Claudia Hirsch

Von der Freiheit, ich zu sein


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oder “ Was hast du heute gelernt?”. Die zweite zielt tiefer und erwartet, offen vor der Gruppe über die eigene Wahrheit zu sprechen. Frei vor einer Gruppe zu reden, ist per se nicht einfach. Vor fremden Menschen einen Seelenstriptease hinzulegen, fügt dem ganzen eine Würze hinzu, die nicht nach jedermanns Geschmack ist. So stößt in dieser Woche eine der Fragen auf ganz besonderen Widerstand bei mir. Sie lautet: “Was tust du, damit andere Menschen dich nett finden? Was ist deine Strategie?” Ich stocke innerlich und finde es im ersten Moment total doof, öffentlich über so etwas zu sprechen. Außerdem habe ich mir darüber noch nie Gedanken gemacht. Als allererstes kommen mir dazu Strategien anderer in den Sinn. Zum Beispiel, in eine niedliche Kleinkindstimme zu verfallen. In meinen Augen bewirkt das zwar genau das Gegenteil von Sympathie und doch tue ich es selbst manchmal. Ich glaube, meine Strategie ist, mich zu erklären, mit all meinen dunklen Seiten. Offenzulegen wie unperfekt ich bin und vor allem, wie destruktiv ich manchmal denke. Ich mache mich klein, um weniger gefährlich zu scheinen. Doch am Ende ist es egal, welche Methode ein jeder verfolgt. Das Ziel ist immer gleich: “Schau her, ich tu doch nichts.”

      Diese Erkenntnis habe ich schnell gefasst, aber es fügt sich der Druck hinzu, als Älteste hier meine Antwort in schlaue und weise Worte zu verpacken. Ein Talkingstick geht herum und wer ihn in der Hand hält, darf sprechen. Bis ich an der Reihe bin, habe ich Zeit, mir ein paar Sätze zu überlegen. Theoretisch. Aber meine Multitasking Fähigkeit ist begrenzt, ich kann nicht zuhören und denken zur selben Zeit. Das stresst mich. Mit ungutem Gefühl beobachte ich das Näherkommen des Stocks. Als er mich erreicht, lasse ich meinem Redefluss freien Lauf. Komme vom Hölzchen zum Stöckchen, umkreise das Thema weitläufig und sage nichts von dem, was ich sagen wollte. Als ich den Stock weitergebe, habe ich trotzdem das Gefühl, verstanden worden zu sein.

      Jeden Abend zeigt sich aufs Neue, dass es eigentlich nebensächlich ist, welche Frage gestellt wird. Die Antwort kommt immer aus dem Umfeld des Themas, das die Gefragte in diesem Moment am meisten beschäftigt. Helen aus Hamburg, eine junge Frau, die allein für ein paar Wochen Südostasien bereist, erzählt von ihrer Schwester. Von einem Tag auf den anderen Tag erlitt sie vor zwei Jahren eine extreme Persönlichkeitsveränderung, die mit der Diagnose einer Krankheit erst richtig Fahrt aufnahm, die durch den gleichnamigen Film als „Feuer im Kopf“ bekannt wurde. Eine Autoimmun-Hirnentzündung, die zu Krampfanfällen, Psychosen, Atemstörung und Koma führen kann. Zwei Jahre begleitet Helen mit ihrer ganzen Familie den Prozess. Sie erzählt von den Kraftanstrengungen und dem Horror, der alle fest im Griff hatte und immer noch hat, denn ihre Schwester ist nie wieder die Alte geworden.

      Die Themen der jungen Menschen drehen sich meist um ihre Ursprungsfamilie. Es geht um die Folgen erfahrenen Liebesentzugs und um die Nichterfüllung von an sie gestellten Erwartungen, hinsichtlich ihrer beruflichen, aber auch ihrer privaten Entwicklung und immer noch um das konservative Lebenskonzept von Heirat, Kinderkriegen versus Ausbruch aus den gesellschaftlichen Normen. Dem von den Eltern erwarteten nächsten Schritt, auf ein abgeschlossenes Studium eine berufliche Karriere folgen zu lassen versus der Freiheit, sich auf low budget in ein Projekt wie diesem hier einzubuchen und sich mit Themen wie Liebe und Buddhismus auseinanderzusetzen. Es geht um Essstörungen, Liebeskummer, Selbsthass, um Einsamkeit, darum, die eigene Homosexualität anzunehmen und erfahrenen Missbrauch zu integrieren. So geliebt zu werden, wie man ist. Als das, was man ist. Gemessen zu werden an dem, wer man ist und nicht an dem, was man tut. Und das bedingungslos. Ich würde mir wünschen, dass das Recht, zumindest von seinen eigenen Eltern bedingungslos geliebt zu werden, in die Grundrechte eines jeden Menschen aufgenommen wird. Unter Strafe bei Nichteinhaltung. Bedingungslose Elternliebe ist die Basis für eine barrierefreie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und für den Start in ein glückliches Leben.

      All diese Themen sind mir nicht fremd, aber meine Lebenszeit hat mich mittlerweile darüber hinaus geführt. Mir wird auf diesem Workshop klar, dass das Mindfulness Project für meine eigene Entwicklung nicht der nächste Schritt sein kann. Bleibe ich hier, nehme ich die Mutterrolle für all die verlorenen Kinder ein. Ernte neben Mutterbild-Projektionen eventuell auch Zuneigung und Bewunderung, aber beschäftige mich ausschließlich mit Themen, die nicht mehr meine sind. Ich brauche ein erwachseneres Umfeld, um selbst zu wachsen.

      Mit dieser Klarheit steigt Unmut in mir auf. Obwohl ich die Inhalte des Workshops, die Unterrichtseinheiten von Anja, Christian und Swami Atma, der mittlerweile wieder gesund ist, sehr schätze, geht mir der strenge Zeitplan auf die Nerven. Ich will weg! Ich sehne das Ende der acht Tage herbei. Ich habe einfach unterschätzt, wie ich auf einen strengen, über drei Wochen vorgegebenen Tagesablauf reagiere. Zehn Tage im Kloster, drei Tage im Haus von Anja und Christian, acht Tage mit Swami Atma markieren ganz klar meine persönliche Obergrenze an Fremdbestimmung. Ich stehe kurz vor einem Gruppenkoller und glaube, Greta geht es ganz ähnlich. In den letzten Tagen habe ich sie häufiger nur noch von hinten auf dem Sozius eines Motorrads gesehen. Sie hat sich mit einer Volontärin angefreundet und nutzt jede Chance, das Weite zu suchen. Es wird Zeit, dass unsere gemeinsame Reise beginnt.

      Vielleicht ist ja auch der Tod impermanent

      Der letzte Tag unseres Retreats fällt wieder auf einen Buddhatag und nachdem wir alle gepackt haben, fahren wir gemeinsam nach Khon Kaen. Noch einmal besuchen wir das Kloster Ban Non Taan. Mein erster Weg führt in die Massageschule. In der 2qm kleinen Umkleidekabine, in der alle Klienten ihre Alltagskleidung gegen ein Massage Outfit tauschen, hängt schon Swamis Robe. Es hat etwas sehr Amüsantes, nach den letzten acht Tagen sein orangefarbenes Gewand plötzlich ohne Inhalt und für jeden frei zugänglich hier in der Kammer zu finden. Nach der Massage ist der heutige Höhepunkt seine Yogastunde in der großen Buddhahalle. Die Thais, glücklich über die willkommene Ablenkung, kichern, quietschen und gackern sich in die Haltungen hinein. Es ist die lebendigste Yogaeinheit der letzten Wochen und ein würdiger Abschied von Swami Atma.

      Ein letztes Mal in diesem Jahr gehe ich über das friedliche Klostergelände in Richtung Ausgang, als meine Augen einen kleinen Hund erblicken, der vorsichtig zwischen den Beinen eines Mönchs hervorlugt. Was für eine Überraschung! Es ist der kleine Hund, der in unserem Meditationsretreat wie tot davongetragen wurde. Wie durch ein Wunder hat er die Attacke seines großen Artgenossen mit mehrfach gebrochener Wirbelsäule überlebt. Ein wenig zerzaust, das Fell nach der Operation noch nicht ganz nachgewachsen, erinnert er an eine Figur aus dem Stephen-King-Roman „Friedhof der Kuscheltiere“. Vielleicht ist ja auch der Tod impermanent?

      Unser Abschied von Khon Kaen fällt auf das Ok Phansa Fest, mit dem das Ende der Regenzeit in der Isaan Region, aber auch das Ende der Buddhistischen Fastenzeit gefeiert wird. Wo sonst allabendlich die Stände des Nachtmarkts am Seeufer aufgebaut sind, ist für heute ein Volksfest entstanden. Alle Bewohner der Stadt scheinen versammelt, um mit selbstgebastelten Lichtbooten den See zu erhellen, zu essen und zu feiern. Für ein paar Stunden stürze ich mich ins asiatische Gewühl und genieße die kulinarischen Spezialitäten der Isaan Region. Curries, Papaya Salat und Vegetarisches vom Spieß. Dabei treffe ich immer wieder auf Teilnehmer des vergangenen Retreats. Wir verabschieden uns, halten uns 20 Sekunden in den Armen und geben uns gegenseitig den Segen für eine gute Weiterreise. Schon morgen werde ich mit Greta nach Chiang Mai fliegen.

      Chiang Mai ist eine geschichtsreiche Stadt

      Als Greta am Morgen aufwacht, geht es ihr gar nicht gut. Sie hat leichtes Fieber, Durchfall und Bauchschmerzen. Ich denke sofort an das berüchtigte Dengue-Fieber. Aber dafür zeigt sie eher atypische Symptome. Obwohl es auf dem Land Unmengen der das Virus übertragenden Tigermücken gab, nehmen wir an, dass sie auf dem Markt etwas Schlechtes gegessen hat. Da wir beide fürs Erste genug von Khon Kaen haben, besteigen wir wie geplant das Flugzeug nach Chiang Mai. Gegen Mittag kreisen wir schon in der Warteschleife über der Stadt. Greta dämmert fiebrig neben mir vor sich hin. Das Wetter auf dieser Seite Thailands ist schlecht. Es regnet in Strömen und die Landung ist extrem ruckelig. Zu ruckelig für die Thailänderin zu meiner anderen Seite. Verzweifelt bittet sie auf Thai um meine leere Jackfruitchips-Tüte, was ich zuerst gar nicht verstehe. Dann reißt sie sie mir aus den Händen und füllt sie augenblicklich mit Erbrochenem. Die Ärmste ist sehr diskret und handhabt ihre Reisekrankheit super professionell. Zum Glück, denn