langte sie bei Anbert in der Küche an, wo sie von den beiden Jungs freudig begrüsst und der fremden Frau vorgestellt wurde.
„Seht mal, was mich angezogen hat“, holte Merle den Flyer aus ihrem Beutel und zeigte ihn herum.
„Ein Frauensingchor. Ich wusste gar nicht, dass du singen kannst“, staunte Mik.
„Ein bisschen. Ist nur so ein Zeitvertreib von mir.“
„Bist du reformiert?“, fragte Alberta.
„Ja. Eigentlich schon. Und du?“
„Ich bin Jüdin. Auch eigentlich schon. Praktisch ungläubig.“
„Wir sind Buddhisten“, zeigte Mik auf sich und Anbert. „Und auch nur eigentlich. Ich mag den Gedanken der Reinkarnation.“
„Ich weiss nicht“, seufzte Merle, „ich find schon dieses eine Leben furchtbar anstrengend.“
„Was tust du denn so, in deinem Leben?“, lächelte Alberta aufmunternd.
„Ich war Ehefrau. Seit zehn Jahren bin ich Witwe. Noch früher, vor meiner Ehe, Obstpflückerin. Mitten im Thurgau. Das ist auf dem Land. Dann hab ich einen reichen Schiffswerftbesitzer aus Italien geheiratet, nach seinem Tod alles verkauft und jetzt mach ich mir ein schönes Leben. Ist nur manchmal etwas eintönig. So mit nichts zu tun.“
„Und wo in Italien hast du gelebt?“, fand Alberta die Frau ziemlich spannend.
„Zwischen Genua und der Grenze zu Monaco.“
„Wie schön!“, klatschte Alberta in die Hände.
„Ja, das Meer direkt vor der Nase. Das war wirklich toll.“
6
September. 1943. Giuditta erwachte schweissgebadet aus einem grässlichen Traum. Sie wurde erschossen. Im Traum. Hinter der Waffe stand ein uniformierter Mann. Und er starrte sie aus kalten Augen an. Der Traum würde sich erfüllen, wenn sie nichts dagegen tat. Das wusste sie. Das wusste sie ganz genau. Also rüttelte sie ihren Mann Beniamino wach.
„Wir müssen gehen!“
„Was?“, fragte er schläfrig.
„Wir müssen gehen. Die Deutschen kommen.“
„Hierher? Nach Maccagno?“
„Ja. Ich habe es geträumt. Und es ist wahr.“
Beniamino kannte diesen Blick. Den hatte sie nicht oft. Wenn sie ihn hatte, dann war es ernst.
„Und wohin?“
„In die Schweiz.“
Beniamino klopfte an die Türe des nächsten Nachbarhauses, und als der Sohn öffnete, sagte er ihm, dass die Deutschen kommen würden. Doch dessen Eltern, weder jüdisch noch partisanisch, glaubten dem Kleinen nicht. Giuditta und Beniamino packten einige wenige Erinnerungen ein, verliessen ihr Heim, verliessen die Holzwerkstatt, die gleich an das Häuschen anschloss, verliessen den Lago Maggiore, verliessen ihr altes Leben. Ihre Heimat, ihre Arbeit, die Menschen, alles. In Windeseile, durch die Schlucht des Val Veddasca, wanderten sie von Maccagno nach Graglio hinauf, vorbei an den Dörfern Veddo, Caviggia, Garabiolo und Cadero, wo sie wenige Leute antrafen, die sie fröhlich grüssten und die noch nichts wussten von dem Unglück, das bald schon über die Dörfer am See unten hereinbrechen würde. Vergewaltigung, Mord, Plünderung. In Graglio angekommen, hämmerten sie an die Türe von Alberto, einem guten Freund der beiden.
„Was macht denn ihr hier oben? Ich bin grad am Mittagessen. Wollt ihr auch was?“
„Nur kurz. Wir sind am Verdursten. Und Hunger haben wir auch. Dann müssen wir in die Schweiz. Alberto, bringst du uns hin?“, fragte Beniamino.
„In die Schweiz?“
„Ja, die Deutschen kommen.“
„Badoglio hat doch gerade mit den Alliierten den Waffenstillstand geschlossen. Ich hab’s im Radio gehört. Vor einer halben Stunde. Die beschützen uns jetzt vor den Deutschen.“
„Trotzdem. Wir müssen weg. Giuditta hatte einen Traum.“
Alberto schaute von Beniamino zu Giuditta. Den Blick kannte er. Sie hatte ihn nicht oft. Nur ganz selten. Und dann war es ernst.
„Gut. Ich bring euch rüber. Auf die Alpe Cedullo. Und dann hol ich was zum hierher schmuggeln. Etwas Kaffee, etwas Tabak, etwas Alkohol. In Vairano unten.“
„Und was machen wir auf dieser Alpe Cedullo?“, fragte Beniamino, der noch nie in der Schweiz gewesen war.
„Dort kenn ich Leute. Aus Zürich. Die haben ein Ferienhaus auf der Alm. Sind vielleicht gar nicht da, doch ich weiss, wo der Schlüssel ist.“
„Wir sollen einbrechen?“, war es Beniamino gar nicht recht.
„Nein, nein. Sie erlauben es mir. Ich darf ihr hübsches Natursteinhaus benutzen, wenn ich unterwegs bin. Zum Schlafen. Essen ist immer da. Und Wasser auch.“
Nach der kurzen Rast liefen sie los, an Armio vorbei, an Lozzo und Biegno.
„Nun müssen wir aufpassen“, warnte der Schmuggler. „Hier streicht der Zoll herum. Der italienische mag mich nicht, vor allem, wenn ich mich auf dem Rückweg befinde, und der schweizerische mag uns alle drei nicht.“
Sie kletterten die Hügel rauf und runter und huschten durch das Valle del Ri, wo sie direkt in Richtung Alpe Cedullo abbogen und zum Grenzübergang kurz vor Indemini grosszügig Abstand hielten.
„Das ist es?“, lächelte Giuditta durch die Trauer um ihr verlorenes altes Leben hindurch. Giuditta nahm das Bild eines einladenden Rustico mit viel Naturstein und Holz in sich auf und das schiefe, doch absolut heimelige schindelgedeckte Dach darunter.
„Ja, das ist es“, antwortete Alberto, stieg auf einen flachen Stein hinauf, streckte den Arm weit nach oben und schnappte sich den Schlüssel von einem schmalen Vorsprung an der Hauswand. Dann schloss er auf, tastete im Dunkeln nach dem Beistelltischchen gleich neben dem Eingang und trug Ölfunzel und Streichholzschachtel nach draussen, um den Glaszylinder abzunehmen, den Docht im Dämmerlicht anzuzünden und den Glaszylinder wieder aufzustecken. Von Neuem drinnen, stellte er die antike Lampe auf den grossen runden Tisch am anderen Ende der Stube.
„Setzt euch“, sagte Alberto zu den beiden, griff sich ein paar Holzscheite, die neben dem Kamin aufgeschichtet warteten, büschelte sie zusammen mit altem Zeitungspapier, das er zu lockeren Kugeln formte, und feinen Holzspänen zu einem Haufen, den er vorsichtig zum Brennen brachte.
„Schön warm“, bemerkte Beniamino, der sich langsam entspannte.
„Beniamino, wir sind in der Schweiz. Wir haben es geschafft“, weinte Giuditta und umarmte ihren Mann ganz fest.
Die Küche befand sich im selben Raum wie die Stube, gleich neben dem Kamin, und bestand eigentlich nur aus einem Vorratsschrank, der eher eine Vorratskammer auf der Nordseite des Hauses war, einem Arbeitstisch, zwei Stühlen und einem Schubladenmöbel. Zwischen Küche und Kamin hingen und standen verschiedene feuerfeste Utensilien, unter anderem ein Bratrost.
„Und das Wasser ist draussen?“, war Giuditta aufgestanden und inspizierte den ganzen Raum.
„Ja. Aus dem Bach, über den wir gerade gesprungen sind“, lachte Alberto. „Sie wollen es hier romantisch haben. Das heisst für sie anscheinend ohne jeglichen Komfort.“
„Macht nichts“, winkte Beniamino ab, „wir sind froh, in Sicherheit zu sein.“
„Und das Schlafzimmer ist dort?“, zeigte Giuditta auf die einzige noch übrige Türe innerhalb des Hauses.
„Ja. Mach sie ruhig auf und lass sie gleich offen. Dann wird’s überall angenehm warm.“
„Ein grosses Bett und ein kleines“, stellte Giuditta, die mit der Ölfunzel in den Raum leuchtete, fest.
„Das