Aurelia Dukay

Heilige und Gesegnete


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      Er nahm auf einem Holzstuhl Platz, der an der Wand gelehnt hatte, über ihm hing ein vergilbtes Heiligenbild. In der Küche war es einigermaßen still. Nebenan im Wohnzimmer tobte ein Gewusel von unzähligen Menschen, denn die schreckliche Tat hatte sich blitzschnell im Viertel herumgesprochen. Alle kamen sie zur Haustür hereinmarschiert, um ihr Beileid auszudrücken. Mit Empörung auf den zerknirschten Gesichtern sparten sie nicht mit Klageworten, die wie Beschwörungen klangen: Natürlich handelte es sich um einen Unfall, keine Frage, so ein braves Mädchen, und wenn nicht, dann nur weil diese verdammte Arbeitslosigkeit den Geist des zarten Geschöpfes vergiftet hatte. Besessen von einem Dämon, der sie in den Tod getrieben hatte. Eine verirrte Seele – das müsse die Kirche doch einsehen.

      Und dennoch, Caterina spürte es ganz genau, irgendetwas stimmte nicht. Das sagte ihr unfehlbarer Instinkt, der dem eines Raubtieres glich. Was genau nicht stimmte, musste sie noch herausfinden.

      Signore Bellacqua schien die Ereignisse nur noch am Rande wahrzunehmen, dafür aber Caterina, die seinen musternden Blick auf sich spürte, auf ihrer schlanken Figur, ihren roten Haaren, ihrer hellen Haut und ihren blauen Augen und ihrer eleganten Kleidung. Eine jahrhundertealte Ehrfurcht vor allem Höheren, vor Gott, seinem Willen, dem Schicksal und den Autoritäten – in diesem Fall der Polizei vermischten sich in seinem Blick mit der natürlichen Skepsis gegenüber Frauen in einer Machtposition.

      „Ich bin ein einfacher Mann, Signora Commissario, mit einfachen Ansprüchen. Vierzig Jahre lang stand ich jeden Morgen um vier Uhr auf, schuftetet wie ein Tier, um ihr ein besseres Leben zu bieten. Sie war mein ganzer Stolz. Als meine Frau – Gott hab sie selig - starb, wollte sie unbedingt aus dem Ausland zurückkommen, um mich nicht alleine zu lassen. Ich verbat es ihr, aber sie tat es trotzdem. Stur, meine Emma.“

      In dem düsteren Appartement mit den vergilbten Heiligenbildern und den massiven Holzmöbeln wurde die Luft langsam schwer.

      Hier gab es nichts mehr zu tun, der Leichnam war auf dem Weg in die Gerichtsmedizin, und Caterina hatte keine Lust, Zeit mit Fragen zu verschwenden, auf die sie die Antwort bereits kannte. Arbeitslosigkeit, familiärer Druck, Isolation, Verzweiflung – Ende.

      Zugegeben, sie hatte das Notizbuch nur eingesteckt, weil es ihre Neugierde geweckt hatte, denn es bestand kein Zweifel daran, dass der Engel sich ganz alleine in die Hölle gestürzt hatte.

      „Wann kann ich sie wiederhaben“, fragte Signore Bellacqua fast apathisch.

      „Sobald die Gerichtsmedizin sie freigibt. Es tut mir wirklich leid um Ihre Tochter.“

      Seine Miene verfinsterte sich.

      Grübelnd verließ Caterina den fünfstöckigen Palazzo, ein bröseliger Betonbau aus den Achtzigern in der Via Garibaldi, im quartiere popolare del Mercato Antico, dem proletarischen Viertel der Stadt.

      Draußen drängelten sich hinter der Absperrung inmitten der Schaulustigen mehrere Kameras, darum scharrten sich die vermeintlichen Kollegen der Toten mit ihrer vorgetäuschten Bestürzung. Caterina hasste sie, diese Zunft aufgeblasener Reporter, die überall ihre Nase reinsteckten und vor nichts Halt machten.

      „Commissario, ein Kommentar, eine Stellungnahme“, riefen sie laut wie ein Knabenchor in der Kirche, sobald Caterina vor die Haustür trat.

      „War es Selbstmord, ein Unfall oder etwa Mord?“

      Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und unterdrückte das aufkeimende Gefühl der Befriedigung angesichts der Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde und lief mit gleichgültigem Blick an der Meute vorbei zu ihrem Auto.

      Der kleine Cinquecento stand verloren im Halteverbot, die leuchtend rote Lackierung war vom Wüstenwind ergraut, der von der Sahara herüberblies und seit zwei Tagen die Stadt in eine bleierne Staubwolke hüllte und auf allem eine pudrige Sandschicht hinterließ. Bald würde es regnen. Nach dem Wüstenwind kam immer der Regen, wie ihr die Kollegen erklärt hatten.

      Noch war die Luft jedoch stickig und erfüllt vom hektischen Alltag, dem Autohupen, den schimpfenden Menschen die sich über die selbstverschuldeten, unzivilisierten Umgangsformen empörten. Der Weg zum Auto führte an dem bevölkerten Mercato Antico vorbei, wo Caterina bereits auf dem Hinweg ein paar saftige Tomaten ins Auge gefasst hatte.

      Sie hatte nun Gelegenheit, welche für das Abendessen zu besorgen.

      Den lauten Rufen folgend betrat sie die überdachte Markthalle. Zugegeben das folkloristische Treiben stresste sie, machte aber dennoch den Kopf frei vom schrecklichen Anblick der jungen Selbstmörderin. Die lauten Schreie, die fließend in ohrenbetäubende Gesänge übergingen. Dazu der würzige Duft von wildem Oregano und die raue, bunte Vielfalt der Waren: Aufgeblähte Thunfischlaibe in blutige Stücke zerteilt, gebettet in zerschlagenem Eis wie eine klaffende Wunde, grausam und schön, primitiv und ehrlich, wie nur die Natur es sein konnte, dachte sie. Dazu gesellte sich eine Schar seifiger Tintenfische mit lang schlängelnden Kraken, und Caterina hätte schwören können, ja wirklich, dass sie sich noch bewegten.

      Unaufhaltsam floss der Fischsud von den Ständen auf die Pflastersteine und verlor sich in dessen Ritzen, um als penetranter Geruch wieder emporzusteigen.

      Caterinas ausgeprägte Abneigung gegen alles Glitschige führte sie an den Fischständen vorbei, zu den überladenen Obstständen bis zum Gemüsehändler an der Ecke.

      Aber auch inmitten des Gewirrs spürte Caterina, wie bereits zuvor in der Wohnung der Bellacquas, zwischen den Menschen jene subtile Wolke aus Nichtgesagtem, das zwischen den Worten lag, in einer Geste, in einem Blick, das aber das Wesentliche ausmachte. Das Wesentliche lag im Nichtgesagten! Es konnte sich nur um einen eingefleischten Kodex handeln, der sich durch die Epochen hinweg unter dem Einfluss verschiedener Kulturen zu einem festen Bestandteil der Verständigung geformt hatte. Eine passive Rebellion, eine würdevolle Arterhaltung gegen die vielen Fremdherrschaften, die diese Region seit Jahrhunderten erdulden musste.

      Sie wusste, dass sie niemals Zugang zu dieser wortlosen Sprache bekommen würde, so wie ein Hund niemals miauen und ein Kanarienvogel niemals bellen würde. Sie, die blasse Rothaarige aus Verona, mit ihrem engmaschigen Akzent (die Vokale sprach sie geschlossen und nicht wie die Hiesigen, offen aus) war ein Fremdkörper in dieser mediterranen Üppigkeit. Und das würde ihr ihre Arbeit erschweren.

      Vor dem Gemüsestand kickten zwei schlaksige Jungs im blauen Fußballtrikot einen Ball hin und her. Der eine hatte "Del Piero", der andere „Buffon“ in weißen Buchstaben auf seinem Rücken stehen.

      Dahinter bediente ein Mann gerade eine robuste Frau mit schwarzgelocktem Haar und in einem rot-schwarz gepunkteten Wickelkleid. Dabei amüsierte Caterina, wie sich die Punkte auf dem voluminösen Körper zu eierförmigen Kreisen dehnten und an Blutspritzer erinnerten. Mein Beruf verdirbt mich, dachte sie und beobachtete die Einheimische weiter.

      In der linken Hand hielt die Frau mehrere Tüten von vorherigen Einkäufen, während sie mit der rechten Tomaten begutachtete, indem sie den Zeigefinger in das rote Fleisch drückte.

      Caterina studierte ihr Verhalten genau, denn sie wollte etwas über die Menschen hier lernen.

      „Pierino, gib mir ein Kilo hiervon“, krähte die Frau. Das Fleisch an ihren Füßen quoll durch die Riemen der Sandalen, als seien sie damit verwachsen. Caterina betrachtete ihre eigenen schlanken Füße in den dreihundert-Euro-teuren Dekolleté-Schuhen und wunderte sich über die Laune der Natur.

      Pierino wog etliche Zentner und in sein derbes Gesicht hatte dieselbe erbarmungslose Sonne, die auch seinen Tomaten den fruchtigen Duft und die rötliche Farbe verlieh, ihre Spuren hinterlassen. Er machte Anstalten, der Frau etwas in scharfem Dialekt zu sagen. Caterina – für die der Dialekt eine Fremdsprache war - meinte herauszuhören, wie er über die vermeintliche Selbstmörderin sprach.

      „Man soll ja nicht schlecht über Tote reden, aber - der Herr im Himmel möge es mir verzeihen - wer zu viel will … Ob der Alte wusste, dass seine Tochter so eine war?“

      „Ach, woher sollen wir das wissen? Geben Sie mir noch ein Pfund von den Zwiebeln da.“

      „Ein Kilo Tomaten, ein Pfund Zwiebeln, das macht