Claudia Hirsch

Von der Freiheit, ich zu sein


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Bis um 13.00 ruhen wir, meditieren bis 16.00 Uhr, ruhen bis 18.00 Uhr.

      Ajahn Somchai nimmt jeden Abend in der großen Buddhahalle Platz, um zu uns zu sprechen. Nicht nur zu uns als Gruppe, auch zu der Sangah. Er hält jeden Tag einen Dhamma oder Dharma Talk. In der Mitte der alten Buddhahalle steht ein großer Altar mit goldenen Buddhastatuen und Kerzen. Davor ein Podest mit rotem Teppich bespannt, auf dem die Mönche ihrem Status entsprechend sitzen. Ganz vorn natürlich Somchei. Die Novizen sitzen nicht auf sondern vor dem Podest und wir Laien sitzen in mehreren Reihen hinter ihnen ebenfalls am Boden. Das Podest ist das Zentrum der Halle und wird umrundet von einer Art Parcours für die Gehmeditation. Mit Somcheis Eintreffen beginnt das Abendprogramm. Eine Stunde lang chanten wir von Buddhas Leben und Lehren auf Pali. Es wird vermutet, dass die Texte erstmals im ersten Jahrhundert vor Christus aufgezeichnet und bis dahin immer mündlich in Form von Gesängen weitergegeben wurden. Jeder von uns bekommt ein Chanting Book, in dem der Pali Kanon mit seiner englischen Übersetzung steht. Pali ist wie das im Yoga häufiger verwendete Sanskrit eine mittelindische Sakralsprache, in der die heiligen Texte Asiens verfasst wurden und die heutzutage nur noch die Gelehrten verstehen. Das Chanten soll die Weisheit unserer Buddhanatur aktivieren und wenn ich den Einstieg in in die heilenden Klänge finde, kann ich erahnen, dass so etwas in mir steckt. Doch an manchen Tagen verbringe ich mehr Zeit mit dem Suchen der Textstelle, als mit Singen.

      Nachdem der letzte Ton in den Tiefen der Hallen verebbt ist, beginnt Somchei seinen Talk. Wenn er das auf Thai tut, ist Wachbleiben eine Herausforderung besonderer Art. Wechselt er wieder ins Englische, verstehe ich manchmal genauso wenig wie vorher. Ajahn Somchei hat die englische Sprache in Indien gelernt und es ist schwierig für mich, ihm zu folgen. Glücklicherweise verpackt er seine Lehren in Geschichten, die er mehrmals wiederholt und so hat zumindest die Essenz der Weisheit eine gute Chance durchzudringen.

      Was damit gemeint ist, unsere Buddhanatur zu entdecken, macht er an einer wahren Geschichte deutlich, die sich vor mehr als vierhundert Jahren zutrug. Thailands damaliger König ließ aus dem ganzen Land mehr als 1.200 Buddhastatuen in die damals neue Hauptstadt Bangkok bringen. Darunter auch eine drei Meter hohe Tonstatue. Schon allein aufgrund ihres Alters wurde sie verehrt. Als Renovierungsarbeiten in den 1950er Jahren den Tonmantel beschädigten, kam ein Buddha aus reinem Gold zum Vorschein. Über 5,5 Tonnen schwer. Der Ton sollte den Gold-Buddha vor Raub und Plünderung schützen und die Menschheit vergaß im Laufe des auf 700 Jahre geschätzten Alters der Statue ihren wahren Kern. So wie wir die in uns verborgene Buddhanatur vergessen haben, die unberührt von den Prägungen des Lebens in uns ruht. Zahlreiche Glaubenssätze und Überzeugungen, dass Dinge so sind, wie wir sie wahrnehmen, verschleiern unseren wahren Kern und es gilt, den Tonmantel Stück für Stück abzutragen, um das höchste in uns ruhende Potenzial wieder freizulegen. Im Tibetischen Totenbuch steht: O nobly born, o you of glorious origins, remember your radiant true nature, the essence of mind. Trust it. Return to it. It is home. O, Edelgeborener. O, du ruhmreicher Herkunft. Erinnere dich an deine strahlende, wahre Natur, die Essenz des Geistes. Vertraue ihr. Kehre dorthin zurück. Es ist zu Hause.

      Ajahn Somchei spricht über Dukkha. Übersetzt wird Dukkha häufig mit Worten wie Leid, Kummer oder Elend. Aber ganz so einfach ist das nicht. In dem Begriff steckt neben vielen anderen Vorstellungen auch die Idee des Unbefriedigtseins oder ein unbefriedigender Zustand. Blickt man zum Ursprung der Wortwurzel beschreibt Dukkha ein Rad, dass sich nicht störungsfrei um seine Nabe dreht. Vereinfacht könnte man sagen, Dukkha drückt aus, dass wir im Leben mit Hindernissen zu rechnen haben. Dass die Dinge nicht so laufen werden, wie wir sie uns vorstellen. Der Theravada Buddhismus sieht in der Akzeptanz von Dukkha die Quintessenz seiner Lehren. Dukkha ist das erste von drei Daseinsmerkmalen, dem alle physischen und psychischen Phänomene des Daseinskreislaufs unterworfen sind und gleichzeitig ist es die erste der vier edlen Wahrheiten. Sie als Realität anzunehmen, soll uns helfen, das Leben zu durchschauen. Laut Buddha hindert uns falsches Verstehen der Wirklichkeit daran, den Zustand von Glück (Sukha) zu erfahren. Gier ist es, Unwissenheit, Hass und Verblendung, die uns abhalten, unser Ziel zu erreichen und Freiheit von Schmerz und Leiden zu erlangen. Die Lösung aus dem Kreislauf des Leidens findet sich im Aufgeben von Begehren, im Kultivieren von Gleichmut und in der vierten Edlen Wahrheit: dem Edlen Achtfachen Pfad. Dem Weg der Mitte. Es ist ein Pfad zwischen den Extremen von Genusssucht und Selbstzüchtigung, von Luxus und Askese. Ich kann auch einem Saiteninstrument nur schöne Töne entlocken, wenn jede Saite richtig gespannt ist. Unter zu viel Spannung droht sie zu reißen, unter zu wenig Spannung bringt sie Misstöne hervor. Es gilt, das rechte Maß in allen Aspekten des Lebens zu finden.

      An der buddhistischen Philosophie gefällt mir besonders, dass sie von ihren Anhängern nicht erwartet, Spekulationen über Zusammenhänge des Lebens blind zu folgen. Sie ist vielmehr eine Philosophie der Tat. Selbsterfahrung ist ihr Weg. Und so führt uns Somchei in seinen Talks zum zweiten Daseinsmerksmal: Anicca - nichts besteht ewig. Unbeständigkeit gehört zum Kern aller Dinge, die im Universum existieren. Tatsächlich ist Veränderung das Verläßlichste, was es gibt und das läßt sich hervorragend in der Meditationspraxis beobachten. Unsere Konzentration, unsere Stabilität, psychisch wie physisch, Schmerz, unser Atem, wir selbst - alles ist Anicca. Kein Ding und kein Wesen verharrt in einem unveränderten Zustand. Nehme ich die Vergänglichkeit als unausweichlichen Bestandteil des Lebens an, kann ich mich an der Schönheit einer Blume erfreuen, obwohl sie bald welken wird. Es ist unser Festhalten an einen Ist-Zustand, das Leid erzeugt. Der Strom des ins Tal fließenden Wassers verursacht kein Leid, für den, der gelernt hat mit ihm zu schwimmen.

      

       Eine Übung

       Die erste Stufe der Gehmeditation.

       Stehe mit geschlossenen Augen am Anfang des von dir selbst gewählten Weges für deine Gehmeditation und spüre deinen Atem. Richte dich von innen her natürlich auf. Wenn du bereit bist, ö ffne deine Augen und lasse deinen Blick ungefähr zwei Meter vor dir am Boden ruhen. Um Spannungen im Nacken zu vermeiden, schaue nicht direkt hinunter zu deinen Füßen. Kreuze deine Hände entweder auf deinem Brust- oder Bauchraum oder auf dem Rücken. Diese Armhaltungen verhindern ein Nach-vorn-Sinken deines Oberk ö rpers, aber auch das Hin- und Herschwingen deiner Arme, was deine Konzentration st ö ren k ö nnte.

      Spüre deinen Stand und benenne innerlich, was du tust: „Stehen, stehen, stehen.

       Fasse den Entschluss zu gehen und benenne dieses Vorhaben in Gedanken: „Absicht zu gehen. Absicht zu gehen. Absicht zu gehen.“

       Richte deine innere Achtsamkeit auf deine Füß e.

       Denke: „Gehen. Gehen. Gehen.“

       Benenne die Bewegung deiner Füße:

      „Links geht vor. Rechts geht vor. Links geht vor. Rechts geht vor.“ usw.

       Dein Hauptanliegen ist dabei die Achtsamkeit in dem, was du tust.

       Am Ende deines Weges, holst du mit einem „Rechts geht ran.“ oder „Links geht ran.“ beide Füße auf eine Ebene.

      Benenne: „Stehen, stehen, stehen.

      Bereite dich vor, den Weg zurückzugehen: „Absicht zu drehen. Absicht zu drehen. Absicht zu drehen.

       In drei Schritten drehst du deinen K ö rper auf der Stelle und notierst dabei:

      „Drehen. Drehen. Drehen.“

       Du schaust in die Richtung, aus der du gekommen bist. Notiere dein Stehen:

      „Stehen, stehen, stehen.

       Dann beginnst du wieder von vorn.

      „Absicht zu gehen. Absicht zu gehen. Absicht zu gehen.

      „Links geht vor. Rechts geht vor. Links geht vor. Rechts geht vor…..

       Die Gehmeditation