Aurelia Dukay

Heilige und Gesegnete


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Kälte der nordischen Völker. Mein Platz war hier, wo die Menschen warmherzig und das Leben so leicht und luftig war wie die Leinengewänder, die sie im Sommer trugen. Wo Toleranz und Flexibilität den Alltag erträglicher machten.

       Toleranz, wirklich?

      „Von hier oben aus scheint es wie ein Paradies. Aber diese Schönheit trügt. Wie eine schöne Frau mit einem schlechten Charakter. Sie zieht dich in ihren Bann, um dich dann zu zerstören“, fauchte mein Sitznachbar, noch sichtlich erschüttert von den Turbolenzen. „Dies ist eine verlorene Stadt, wo Korruption, Vetternwirtschaft, Ignoranz und Dekadenz herrschen. Hören Sie auf mich, kehren Sie so schnell wie möglich nach Dänemark zurück.“

       Aber ich wollte nicht hören. Ich hörte nur die Turbinen, die mich immer näher an mein Ziel brachten und meine innere Stimme, die deutlich sagte: Du tust das Richtige!

       Das Flugzeug landete wenige Minuten später zur Freude meines Sitznachbarn auf der Rollbahn.

       Bereits an der Schwelle der Flugzeugtür riss der heftige Wind mir beinahe die braune Lederjacke vom Leib, dafür empfing mich eine strahlend helle, warme Sonne und eine Flut von Nachrichten auf dem eben eingeschalteten Handy.

      „Vodafone heißt sie Herzlich Willkommen und möchte Sie daran erinnern, dass es eine beschissene Stadt ist, in die man immer wieder zurückkehrt“ Absender: Papá .

       Rückblickend waren dies vielleicht die ersten Warnsignale, die ich gekonnt ignorierte, geblendet von einer romantischen Vorstellung von dieser Stadt, ausgedörrt und hungernd nach menschlicher Wärme wie ich war und überwältig von dem Bedürfnis an einen Ort zurückzukehren, der mir die Illusion der Zugehörigkeit gab. In diesem Moment hatte ich allerdings an einer Sache keinerlei Zweifel: Ich opferte eine hoch zivilisierte Gesellschaft für authentische, zwischenmenschliche Beziehungen.

       Nach der endlosen Warterei am Gepäckband schob ich den schweren Wagen mit dem Kofferberg Richtung Ausgang zum großen Parkplatz, wo Papá mich bereits erwartete. Gerade wollte ich die Straße zwischen Ausgang und Parkplatz überqueren, als ich beinahe von einer rasenden Karawane sogenannter „blauer Autos“ überfahren wurde. Drei A-Klasse Mercedes mit verdunkelten Fensterscheiben und lauten Sirenen schossen ungeachtet des Zebrastreifens, den ich überqueren wollte, an mir vorbei, um laut quietschend vor der Einfahrt des Flughafens zu bremsen. Mit derselben Geschwindigkeit wie sie angerast kamen, sprangen vier Anzugträger aus dem mittleren Auto und öffneten die Hintertür des Mercedes. Ein ebenfalls in Anzug und Krawatte gekleideter Mann mit verspiegelter Sonnenbrille stieg aus und wurde von den anderen in das Flughafengebäude begleitet. Wer bitte war das?

      „Der Regionalpräsident“, sagte ein Taxifahrer neben mir als Antwort auf mein verwundertes Gesicht.

      „Aha.“

      „Immer ein enormer Aufwand, wenn er unterwegs ist. Reist um die Welt mit unseren Steuergeldern“, kommentierte der Taxifahrer trocken, während er sich eine Zigarette anzündete.

      „Verstehe“, sagte ich, ohne ihm viel Beachtung zu schenken.

      „Da ruft Sie jemand“, fügte er hinzu und deutete lächelnd mit dem Kinn in Richtung Parkplatz. „Sie brauchen dann wohl kein Taxi.“

       Ich war so überwältigt von der Szene gewesen, dass ich am Zebrastreifen verharrt war, ohne den kleinen weißen Seat von meinem Papá wahrzunehmen. Der aber stand im Halteverbot und so rannte ich ihm entgegen, verstaute schnell die Koffer überall wo Platz war, ohne Zeit für Umarmungen, denn die könnten uns teuer zu stehen bekommen, wie die Politesse mit ihrem mahnenden Blick andeutete.

       Während der Fahrt redeten wir kaum. Mein Vater war ein Mann weniger Worte, zudem billigte er meine Rückkehr nicht. Um Diskussionen zu vermeiden, schwiegen wir. Ich genoss die Fahrt auf der Autobahn. Die milde Luft, die aus dem geöffneten Fenster hineinströmte umschmeichelte meine erkaltete Seele. Ich sah über die in den blauen Himmel ragenden Müllberge hinweg zu den kleinen Fischerbooten am Meereshorizont, die in der sengenden Sonne vor sich hintrieben. So fuhren wir schweigend über die unebene Küstenstraße bis zur Stadt. Nur mein Telefon unterbrach die Stille.

      „Willkommen zurück.“ Die fröhlich klare Stimme meiner Cousine Stella war die schönste Begrüßung. „Kommt doch heute Abend zu uns zum Essen. Meine Mutter hat bereits ein Festmahl vorbereitet.“ Ich willigte mit Zustimmung von Papá ein.

       Den von der Autobahn kommenden Besuchern zeigte die Stadt seine abscheulichste Seite. Große karge Betonbauten wandten den Anreisenden ihr abschreckendes Äußeres zu, als wollten sie sagen: „Nein, komm nicht hierher, geh weg, wir wollen dich nicht.“ Wagte man sich dennoch in die Innenstadt, blieb man verzaubert von seinen Palmenalleen, den Brunnen, dem malerischen Hafen und den antiken Gebäuden. Schade um die Bewohner, sagte so manch böse Zunge, die sind borniert und arglistig. Nur Neider, fand ich.

       Im ratternden Seat überquerten wir die lange Viale Federico II mit den Prachtbauten, dann die heruntergekommenen Altstadt, bis sich dahinter bröckelige Hochhäuser auftaten, fast am Stadtrand, nicht weit weg von der Autobahn, die in den Süden führte. Dort war mein altes, neues Zuhause, nur wenige Schritte vom Markt entfernt. In einem sechsstöckigen Palazzo, eigentlich waren es fünf Stockwerke, der sechste Stock wurde nur halb fertig, wegen der fehlenden Baugenehmigung. So kam ich aus einem hochmodernen Appartement mit Ikea-Einrichtung in Kopenhagen zurück an diesen schmucklosen italienischen Stadtrand.

      2. Engelszungen

      Als Caterinas Wecker klingelte, verfluchte sie sich selbst und den Rest der Welt. Die Flasche Rotwein, von der sie gestern nur einen Schluck, vielleicht ein Gläschen hatte trinken wollen, die sie dann aber doch ganz geleert hatte, forderte ihren Tribut.

      Der angekündigte Regen war gekommen, das bedeutete noch mehr Chaos auf den Straßen, was unvereinbar mit ihren unerbittlichen Kopfschmerzenden war. Zudem leuchtete ihr Hintern blau und grün, obwohl sie Zentner von Arnikasalbe darauf geschmiert hatte. Ein Haufen Papierkram wartete im Kommissariat auf sie, elende Bürokratie die keine Gnade kannte.

      Nach der morgendlichen Toilette überschminkte sie die dunklen Augenringe mit einer doppelten Schicht Abdeckstift und schlüpfte in ein blaues Etuikleid von Prada, das sie kürzlich in Rom gekauft hatte. Dazu blaue Pumps, einen beigen Trenchcoat und die blaue Shoppingtasche. Sie achtete penibel darauf, nie mehr als zwei verschiedene Farben zu tragen.

      Das Polizeipräsidium lag auf halbem Weg zwischen dem Altstadtviertel und dem Hafen, hinter der barocken Kirche Sant Antonio und dem Opernhaus, in der kleinen Piazza Nettuno mit einem Brunnen in der Mitte, auf dem ein nackter Neptun thronte. Bevor man in die Piazza einmündete, kam man an einer Cafférösterei vorbei, die den Ruf genoss, den besten Espresso der Stadt zu brühen und zudem noch köstlichstes Gebäck herstellte.

      Caterina stellte den Cinquecento auf ihrem Parkplatz ab und ging ins Café Nettuno. An der Theke bestellte sie einen doppelten Espresso und Cantuccini des Hauses, die sie in die Tasse hineintunkte, während sie die Zeitung las.

      Überall derselbe Schund, widerlich.

      Je nach Zeitung stand über die Tote nur eine Zeile oder eine ganze Spalte mit Foto, der Inhalt immer derselbe, im schönsten Journalistenjargon zusammengereimter Schwachsinn.

      Die Medien waren doch nur ein von den politischen Parteien gelenktes, auf Papier gedrucktes Schattenparlament. Nur den investigativen Journalisten fühlte sie sich verbunden, die waren die Einzigen, die Respekt verdienten.

      Als sie sich dem nächsten Artikel widmete verharrte sie kurz.

      „Die Schande meiner Zunft“ war er schwülstig überschrieben, und verwies auf einen Inhalt, der für das Medienzeitalter eine ungewohnt gehaltvolle Tiefe versprach.

      Von Chefredakteur Giorgio Bernardi: