Anne-Christine Schmidt

Als die Angst kam - als die Angst ging


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möglich ist, „einem Menschen verständlich zu machen, wie er mit seinen Gefühlen umgehen kann, ohne Körper und Geist zu ruinieren“, geschieht dies viel zu selten [10]. Doch auch in der schwierigen Phase der Magersucht und der Schlafstörungen erlebte ich keine einzige Panikattacke und keinen einzigen Angstanfall. Es gibt Wissenschaftler, die einen Zusammenhang zwischen einer in der Jugend durchlittenen Magersucht und dem Auftreten von Depressionen oder Angststörungen im Erwachsenenalter vermuten [11, 12], weil das Geschlechtshormon Östrogen in der Phase der Pubertät an der Steuerung der Hirnentwicklung beteiligt ist. Im Fall einer Magersucht produziert der Körper im Vergleich zu normalgewichtigen Heranwachsenden deutlich reduzierte Östrogenmengen, weshalb sich bestimmte Hirnregionen, vor allem der Hippocampus und die Amygdala, welche bei der Ausprägung von Angststörungen eine maßgebliche Rolle spielen (s. auch Kap. I), nicht adäquat weiterentwickeln. Doch bei Weitem nicht jeder Erwachsene, der an einer Angststörung leidet, war als Jugendlicher an Magersucht erkrankt. Zudem führt die Rückerlangung eines gesunden Körpergewichts zu einer Ausreifung der genannten Hirnareale. Trotzdem vermute ich auch in meinem Fall eine Verbindung zwischen der Jahre später sich ausprägenden Angsterkrankung und der Magersuchtsepisode im Jugendalter. Eine Psychologin erklärte mir: wenn eine Art der psychischen Störung nicht behandelt und geheilt wird, tritt sie in Form einer anderen Störung wieder hervor. Als Motiv für eine Magersuchtsstörung gilt unter anderem ein Kontrollzwang über den eigenen Körper. In der von mir durchlittenen Krankheitsgenese taucht später die Angst vor Kontrollverlust wieder im Rahmen der Angststörung auf.

      Die Umgewöhnung auf das Gymnasium, welches sich in der meinem Heimatort benachbarten Großstadt befand, brachte keine Besserung meiner nun deutlich ausgeprägten Magersucht herbei. Zwar schloss ich einige Freundschaften zu neuen Schulkameraden, aber die unpersönliche Atmosphäre, welche in der städtischen Schule herrschte, ließ Gefühle der Fremdheit zurück. Der vertraute Umgang aus der alten Schule, der schon in der dortigen Leistungsklasse im letzten Schuljahr verloren ging, und die Unternehmensfreude der frühen Jugendtage kehrten nicht zurück. Trotzdem empfand ich den Schulwechsel als weniger einschneidend im Vergleich zu dem erwähnten Wechsel in die seltsame Leistungsklasse. Der tägliche Schulweg, welcher mittels einer einstündigen Straßenbahnfahrt und eines halbstündigen Fußweges bewältigt werden musste, glich für mich einem Aufbruch in eine Abenteuerexkursion. Angstzustände kannte ich damals noch keine. Oftmals stieg ich irgendwo an einer Zwischenstation aus, um in den fremden Straßen der großen Stadt spazieren zu gehen. Mit der Straßenbahn fuhr ich gern. Jeden Morgen marschierte ich frohen Mutes zur Haltestelle. Es störte mich weder, wenn viele Leute darin standen, dicht an dicht gedrängt, noch, wenn der Wagen ganz menschenleer war. Zu jener Zeit dachte ich nicht im bösesten Alptraum daran, dass eines Tages sich das Straßenbahnfahren für mich zu einem unüberwindbaren Hindernis gestalten würde. An den größten und unruhigsten Haltestellen im Zentrum einer Großstadt in unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof, wo Straßenbahnen hin und her brausten, Unmengen an Menschen hin und her stürzten, empfand ich nicht den leisesten Anflug von Unruhe oder gar Angst. Wenige Jahre danach sollte es mir nicht mehr möglich sein, eine solche Haltestelle auch nur kurzzeitig zu betreten.

      Trotz Magersucht und schwerer Schlafstörungen verschonten mich in meiner Jugendzeit die Angstanfälle noch. Als Jugendliche unternahmen wir weite Tagesausflüge mit dem Fahrrad, schwammen in einsamen Seen, entzündeten kleine Feuer, worin wir Kartoffeln rösteten. Einmal trat ich in einem Teich, in dem wir badeten, in eine Scherbe oder eine Muschelschale, woraufhin mein Fuß ganz fürchterlich blutete. Weder Angst noch Panik befielen mich, sondern seelenruhig radelte ich mit bluttriefendem Fuß zehn Kilometer bis nach Hause. Wenige Jahre später hätte ich einen Zitteranfall bekommen, der mich gezwungen hätte, Hilfe zu suchen; jemanden, der mich nach Hause bringt. Aber es wäre gar nicht so weit gekommen, denn ich wäre schon gar nicht in der Lage gewesen, mit einer Freundin an den See zu radeln. Doch damals, vor dem Ausbruch meiner Angsterkrankung, unternahm ich auch ganz allein mehrstündige Radtouren über Land. Ich erfreute mich daran. Angst tauchte nicht auf. Allerdings hatten Magersucht und Schlaflosigkeit die Unbeschwertheit meiner Jugendphase geraubt. Ein Freund erzählte mir von seiner Abiturklassenabschlussfahrt: „Wir hätten die Welt einreißen können; so gut fühlten wir uns.“ Im Gegensatz zu seiner Aussage vegetierte ich während der Abiturzeit als halb verhungertes, schlafloses Etwas dahin. In meinem Geist regten sich weder Wünsche noch Hoffnungen oder Sehnsüchte. Von innerer Verzweiflung über meine Schlafunfähigkeit verunsichert, traute ich mir auch keine Teilnahme an Klassenfahrten mehr zu, folglich auch nicht an der Abschlussfahrt. Damit isolierte ich mich noch stärker.

      Trotz allem erwarb ich zum Abschluss der Gymnasialzeit ein glänzendes Abiturzeugnis, um in der Folge in derselben Großstadt fünf Jahre lang Biologie zu studieren. Auch während dieser langen Zeit entwickelte ich keine Angststörung, nicht einmal im Ansatz. Endlich gehörte mir auch ein eigenes Zimmer im elterlichen Einfamilienhaus, weil meine Großmutter zunehmend gebrechlicher wurde. Lange noch litt ich auch als Studentin unter Schlafstörungen. In alptraumartiger Weise träumte ich davon, wie meine Großmutter in mein kleines Zimmer zurückkehrte, woraufhin ich wieder zu meiner Mutter ins Schlafzimmer umziehen musste. Meine Magersucht verschwand im Lauf des Studiums, als ich einen Freund kennenlernte. Als er mir ein belegtes Brötchen anbot, schaffte ich es, nach mehr als drei Jahren wieder unbeschwert in ein solches zu beißen. Von da an blieb ich von Essstörungen jeglicher Art verschont. Trotz des zurückkehrenden normalen Essverhaltens blieb ich eine sehr zarte, schlanke Person. Auch wenn ich zukünftig sogar ungewöhnlich viel aß, behielt ich über viele Jahre hinweg bis etwa zum Ende des dritten Lebensjahrzehnts ein leichtes Untergewicht. Die Gegenwart meines Freundes heilte mich auch von meinen Schlafstörungen. Er erfüllte für mich in jener Zeit eine ganz wichtige Funktion, denn er rettete mich aus Magersucht und Schlaflosigkeit. Später entwickelte sich die Beziehung in zum Teil ungünstiger Weise. Doch aufgrund meiner weiter bestehenden Unselbständigkeit schlitterte in eine Abhängigkeit.

      Die langwierigen Straßenbahnfahrten und die Fußstrecken, die ich schon von der Gymnasialzeit gewöhnt war, dauerten an, um die Örtlichkeiten meines Studienplatzes zu erreichen. Im Lauf des Studiums stieg ich immer öfter von der Straßenbahn auf mein Fahrrad um. So legte ich täglich am Morgen und am Abend eine anderthalbstündige Fahrradstrecke zurück, bei jedem Wetter, auch im Regen und Schnee. Meine selbst ausgesuchten und ständig variierten Fahrrouten führten mich durch viele Park- und Grünanlagen, vom Zuhause zu den Universitätsgebäuden, und am Abend, oftmals auch im Dunkeln, wieder zurück. Einige große, vielbefahrene Straßen und Ampelkreuzungen waren nicht zu vermeiden, was mich aber nicht störte; damals zumindest nicht. Wenige Monate nach dem Abschluss meines fünfjährigen Studiums und der anschließenden Diplomarbeit sollten mich in der Nähe großer Straßenkreuzungen gewaltige Schwindel- und Zitteranfälle erfassen. Doch während der Studienzeit war noch alles in Ordnung. Ich liebte dieses Radfahren, fühlte mich frei und glücklich. Undenkbar erschien damals, dass sich dies je ändern könnte. In meiner studienfreien Zeit unternahm ich ausgedehnte Radtouren über die Dörfer der Umgebung, durch Felder und Wälder. Ich mochte die ausdauernde Bewegung an der frischen Luft, die Beobachtung der Natur und die Einsamkeit. Wenn ich auf Landstraßen und Feldwegen entlang radelte, schaltete ich die Gedanken aus und achtete nur noch auf meine Sinneswahrnehmungen. So schwebte ich, einem tranceartigen Zustand gleich, in völligem Einklang mit den wegsäumenden Bäumen und Sträuchern und mit mir selbst über das Land. Im Rahmen der im Lauf des Biologiestudiums zu erledigenden Studienarbeit übernahm ich die Kartierung der Pflanzenarten eines Messtischblattquadranten. Diese Aufgabe machte mir großen Spaß, denn um die mir zugeordnete Region zu kartieren, konnte ich wiederum weite Strecken mit dem Fahrrad zurücklegen, durch Wiesen, Felder und Dörfer streifen. Es gab keine Angst, kein Zittern, keine Hilflosigkeit. Ich war gern unterwegs, vor allem auch allein. In den Semesterferien unternahm ich einmal gemeinsam mit meinen Eltern eine Flugreise auf eine griechische Insel. Der Flug bereitete mir keinerlei Schwierigkeiten. Ich ahnte nichts von der zerstörerischen Platzangst, die mein freies Leben schon bald ruinieren sollte.

      In größeren Pausen, die im Stundenplan die Praktika, Vorlesungen und Seminare unterbrachen, unternahm ich große Spaziergänge durch städtische Parkanlagen und durch die Innenstadt mit ihren vielbesuchten Einkaufspassagen. Ich bummelte durch die großen Kaufhäuser, probierte Sachen an, besuchte Imbiss-Gaststätten. Besonders gern spazierte ich zur Adventszeit über den Weihnachtsmarkt. Manchmal begleiteten mich andere Studenten,