„Schön wär’s“, seufzt Willert.
Doch diese Hoffnung erfüllt sich nicht. Als sie den Wald durchqueren und die einsame Hütte erreichen, ist Ruuna nirgends zu sehen. Nur Budda, der Kugelwolf, sitzt wie immer auf der Wiese vor der Hütte und kaut auf einem Halm herum.
Primo betrachtet das schwarz-weiß gemusterte Tier nachdenklich, das ihn aus seinen irgendwie klug wirkenden Augen anblickt.
„Vielleicht weiß der Kugelwolf, wo Ruuna ist“, überlegt er.
„Glaube ich nicht“, erwidert Willert. „Und selbst wenn er es wüsste, er könnte es uns nicht sagen.“
„Ruuna hat mir mal einen Allesversteher-Trank gebraut“, erinnert sich Primo. „Damit konnte ich mit Tieren sprechen. Meinst du, sie hat noch irgendwo was davon?“
„Keine Ahnung“, meint Willert. „Möglich wäre es. Sie bewahrt ihre Tränke an allen möglichen Stellen auf, und manchmal vergisst sie sie dort. Das Problem ist nur, dass wir nicht wissen, welcher Trank was bewirkt. Zwar haben die Tränke jetzt wieder unterschiedliche Farben, aber nur Ruuna weiß, wie welcher Trank aussieht.“
„Warum beschriftet sie die Tränke eigentlich nicht?“, fragt Primo. „Dann wäre es doch viel leichter, sie wiederzuerkennen.“
„Eine Zeitlang hat sie das gemacht“, erzählt Willert. „Aber es hat auch nicht viel genützt. Sie hat Dinge wie ‚Achtung, nicht ins Feuer gießen‘, ‚schmeckt merkwürdig‘ oder ‚Risiken und Nebenwirkungen unbekannt‘ auf die Flaschen geschrieben. Als ich ihr vorschlug, stattdessen die Wirkung des Tranks auf das Etikett zu schreiben, hat sie gesagt, das wäre doch langweilig.“
„Ja, das passt zu ihr“, meint Primo.
Sie betreten die Hütte und klettern die Leiter hinab in den Keller. Dass Ruuna schon länger nicht mehr hier war, merkt Primo sofort daran, dass der unerträgliche Gestank fehlt, der normalerweise diesen Raum erfüllt.
Das Labor sieht aus wie immer: Ein heilloses Durcheinander von Tränken, Glaskolben, Töpfen, Kisten und Zutaten. Dazwischen stehen ein Tisch und ein Braustand.
„Kannst du erkennen, ob etwas fehlt?“, fragt Primo. „Ich meine, hat sie irgendetwas mitgenommen?“
„Einen Flugtrank offensichtlich, sonst hätte sie der anderen Hexe ja nicht folgen können“, sagt Willert. „Kann sein, dass noch mehr Zaubertränke fehlen, das weiß ich nicht. Und natürlich ihr Zauberbuch.“
„Ihr Zauberbuch?“, fragt Primo nach. „Ich dachte, Ruuna kocht ihre Tränke nicht nach Rezept?“
„Das tut sie auch nicht“, stimmt Willert zu. „Aber sie schreibt manchmal auf, was bei ihren Experimenten schiefgeht.“
„Damit sie aus ihren Fehlern lernen kann?“
„Wohl eher, damit sie es noch einmal machen kann, falls etwas besonders Lustiges passiert.“
„Aha“, meint Primo. „Und wo liegt das Zauberbuch normalerweise?“
„Dort auf dem Tisch.“
Primo bückt sich. Unter einer Kiste in der Nähe des Tischs sieht er den Zipfel eines Blattes Papier herausragen. Er hebt die Kiste an und zieht das Blatt hervor. Darauf steht in Ruunas krakeliger Handschrift:
Wenn man beim Unsichtbarkeitstrank das fermentierte Spinnenauge weglässt und stattdessen Knallpulver hineintut, explodiert er – total lustig! Funktioniert auch, wenn man die vergoldete Karotte und die Netherwarze durch Knallpulver ersetzt.
„Genau das meinte ich“, bestätigt Willert, als Primo ihm den Zettel zeigt. Er macht ein betrübtes Gesicht. „Ich habe mich immer geärgert, wenn Ruunas Tränke explodiert sind. Aber jetzt wünschte ich, sie würde unsere Hütte mal wieder in die Luft sprengen. Ich vermisse sie so sehr!“
Primo legt den Zettel auf den Tisch und klopft seinem Freund auf die Schulter. „Wir finden sie schon“, sagt er.
„Aber wie?“, fragt Willert. „Wir wissen nicht, wer die fremde Hexe war und woher sie kam. Ruuna kann überall sein!“
Nachdenklich kratzt sich Primo am Kopf. „Der einzige Anhaltspunkt, den wir haben, ist, dass Ruuna die Hexe vermutlich von früher kannte. Damals hat sie im Sumpf nördlich des Wüstendorfs gelebt. Vielleicht ist sie dort.“
Willert zuckt mit den Schultern. „Ich halte das für unwahrscheinlich. Aber du hast recht, es ist unser einziger Anhaltspunkt. Also lass uns hingehen und nachsehen.“
Gemeinsam kehren sie ins Dorf zurück.
„Ich geh‘ nur mal kurz mit Willert in den Sumpf nördlich des Wüstendorfs, Ruuna suchen“, sagt Primo zu Golina.
Sie starrt ihn entgeistert an. „Nur mal kurz? Allein die Reise dorthin dauert mindestens zwei Tage! Und wie ich dich kenne, wird es nicht bei der Reise zum Sumpf bleiben. Meinst du wirklich, es ist eine gute Idee, das Dorf so lange schutzlos zu lassen?“
„Wir haben doch schon darüber gesprochen, Linchen“, beruhigt Primo sie. „Zusammen mit Kolle und Asimov kannst du das Dorf problemlos gegen Nachtwandler und Knallschleicher verteidigen. Notfalls kann euch mein Vater mit seinem Schmiedehammer zu Hilfe kommen.“
„Mit Nachtwandlern und Knallschleichern werden wir schon fertig“, stimmt ihm Golina zu. „Aber was, wenn Artrax die Gelegenheit nutzt und das Dorf angreift? Oder wenn dieser fiese Khan zurückkehrt? Letztes Mal konnten wir ihn nur mit Hilfe von Ruunas Zaubertränken besiegen.“
„Ach was“, winkt Primo ab. „Du machst dir viel zu viele Sorgen, mein Schatz. Artrax und der Khan haben sich schon lange nicht mehr blicken lassen und wie gesagt bin ich bald zurück. Es wird schon nichts passieren.“
Golina seufzt und gibt ihm einen Kuss. „Na gut. Aber beeil dich! Und sei vorsichtig, ja?“
„Du kennst mich doch, mein Linchen“, sagt Primo.
„Eben!“, erwidert sie.
4. Nasse Füße
Primo und Willert überqueren den Fluss Richtung Osten, folgen dem Flusslauf entlang des nördlichen Gebirges und erreichen gegen Abend die Ausläufer der Wüste. Sie verbringen die Nacht im Obergeschoss des alten Wüstentempels, den Primo und Willert vor langer Zeit entdeckt und erforscht haben. Nur einmal werden sie von einem vorlauten Nachtwandler belästigt, den Primo mit einem Hieb seines Diamantschwerts niederstreckt.
Gegen Mittag des folgenden Tages erreichen sie das Wüstendorf, wo sie kurz Rast machen.
„Sind hier vielleicht vor einer Weile zwei Hexen vorbeigeflogen, Caro?“, fragt Primo die befreundete Bäuerin.
Doch weder sie noch ein anderer Wüstendorfbewohner haben Ruuna und die andere Hexe gesehen. Also setzen Primo und Willert ihre Reise fort. Sie schlagen ein Nachtlager in den Hügeln nördlich der Wüste auf. Dort graben sie eine kleine Höhle, so dass sie vor Monstern sicher sind.
Am Morgen des nächsten Tages erreichen sie endlich die Ausläufer des Sumpfes.
„Weißt du noch, wo Ruunas Hütte war?“, fragt Primo.
„Ich bin nicht sicher“, sagt Willert. „Das ist schon so lange her. Ich glaube, es war weiter nördlich.“
Sie marschieren am Rand des Sumpfes entlang in Richtung Norden, doch weder von Ruuna noch von ihrer alten Hütte ist irgendeine Spur zu sehen.
„Ich fürchte, wir werden in den Sumpf hineinmarschieren müssen“, meint Primo schließlich. „Obwohl ich das hasse.“
„Ich auch“, stimmt Willert zu. „Man bekommt nasse Füße und manchmal berühren einen die Tintenfische mit ihren Fangarmen unter Wasser, als wollten sie einen in die Tiefe zerren. Das ist echt gruselig.“ Er seufzt. „Das ist wohl der Grund, warum Ruuna sich damals hierher zurückgezogen hat. Sie liebt gruselige Umgebungen. Und sie wollte allein sein. Wer weiß, vielleicht ist sie nicht zu mir