Aurelia Dukay

Heilige und Gesegnete


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auch verdient.“ Als ich dann als junger Spund in meine erste Redaktion kam, sagte mein Chefredakteur zu mir: „Sohn, wenn du diesen Beruf ausüben willst, muss dein Geist so offen sein wie die Beine einer kubanischen Hure. Denn du musst sehen, was andere ignorieren, um an die Wahrheit zu gelangen.“

       Im Grunde hatten beide dasselbe gesagt, nur mit etwas anderen Worten.

       In meiner langjährigen Laufbahn als Journalist konnte ich viel erleben, hinter viele Fassaden blicken, Zeuge unzähliger Tragödien und tiefer menschlicher Abgründe werden. Ich sah viel und nur wenig berührte mich noch. Zynismus ist nun mal die schreckliche Begleiterscheinung meiner Zunft. Doch keiner dieser Ereignisse hat mich jemals so tief berührt wie das Schicksal dieser Person, die - obwohl mir vollkommen fremd - unwiderruflich in mein Gehirn gebrannt ist.

       Ein schlafender Engel lag auf dem rauen Asphalt, die Haare golden in der Sonne schimmernd wie kostbare Seide. Nur am Ansatz kam die natürliche Farbe durch. Ihr junger Körper, schlank und makellos, gehüllt in weißes Leichentuch. Keiner, der um sie weinte, niemand, den sie zurückgelassen hatte, außer dem alten Vater.

       Ich hatte dieses Mädchen schon zuvor gesehen, heruntergekommen, blass, ein Schatten ihrer selbst. Die Haare zerzaust, die Haut fahl, das Gesicht abgemagert. Nur ihre großen braunen Augen und die vollen Lippen erinnerten vage an die blühende Schönheit, die sie vor nicht allzu langer Zeit gewesen sein musste, und die das Leben ihr viel zu früh nahm. Trotz allem ist sie mir in der Menschenmenge aufgefallen. Weil sie so unendlich traurig aussah.

       In ihrem Zimmer fand ich einen Briefwechsel. Ich las die Briefe. Sie handelten von jenen Schicksalen, die sich tagtäglich von der hektischen Welt unbemerkt hinter verschlossener Tür oder sogar im Nachbarzimmer abspielen. Unangenehme Wahrheiten, die Journalisten oder diejenigen, die sich für solche halten, als Tratsch abtun. Aber als Chronist kann ich den Lesern diese Geschichte nicht vorenthalten, denn sie erzählt von einem dieser typischen Charaktere, wie sie nur der Verfall dieser verlorenen Generation hervorbringen konnte.

      Auszüge aus dem Briefwechsel exklusiv in der Sonntagsausgabe.

      Es war Dienstag.

      Caterina kochte vor Wut. Wie konnte das der Spurensicherung gestern entgangen sein. Stümper! Sie musste um jeden Preis verhindern, dass die möglichen Beweismaterialien veröffentlicht wurden. Noch vertieft in die Lektüre, strömte ihr von gegenüber ein süßlich penetrantes Rasierwasser entgegen, vermischt mit beißendem Tabakgeruch, der immer intensiver in ihre Nasenhöhlen drang.

      „Unsere Kommissarin ist eine Rote“, sagte eine tiefe Stimme.

      Wenn Caterina eines hasste, dann Witze oder Kommentare über ihre Haarfarbe.

      „Wie bitte“, sagte sie in scharfem Ton.

      „Sie lesen ‚La Piazza’, na ja, die kommunistischste Zeitung der Stadt. Dass die überhaupt jemand liest.“

      Caterina blicke von der Zeitung auf und taxierte ihr Gegenüber: Vor ihr stand ein großer, schlanker Mann mit krausem Haar, glattrasiert, im grauen Anzug, teuren Lederschuhen, schwarzer Aktentasche und dem Blick derer, die sich für etwas Besseres hielten, weil sie das System austricksten. Anwalt!

      „La Menta, wie die Minze. Strafverteidiger. Sie buchten sie ein, ich hole sie raus.“ Er grinste schelmisch über seinen eigenen dämlichen Spruch.

      Aus einem beschlagenen Glas trank er einen Schluck eisiges Wasser.

      „Sie sollten nicht alles glauben, was die schreiben, schon gar nicht diese Kommunisten von ‚La Piazza’.

      Caterina lächelte kommentarlos.

      „Darf ich Sie zu einem Caffé einladen, Commissario Calanca?“

      Dieser Typ hatte etwas Aalglattes, was ihr den Caffé wieder zurück in die Speiseröhre laufen ließ.

      „Liebend gerne, aber ich war im Begriff zu gehen, dringende Termine.“

      „Ich bestehe darauf. Sergio, zwei Caffé. Schwarz oder macchiato, Commissario?“

      „Schwarz”, kapitulierte Caterina.

      „Sie sind also die Nachfolgerin von Commissario Gesualdo Russo. Wusstest du, Sergio, dass sie nicht nur die schönste, sondern auch die jüngste Kommissarin Italiens ist. Und wir haben das Glück, sie bei uns zu haben.“

      Caterina lächelte sichtlich verstört von so viel unnötiger Arschkriecherei.

      „Nun ist die Frage, haben Sie auch den physique du rôle?”

      Caternia stockte.

      „Ihr Vorgänger, der wusste Bescheid. Ein gewisser Umgangston, kleine Gefälligkeiten sind das Schmieröl unserer ach so wunderbar komplexen Gesellschaft, ohne die alles ins Stocken gerät. Sie sind doch ehrgeizig, wollen bestimmt weiterkommen. Nun, ich kenne viele Leute hier in der Stadt, von hochrangigen Persönlichkeiten bis zu einfachen Straßenhändlern. Falls Sie etwas benötigen sollten, hier ist meine Karte.“ Als er ihr die Visitenkarte reichte, blitzte eine goldene Uhr grell auf.

      „Ich muss jetzt wirklich los.“

      „Alles auf mich, Sergio“, rief er laut über die ganze Bar.

      „Nein, ich zahle selbst, danke.“

      „Sie verstehen nicht, hier im Süden sind wir Männer Kavaliere. Es ist verpönt, eine Frau bezahlen zu lassen. Lassen Sie es zu, das macht das Leben leichter.“

      Dieser schmierige Typ war Gift für ihr Gemüt, das ihr schon um neun Uhr morgens die Galle hochgekommen ließ.

      „Schönen Tag noch“, sagte sie mit falschem Lächeln.

      „Übrigens, Commissario, ich wollte Ihnen noch sagen, dass –“

      Ohne ihn weiter zu beachten, brach sie zum Präsidium auf.

      Am Eingang saß Cinzia in Polizeiuniform, der Caterina ihre Frage nach der Adresse der „La Piazza“ zurief: „Finde heraus, wann Redaktionsschluss ist.“ Hinter dem aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden Atrium lag ihre Abteilung. Stinksauer mit der gefalteten „Piazza“ unterm Arm stöckelte sie zu ihrem Büro.

      „Commissario, Commissario“, rief ein Mitarbeiter durch den Gang. Zu viel für ihren verkaterten Kopf. Sie befahl Vice-Commissario Tommaso Salinas und Ispettore Ugo Grillo unverzüglich in ihr Büro.

      Tommaso war ein aufgeweckter Kerl, etwas älter als sie, vielleicht Mitte dreißig, ehrgeizig, seit Kurzem Vater einer kleinen Tochter und ambitioniert, eines Tages ihren Posten zu übernehmen. Dass dieser nach der Pensionierung von Russo nicht an ihn, sondern an eine jüngere Frau aus dem Norden ging, frustrierte ihn zwar, aber er ließ es nicht an Caterina aus, was sie zu schätzen wusste. Angeblich musste er noch Erfahrungen sammeln, aber beide wussten, dass politische Gründe hinter diesem Schachzug steckten, auf die weder Caterina noch Tommaso Einfluss hatten.

      Ugo schien aus anderem Holz geschnitzt zu sein. Gröber, träger und weitaus weniger intelligent als Tommaso, dafür mit der List des kleinen Mannes ausgestattet. Er war ein Relikt ihres Vorgängers, das sie hinnehmen musste.

      Nervös wippte Caterina mit der Schuhspitze unterm Schreibtisch des mit alten Holzmöbeln eingerichteten Büros und sah die beiden mit zusammengekniffenen Augen an.

      „Heute mit dem falschen Fuß aufgestanden, was Commissario“, fragte Ugo mit einem idiotischen Grinsen. Nur mit großer Selbstbeherrschung konnte sie fortfahren. Mit dem Finger klopfte sie auf die Titelseite von A.s kommunistischster Zeitung.

      „Warum wurden diese Briefe nicht beschlagnahmt. Wie zum Teufel –“

      „Commissario, entschuldigen Sie die Unterbrechung“, sagte Tommaso sanft, „aber da war nichts in dem Zimmer. Nur das Notizbuch, und das haben Sie ja mitgenommen. Und einen Laptop, darin hat die Spurensicherung nichts auffälliges gefunden“

      Caterina machte einen tiefen Atemzug und spielte mit Zeigefinger und