Hand zu nehmen und mein Lebensschiff in paradiesische Gewässer zu schippern.
Doch vorher soll auch Greta einen würdigen Abschied von ihrer Kindheit auf einer gemeinsamen Reise bekommen. Wie schon ihren Geschwistern zuvor, schenke ich ihr vier Wochen Thailand. Los geht unser Trip mit einem zehntägigen Schweigeretreat im Tempel von Ajahn Somchei und zum Ende unserer gemeinsamen Zeit wollen wir für ein paar Tage auf eine Insel. Was wir dazwischen machen, steht noch nicht fest.
Meine Freunde Anja und Christian vom Mindfulness Project, die das Schweigeretreat organisieren, haben die Tage wie im letzten Jahr um den 31. Dezember gelegt. Ich kann mein Glück kaum fassen, das spektakuläre Silvester Fest im Meditationszentrum von Ajahn Dong jetzt auch noch einmal mit Greta zu erleben.
Ein Rückblick: Es war der letzte Abend des Jahres 2018 und Halbzeit unseres 10-tägigen-Schweigeretreats im Kloster Ban Nontan, als mein Sohn und ich mit unserer Meditationsgruppe zur Jahresendzeremonie vom Kloster in das Meditationszentrum von Ajahn Dong pilgerten. Wir trugen alle das gleiche helle Ensemble aus einer dünnen Baumwollhose und einem kragenlosen Hemd, das uns für die Menschen der Straße sofort als Schüler des Klosters auswies. In dieser an Pyjamas erinnernden Kleidung wanderten wir in Zweier-Pärchen hintereinander aufgereiht durch die geschäftige Stadt Khon Kaen. Wir waren mehr als vierzig Teilnehmer. Viele Geschäftsleute kamen aus ihren Läden, um uns zu begrüßen und manch einer weinte vor Freude darüber, uns Farrangs, so nennen die Thais alle Fremden, so zu sehen. Wenn du dich einem Vipassana Retreat unterziehst, meditierst du in der Vorstellung praktizierender Buddhisten nicht nur für deinen eigenen, sondern auch für den Weltfrieden und dieses Bemühen schließt jeden einzelnen von ihnen mit ein. Mehr Anerkennung kann man als Ausländer der thailändischen Kultur nicht entgegenbringen und dem entsprechend groß war das Wohlwollen, das uns auf der Straße entgegenströmte. Man bedankte sich überschwänglich bei uns, dass wir diese Arbeit an uns selbst zum Wohle aller Lebewesen auf uns nahmen. Vor Rührung liefen auch mir Tränen die Wangen hinunter und da ich keine Vorstellung hatte, was uns bei Dong erwartete, trat ich mit dem festen Vorsatz an, die Silvesternacht durchzumeditieren. Ich wollte auf Schlaf verzichten und so der uns allen entgegengebrachten Zuneigung gerecht werden.
Schon aus der Ferne konnte ich hunderte, wenn nicht sogar tausende von Menschen auf dem von gleißendem Licht gefluteten Gelände des Meditationszentrums erkennen. Mit jedem Schritt, den wir näher kamen, manifestierte sich die Geräuschkulisse, bis sie zum Greifen nah schien. Das Meditationszentrum war zu einem Volksfestplatz mutiert. Gassen voll mit Ständen boten Leckereien und Getränke an. Und alles war kostenlos. Der weiße Marmor der meterhohen Buddhastatue in der Mitte des Zentrums reflektierte das Licht über ein Lager aus Zelten und Schlafsäcken, das sich in mehreren Reihen rund um sie herum aufgebaut hatte. Auf dem Sockel, der die Statue trug, saß Ajahn Dong mit seinen Mönchen und chantete non-stop buddhistische Mantren, die sich via Lautsprecher über die Menge ergossen und sie wie in eine warme Decke hüllten. Von einer Hand des Buddhas spannten sich einem gigantischen Spinnennetz gleich Baumwollfäden über das gesamte Gelände. Egal, wo ich mich befand, immer baumelte so ein Faden über meinem Kopf und bot sich an, mich um Kopf oder Arm geschlungen mit Buddha, den Mönchen und allen anderen Besuchern zu verbinden. Nach den Tagen der Abgeschiedenheit und Stille im Kloster fand ich mich damals von jetzt auf gleich mitten in diesem Treiben. Ich war so überwältigt, ja überfordert von den sensuellen Eindrücken, die da auf mich einprasselten, dass ich unfähig war, meinen Mund zu schließen. Zu unserer aller Erleichterung wurden wir für diese eine Nacht von unserem Schweigegelübde entbunden. Der Geist hatte ohnehin keine Chance ruhig zu bleiben. Und so chantete ich gemeinsam mit dieser riesigen Menschenmenge bis in den frühen Morgen, umrundete in Gruppen zu Hunderten die Buddha Statue, meditierte, redete, lachte und aß viel zu viel von dem leckeren in Bananenblättern gegarten Klebereis Khan Thom Mad. Zwischendurch fiel ich, wo immer ich gerade war, in einen leichten, nur wenige Minuten dauernden Schlaf. Ich wollte nichts von alldem verpassen. Als am frühen Morgen die Nacht der aufgehenden Sonne wich, versammelte sich die übrig gebliebene Menschenmenge ein letztes Mal am Rundweg um den Buddha und füllte die Bettelschalen der vorbeiziehenden Mönche. Mit dieser Praxis, die zu einer der zentralsten im Theravada Buddhismus gehört, sammelt man positive Karmapunkte. Der Gedanke dahinter ist einfach: wer gibt, bekommt. Den krönenden Abschluss fand die Zeremonie mit reichlich buddhistischem Weihwasser in einer Segnung von Ajahn Somchei. Damit wurde die kichernde und johlende Menge ins Jahr 2019 entlassen. Unsere Gruppe ging zurück ins Kloster und damit ins Schweigen. Ich glaube, ich habe nie ein schöneres Silvesterfest gefeiert. Es war das Highlight der Reise mit meinem Sohn. Ajahn Dong ist mein ganz persönlicher Lieblingsmönch. In einem Leben vor seiner Ordination war er Thai Boxer und praktizierte die traditionelle Kampfkunst als Schuldeneintreiber für die thailändische Mafia. Aus dieser Zeit stammen die für Muay Thai Kämpfer typischen Sak Yant Tattoos, die seinen drahtigen Körper schmücken. Unter Berücksichtigung einiger mystischer Regeln sollen sie ihren Träger schützen und ihn stark machen. Dazu wird das Tattoo von einem Mönch mit einem Bambusrohr gestochen und der Tinte wird mindestens eine magische Substanz beigemischt. Oft ist es die Asche eines toten Mönchs. Vielleicht hat so eine Tätowierungssitzung Dongs Transformationsprozess vom Bad Boy zu dem, was er heute ist, eingeläutet. Wie dem auch sei, er ist ein leuchtendes Beispiel dafür, was jahrzehntelange buddhistische Praxis vermag. Obwohl er weder Englisch spricht noch versteht, hatte ich nie das Gefühl, mit ihm nicht kommunizieren zu können. Das Verstehen läuft mit ihm auf einer nonverbalen Ebene und immer wenn er in seinem orangefarbenen Ordensgewand und seinen antiken, ledernden Kampfhandschuhen vor mir steht, scheint es als schaue er mit seinem unfassbar schönen und offenen Lächeln direkt in meine Seele. In diesen Momenten steht die Welt still und Sorgen existieren nicht.
Nachdem er viele Jahre als Mönch im Tempel seines Lehrers Ajahn Somchei lernte, wurde er mit der Leitung dieses Meditationszentrums betraut. Erstmals habe ich das damals verwaist anmutende Gelände 2011 besucht. Der Unterschied zu dem magischen Ort, der bis heute dort gewachsen ist, könnte größer nicht sein. Interessanterweise scheint Dongs Aura abzufärben. Die ordinierten Männer, die er um sich schart, sind wie er von einer ganz besonderen Art und strahlen eine für Mönche untypische männliche Energie aus. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie eine ähnliche Vita haben wie er.
Während meiner Planung für die Reise mit Greta höre ich beiläufig, dass der Tempel von Ajahn Somchei im April 2020 gemeinsam mit dem Mindfulness Project eine vierwöchige Laienordination plant. Erstmalig und vielleicht sogar einmalig will das Kloster seine Pforten Frauen und Männern gleichermaßen öffnen. Einen Monat lang dürfen Menschen unabhängig ihrer Religion und ihres Geschlechts als Nonne und Mönch im Kloster leben und lernen. Im ersten Moment scheint mir dieses Vorhaben wenig verlockend, stoße ich doch schon in einem Zehn-Tage-Retreat an meine Grenzen. Aber in meinem Unterbewusstsein köchelt diese erst so fremde Idee von mir unbeachtet vor sich hin. Ganz heimlich wandelt sie sich dort in die Überzeugung, eine Chance zu sein und den perfekten Einstieg in meinen neuen Lebensabschnitt zu markieren. Dann steht plötzlich für mich fest: ich will im April 2020 als Nonne ins Kloster ziehen, mir Kopf- und Augenbrauenhaare abrasieren lassen und schweigend vier Wochen jeden Tag 24 Stunden in Achtsamkeit verbringen.
Mit diesem Entschluss werde ich noch wagemutiger und entscheide, nach der Reise mit Greta gar nicht wieder nach Hamburg zurückzukehren. Ich will die drei Monate bis zur Ordination als Volontärin im Mindfulness Project leben und dort mehr über Gruppenführung lernen.
Im Nu weitet sich damit meine Planung von einer vierwöchigen Reise zu zweit auf weitere drei Monate allein aus. Dank einer Lebensversicherung, die ich seit 30 Jahren monatlich mit einer kleinen Summe füttere, ist das Finanzielle kein Problem. Obwohl ich nie eine war, die monetär in die Zukunft plant, bin ich jetzt heilfroh, es wenigstens einmal getan zu haben.
Was sich leicht erdenkt, lässt sich gar nicht so leicht umsetzen. Was passiert mit meinem Hund, der Katze, dem Haus, meinem Job und den Yogakursen? Wie geht das überhaupt, für Monate aus dem angestammten Umfeld zu verschwinden, aus der Erwerbstätigkeit, aus meiner eigenen Existenz? Wie jedes Mitglied einer Gesellschaft und vor allem wie jedes Mitglied der kleinsten Zelle einer Gesellschaft, habe ich im Laufe der Jahre viel Verantwortung übernommen. Manche ist nicht selbst gewählt, klebt aber an mir. Dazu gehören die Tiere, die wir uns als Familie im Laufe der Jahre angeschafft haben. Auch der kleine Hund Juli. Sie sollte als Surrogat die Kinder über den Verlust des