Denise Remisberger

Der flüchtige Stern


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      2

      Alberta Flakes war gelandet. Sie hatte ein Taxi am Flughafen Zürich genommen und sich zu ihrer von den anderen angemieteten Wohnung bringen lassen. O.K. Nicht genau dorthin. Drei Strassen weiter weg. Niemand sollte wissen, wo sie wohnte.

      Nun sass sie in ihrer bereits möblierten Stube und überlegte. Um die Person zu finden, musste sie den Mann zuerst suchen gehen. Dafür war es nötig, sich unter die Leute hier in dieser fremden Stadt zu mischen. Und dann war da noch die private Angelegenheit. Auch in dieser Sache musste sie jemanden finden.

      3

      Sabine, Sebastienne und Marie hatten bündelweise Flyer eingepackt und machten sich nun daran, diese zu verteilen. Überall, wo sie Schwarze Bretter vermuteten, stöpselten sie ein paar der kleinformatigen Zettel hin oder sie legten sie auf Tischchen aus, auf denen bereits für Yoga- und Kochkurse geworben wurde.

      „Die Schulen mit ü18 haben wir alle bestückt. Bibliotheken und Reformhäuser auch. Wo gehen wir als Nächstes hin?“, fragte Pfarrer Sebastienne die beiden gähnenden Frauen.

      „Ich brauche ein kühles Glas Rosé, irgendwo, wo es mehr Schatten hat als hier“, hielt sich Sabine Pfau eine Hand auf den Kopf, um ihn vor weiterer Sonnenhitze zu schützen.

      „Heute ist es ausgesprochen heiss, ja“, zog Marie Krug ihr Wolljäckchen aus und stopfte es in ihre überdimensionale Handtasche.

      „Wie wär’s mit der Bar dort“, zeigte Sebastienne auf einen der vier beschirmten runden Tische, die vor einem Lokal auf der Gasse draussen, in der sie gerade standen, auf Gäste warteten.

      „Au ja!“, fand Sabine und auch Marie liess sich erschöpft nieder.

      Nach der Bestellung der Flasche Rosé des Hauses legten sie ihre übrigen Flyer auf dem Tischchen zusammen - viele waren es nicht mehr - und weckten die Aufmerksamkeit einer etwa fünfzigjährigen Frau, die sich eines nahm und lachte: „Ich bin auf der Suche nach einem neuen Hobby. Kann ich da auch mitmachen, wenn ich nur ab und zu im Garten beim Jäten singe?“

      „Ja, klar!“, rief Sebastienne sofort begeistert.

      „Ich bin Sabine, das ist Marie und das unser Chorleiter Pfarrer Sebastienne“, stellte Sabine alle vor und hielt der Frau die Hand zur Begrüssung hin, eine inzwischen ungewohnte Geste.

      „Ich heisse Gundula“, freute sich die Frau und schüttelte allen ausgiebig die Hände. Und nein, es rannte niemand zum nächsten Brüneli.

      „Jetzt sind wir schon drei. Nochmals drei wären schön“, meinte Marie.

      „Alles braucht seine Zeit“, lächelte Sebastienne weise.

      „Das ist leider so, ja“, sagte Gundula. „Wir können noch so strampeln, nichts geschieht vor seiner Zeit.“

      4

      Alberta Flakes war am Zürichsee entlangspaziert, vom Bellevue aus Richtung Zürichhorn, und sass nun auf einer niedrigen breiten Treppe. Sie schaute aufs nachmittäglich in der Sonne glitzernde Wasser, über sich Baumkronen, die im leichten Wind raschelnde Töne von sich gaben. Rechts von ihr, eine Stufe unterhalb ihres Ausgucks, hockten zwei Männer, die beide, anscheinend unverrückbar, an ihrem jeweiligen Standpunkt festhielten.

      „Eine Tetanusimpfung ist eine sinnvolle Sache, bevor du nach Nepal reist“, sagte der eine, der braune Locken bis zur Taille wallen liess und echte Ethnokleidung trug.

      „Nein, Mik, ich will mich nicht anstechen lassen. Vielleicht breiten sich danach Nebenwirkungen aus und ich kriege einen richtigen Impfschaden.“

      „Ein Impfschaden einer Tetanusimpfung ist aber weniger schlimm als Wundstarrkrampf, Anbert. Dort gibt’s nicht an jeder Ecke einen Spital, wo du im Notfall was kriegst.“

      „Vielleicht verletze ich mich ja gar nicht.“

      „Und vielleicht eben doch!“

      „Die Tetanusimpfung ist erprobt. Seit Jahrzehnten. Nicht wie der neue Mist, von dem sie alle reden“, mischte sich Alberta ein, sodass sich die beiden Debattierenden nach ihr umdrehten.

      „Den anderen unausgegorenen Mist würd ich auch nicht wollen“, sagte Mik und stellte sich und seinen Freund vor.

      „Ich heisse Alberta.“

      „Bist du aus den USA? Du hast einen lustigen Akzent.“ Das kam vom erfreuten Anbert, denn das Mädchen, ebenfalls mittelalt wie die beiden Jungs, war nett anzusehen und schien eine offene Art zu haben.

      „Ja, aus Kansas“, erfand Alberta, denn dass sie in Washington D. C. wohnte, ging nun wirklich niemanden hier etwas an.

      „Hast du Lust, mitzukommen? Ich muss Essen vorbereiten bei mir zuhause. Heute Abend kommen ein Haufen Gäste“, lud Anbert die interessante Fremde ein.

      „Ja, wieso nicht“, lachte sie und alle drei machten sich zu Fuss auf ins Quartier Wiedikon, das gar nicht so nahe war.

      „Spaziert ihr immer so weit?“, erkundigte sich Alberta, nachdem sie sich erschöpft auf den erstbesten Küchenstuhl in Anberts Parterrewohnung fallen gelassen hatte.

      „Meistens zu Fuss, ja. Manchmal auch mit dem Fahrrad“, erzählte Mik und schenkte allen Chai-Tee ein, der bereits diesen Morgen von Anbert, alles selbstgemacht, vorbereitet worden war.

      „Der schmeckt aber vorzüglich“, lobte die Fremde und erntete damit ein Plätzchen im Herzen des Kochs. Und diesmal musste sie nicht mal lügen, der Gewürztee war tatsächlich vorzüglich.

      „Willst du eine rauchen?“, fragte Mik und holte ein buntes Döschen aus der Innentasche seiner Jacke hervor, die er anbehielt, obwohl es recht warm war.

      „Bloss nicht!“, rief Alberta.

      „Wieso nicht?“

      „Weil ich eiskalte Füsse davon kriege.“

      „Das ist der Tabak, nicht das Haschisch“, sagte Anbert, während er weiter in seinen Töpfen rührte.

      „Das ist möglich. Doch trotzdem. Ich muss einen klaren Kopf behalten.“

      „Was hast du denn vor?“, fragte Mik, der inzwischen einen Joint gedreht hatte und ihn nun anrauchte.

      „Ich muss zwei Leute finden.“

      „Auch aus Kansas?“, setzte sich Anbert für einen Moment an den Küchentisch, um mitzurauchen.

      „Der eine, ja.“ Diesmal war es tatsächlich so.

      „Und die andere Person?“, wollte Mik wissen.

      „Eine Frau. Von hier. Aus Zürich, glaube ich.“

      „Du bist dir nicht sicher?“, war der Koch wieder aufgestanden, um sich seinem Mango-Chutney zu widmen.

      „Nein. Die Grosseltern der Frau waren aus Zürich. Hatten ein Ferienhaus im Tessin. Irgendwo in den Bergen.“

      „Und warum suchst du nun deren Enkelin?“, spürte Mik, dass da etwas ganz Tragisches dahinter steckte.

      „Die Grosseltern der Frau haben meinen Grosseltern das Leben gerettet. 1943. Ab September. Als sie aus Italien flohen, kurz bevor die Nazis in ihrem Dorf einmarschierten.“

      5

      Heute Nachmittag, als Merle im Reformhaus einkaufen ging, hatte sie die Flyer unter die Lupe genommen, so, wie sie es immer tat, in der Hoffnung, etwas zu finden, um ihr Leben freundlicher zu gestalten.

      „Das nehm ich mit!“, hatte sie erfreut ausgerufen und das Papierchen in ihren grossen, selber gestrickten Beutel gelegt.

      Nun, es war schon dämmerig,