 30 Prozent in den vergangenen zehn Jahren aus. Das Veröffentlichungsdatum dafür liegt im September 2020. Als auslösende Ursachen pubertärer Magersucht vermuten Mediziner ein geringes Selbstwertgefühl, eine perfektionistische Persönlichkeitsstruktur, eine geringe Konfliktfähigkeit sowie seelisch stark belastende Ereignisse. Im familiären Umfeld werden Probleme und Unstimmigkeiten nicht diskutiert, sondern verdrängt und tabuisiert. Darüber hinaus fehlen positive Vorbilder für ein gesundes Essverhalten. Aufgrund stark ausgeprägter elterlicher Kontrolle fällt es den Jugendlichen schwer, sich im Zuge des Erwachsenwerdens vom Elternhaus zu lösen [9].

      Nach meiner Erfahrung begünstigten zwei weitere Faktoren die Entstehung der Magersucht: ein Überfluss an Lebensmitteln zum Einen und ein Mangel an Lebenssinn zum Anderen. Für einen jungen Menschen gab es keinerlei Orientierung, dafür aber tausend sinnlose Wahlmöglichkeiten, das Leben scheinbar auszukosten. Ich erinnere mich gut daran, wie mir das nur auf materiellen Wohlstand und Gewinn ausgerichtete Leben zuwider war. Der Überfluss hielt pünktlich mit der deutschen Wiedervereinigung Einzug und lehrte einem heranwachsenden Menschen nicht den Respekt vor den Nahrungsmitteln. Stattdessen gaukelten die bunten Broschüren, die nun die Regale in den Läden füllten, sowie die Vielzahl schillernder Fernsehserien ein Schlankheitsideal vor. Und selbst mein kräftig gebauter und gern und viel essender Vater ermahnte mich des Öfteren aufzupassen, dass ich nicht zu dick werde. Ich fühlte mich zu dick, obwohl ich einen ganz zarten, schlanken Körperbau besaß und nicht zum Fettansätzen neigte. Darüber hinaus fühlte ich mich ungeliebt bzw. nur geachtet und gemocht, wenn ich genügend schlank war. In der 11. und 12. Klasse magerte ich auf 35 kg ab, weshalb ich ein Befreiungsattest für den Sportunterricht erhielt. Während meiner Magersucht entwickelte ich seltsame Verhaltensweisen: sehr oft roch ich an Lebensmitteln, zum Beispiel an einer aufgeschnittenen fruchtigen Kiwi, um den weggefallenen Genuss des Essens auszugleichen. Wenn ich in der Straßenbahn von der Schule oder vom Studium nach Hause fuhr, kämpfte ich zuweilen mit einer starken Übelkeit. Dazu befiel mich ein permanenter Schluckreiz, weil ich den ganzen Tag fast nichts aß außer einer einzigen Schnitte zum Mittag oder einer Dosenkonserve Rotkraut. Zum Frühstück verzehrte ich gekochte Kohlrabistückchen oder einen im Backofen erwärmten Joghurt. Die Plastebecher schmolzen manchmal schon; wer weiß, welche Vergiftungen ich mir dadurch zuzog. Aber ich hatte jegliches Gespür für meinen Körper verloren. Meine Emotionalität fuhr gegen Null. Zum Abendbrot genehmigte ich mir einen Gemüsesalat und eine halbe Scheibe Brot mit Belag. Akribisch führte ich eine Essentabelle, worin ich jeden Apfel eintrug. Ich lebte nur, um zu lernen, und zwar unendlich viele sinnlose Fakten, mit denen man im realen Leben nichts anfangen konnte. Zwar fiel mir das Lernen in der Schule sehr leicht, weshalb ich keine große Mühe darauf verwendete, doch genügte es nicht, das Leben sinnvoll auszufüllen. Ich spazierte durch die Kaufhallen, um die Lebensmittel anzuschauen. Lange stand ich vor den Regalen und träumte vom Geschmack der Speisen. Während des Spazierengehens mit meinen Eltern sprang ich auf und nieder, um Kalorien zu verbrennen und wieder essen zu dürfen. Wenn ich langsamer lief, löffelte ich dabei in ganz ausgedehnter Weise einen kleinen, fett- und zuckerarmen Joghurt. Ich kaufte mir kalorienreduzierte Produkte aus der Diätszene, z.B. aus der `natreen`- und der `Du darfst`-Serie, worin Süßstoffe den gewöhnlichen Zucker ersetzen und ein geringer Fettgehalt enthalten war. Am meisten verzehrte ich davon Joghurts, Milchreis und Kartoffelsalat. Dabei zögerte ich den Essensvorgang lange hinaus: ich kaute sehr langsam, um den Geschmack lange zu spüren. Gegen jede Nacht mich quälenden Hunger legte ich mir eine halbe Scheibe trockenes Brot neben das Bett. Oft aß ich auch mitten in der Nacht einen kleinen Becher Milchreis. Ich fühlte mich permanent schuldig für mein Sein, für meinen nicht perfekten Körper, für meine geringe Körpergröße, sogar dafür, dass es mich gab. Das war das ganze Elend meines jungen Lebens. Meine Regelblutung blieb jahrelang aus. Meine Mutter suchte mit mir einen Frauenarzt auf, damit er mich heilte. Ich erinnere mich nur an seine Worte, dass meine Brustansätze einem Mann gefallen würden: nun schämte ich mich noch mehr, um in der Folge noch mehr zu hungern. Es folgten Drohungen und Vorwürfe seitens meiner Eltern: meine Mutter hatte ein anderes magersüchtiges Mädchen in unserer Kleinstadt gesehen, das aus einer Alkoholikerfamilie stammte. Mit drohendem Klang ihrer Stimme warnte sie mich, dass ich so enden würde wie sie, die wie ein Skelett aussieht und dann sterben würde. Meine Angst stieg, aber ich wusste nicht, wohin; ich sank noch tiefer in die Magersucht hinab. Heute frage ich mich, warum mich keiner meiner Lehrer hinsichtlich meines abgemagerten Körpers ansprach. Zur selben Zeit tobten die Wirren der politischen Wende: in der Schule ging alles drunter und drüber; ehemals staatsnahe Lehrer wurden entlassen. Da ich die Abschlussprüfungen mit 1,0 bestand, schien alles in bester Ordnung zu ruhen. Wenn ich mit meinen Eltern in eine Gaststätte einkehrte, verabschiedete ich mich nach draußen, um mich in der Wartezeit auf das bestellte Essen sportlich zu bewegen, um mir das Recht auf das Essen zu „verdienen“. In der Speisekarte wählte ich nur Rotkraut und Kartoffeln, ohne Fett, ohne Soße, oder unpaniertes mageres Seehechtfilet. Ich weiß nicht, warum ich so war, ich war 16 Jahre alt, als es begann. Noch jahrzehntelang fühlte ich mich schuldig für mein einstiges magersüchtiges Verhalten. Es entwickelte sich einfach so: nie fragte jemand danach, warum ich nicht mehr aß. Wenn ich mich in meiner späteren Partnerschaft wegen verschiedenster Umstände zuweilen nicht wohlfühlte, lud mir mein Freund sogleich die Schuld dafür auf und sagte, dass ich krank wäre. Ich wehrte mich nicht. Viel war in mir kaputt gegangen; ich verlor meine Liebesfähigkeit, meinen Halt. In der jugendlichen Magersucht nahm das ganze jahrzehntelange Leid seinen Ursprung. „Ja, ich will leben. Ich weiß aber nicht, wie`s geht“, sagte die junge Frau aus dem genannten Film. Ihre Freundin aus der Therapiegruppe starb an Organversagen. Auch ich besuchte eine Psychologin, jedoch wegen meiner Schlaflosigkeit. Ihre Behandlungsansätze halfen mir überhaupt nicht. Im späteren Verlauf meines Lebens wandelte sich meine Magersucht in eine heftige Platzangststörung, die sich auf grausame Weise ausweitete und über mehr als 20 Jahre mein Leben einschränkte. Diese Angst war wie ein Schreien in mir.

      Das Schulsystem mit seinem vollgepackten Lehrplan voller lebensferner Inhalte quält Generationen Heranwachsender. In der gesamten zwölfjährigen Schulzeit lernte