Claudia Hirsch

Von der Freiheit, ich zu sein


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ist. Sie hängt an mir. Jetzt ist sie alt, herzkrank und manchmal habe ich den Verdacht, auch ein wenig schwermütig. Alle Ideen, sie während meiner Abwesenheit unterzubringen, fühlen sich sub-optimal an.

      Da flattert die Nachricht herein, dass das zehntägige Vipassana-Retreat vorgezogen wird. Es soll jetzt schon drei Monate früher, nämlich im September beginnen. Oh je, wie soll das denn gehen? Damit sind all meine bisher gemachten Überlegungen gegenstandslos. In mir überschlagen sich Gefühle von Verwirrung und Enttäuschung. Ich bin genervt über dieses Hin und Her. Aber kann ich es ändern? Es hilft nichts, ich muss neu planen.

      Eine Reise von September bis Mai sind doppelt so viele Monate. Das macht die Organisation nicht einfacher. Eine Möglichkeit wäre, die Reise nach der Hälfte der Zeit für ein paar Wochen zu unterbrechen und ein zweites Mal für drei Monate zu fahren. Also mit Greta im September nach Thailand und im Dezember für Weihnachten wieder zurück nach Hamburg. Dann im Februar oder März wieder nach Thailand und im Mai zurück. Das wird die neue Basis, meiner Planung.

      Bis April halten sich die Ergebnisse meiner Recherchen in Grenzen und als ich Mitte des Monats von einem viertägigen Seminar im Wendland nach Hause komme, finde ich Juli in einem schlechten Zustand vor. Sie freut sich nur mäßig, als sie mich sieht und verkriecht sich so tief im Garten, wie es nur geht. Mir ist klar, dass Hunde so etwas tun, wenn sie sich einen Platz zum Sterben suchen. Stunden später stirbt sie mir tatsächlich unter der Hand auf dem Weg ins Krankenhaus.

      Ich bin zutiefst erschüttert und fühle mich für ihren Tod verantwortlich. Hat sie gespürt, dass ich gehen will? Habe ich sie durch Äußerungen oder subtiles Verhalten in den Tod getrieben? Bin ich ein schlechter, egoistischer Mensch? Ich mache mir Vorwürfe, meiner Verantwortung nicht gerecht geworden zu sein. Die kleine Juli bekommt eine Beerdigung im engsten Familienkreis und eine Widmung auf der Gartenbank.

      Neben einer großen Trauer ist auch ein Raum entstanden, der es theoretisch möglich macht, volle acht Monate auf Reisen zu gehen. Aus einem vorübergehenden Nicht-da-sein, aus einem längerem Urlaub, kann etwas ganz anderes entstehen. Ich kann mir einen Traum erfüllen: ein selbst finanziertes Sabbatical. Und auf einmal spüre ich den Mut auszuprobieren, was ich in den letzten Jahrzehnten auf meinem Yogaweg immer wieder gehört habe: Lass los und vertraue, dann findet sich alles von selbst. Oder wie die Schriftstellerin Hilde Domin es so schön einfach ausdrückt: Ich setzte den Fuss in die Luft und sie trug.

      Na, dann los! Ich kündige meinen Job in einer Personalberatung zu Ende August und mache mich auf die Suche nach Yogalehrern, die Lust haben, meine vier gut laufenden Kurse zu übernehmen - nicht vorübergehend, sondern für immer. Ich suche jemanden, der auf mein Haus und auf den dort lebenden Kater aufpasst, regele die Weiterzahlung meiner Krankenversicherung, bereite die Steuerunterlagen vor, räume das Haus auf, mache den Öltank voll, schreibe eine idiotensichere Bedienungsanleitung für den Umgang mit allem, was ich zurücklasse.

      Abenteuer ich bin bereit - ich komme!

      Doch bis es wirklich losgeht, lerne ich noch viel über Sinn und Unsinn von Planung. Wieder zufällig erfahre ich, dass meine Freunde vom Mindfulness Project über die Weihnachtstage gar nicht in Thailand sein werden. Sie wollen nach Deutschland fahren, um ihre Familien zu besuchen. Das hatte mir anders vorgestellt. Bei dem Gedanken, allein Weihnachten und Silvester im Norden Thailands zu verbringen, ziehen dunkle Wolken in mir auf. Doch auf wundersame Weise hat die Vorbereitung der Reise meine Resilienz gestärkt und ich sehe schnell die Chance, die darin steckt. Ich habe die luxuriöse Freiheit, diese Reise wirklich nur für mich zu gestalten und Orte zu besuchen, die ich immer schon sehen wollte.

      Zu allererst fällt mir Auroville ein. Eine Kommune im südindischen Staat Tamil Nadu. Eigentlich wollte ich nie wieder nach Indien. Aber Auroville scheint anders. Ich lese darüber alles, was ich finden kann und schaue mir unendlich viele Filme auf YouTube an. Ich bin begeistert! Nach einem Treffen mit meinem früheren Yogalehrer und Auroville-Kenner Otto, von dem ich vor über achtzehn Jahren von diesem Stadtprojekt erfahren habe, steht fest: da will ich hin! Und weil es am besten in meine Visa Planung für Thailand passt, sollen es gleich zwei Monate werden. Ich buche erste Übernachtungen in Auroville und kontaktiere tatsächlich schon einen Taxifahrer, der mich im November vom Flughafen abholen soll. Ein bisschen Angst spüre ich nämlich schon bei dem Gedanken, allein nach Indien zu reisen.

      Ich ertappe mich dabei, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Zuallererst muss ich die gemeinsame Zeit mit Greta gestalten. Was könnte ich ihr in den knappen drei Wochen nach dem Vipassana Retreat in Thailand zeigen? Was würde ihr Spaß machen? Ich hätte so gern einen festen Rahmen, ein wenig Sicherheit, eine Idee, an der ich mich während der Reise entlanghangeln kann. Immer wieder arbeite ich ein Programm aus, aber kurz vor Buchung von Flügen und Hotels verwerfe ich alles wieder. Mir wird immer deutlicher, dass Sicherheit einfach nicht planbar ist.

      Wie zur Bestätigung erzählt mir meine Freundin Anja, dass sie ihren Lieblings-Swami namens Atma aus Rishikesh gewinnen konnte, für einen Workshop nach Thailand zu kommen. Er will im Mindfulness Project eine Fortbildung zu Chakren und Klang anbieten. Das ist genau mein Thema! Kurzerhand buche ich das achttägige Retreat für die Zeit im Anschluss an unser Vipassana Retreat. Für mich und Greta.

      Wie erwartet ist sie wenig begeistert von der Idee, ihre wertvolle Reisezeit mit dem Studium altindischer Energiekonzepte zu verschwenden. Und ich kann ihr nur Recht geben. Ich habe ohne wirklich darüber nachzudenken, einfach schon mal drei Wochen ihrer vierwöchigen Reise voll verplant. Aber da Greta noch keine Idee hat, wie ihr Leben danach weitergehen wird, verlängere ich unsere gemeinsame Zeit kurzerhand um weitere zwei Wochen auf insgesamt sechs. Was für eine Freiheit!

      Während dieser Planungszeit steckt Greta eines Tages ihren Kopf durch meine Bürotür und will wissen, ob ich denn auch für sie eine Reisekrankenversicherung abgeschlossen hätte. Eigentlich wollte ich das gar nicht und nur, weil ich mich in meiner Nachlässigkeit ertappt fühle, buche ich für sie schnell noch eine Basisversicherung für ein paar Euro. Später soll ich darüber noch sehr dankbar sein.

      Drei Wochen vor unserem Abreisetermin klingelt mein Telefon. Es ist Gretas Freund. Mir ist sofort klar, dass etwas nicht stimmt. Er ruft aus dem Krankenhaus an. Die beiden waren auf der Elbe wakesurfen. Gleich bei Gretas erstem Versuch, auf der Heckwelle des Bootes zu reiten, hat sich das Seil um ihren linken Arm geschlungen und mit einem Ruck Elle und Speiche gebrochen. Die Fotos, die er mir schickt, sehen aus, als hätte sie am Unterarm ein zweites Handgelenk. Oh, mein Gott! In Blitzgeschwindigkeit durchspielt mein Hirn die vergangenen und zukünftigen Wochen und stellt alles in Frage.

      Sie hat die Wahl, sechs Wochen Gips zu tragen und sich zu schonen, bis die Knochen wieder stabil zusammengewachsen sind oder sich operieren zu lassen, was den Heilungsprozess beschleunigen würde. Auf Reisen mit schwerem Rucksack sind die Voraussetzungen für das erste Verfahren nicht optimal und schon zwei Tage später liegt Greta auf dem OP-Tisch. Schweren Herzens muss sie von ihrem mittlerweile gefassten Traum, im Anschluß weiter nach Bali zum Surfen zu fahren, Abschied nehmen. Der Arzt rät ihr von so einer Belastung ab. So ärgerlich die Situation auch ist, sie markiert wenigstens ein klares Ende unserer gemeinsamen Zeit und ermöglicht es mir, ihren Rückflug von Bangkok nach Hamburg zu buchen. Es wird der 1. November 2019 sein, vier Tage vor ihrem zwanzigsten Geburtstag.

      Die letzten Wochen vor unserer Abreise fließen wie feiner Sand im Stundenglas langsam aber unaufhörlich dahin. Schon bin ich aus meinem Job raus und mitten in der Planung eines Farewell Festes. Ich verabschiede mich von meinen Freunden, Yogis und Yoginis, werde beschenkt mit einer tollen Party, einem Flashmob und einem Ring. Es ist ein Ehering mit einer Gravur. Er soll uns über die Entfernung verbinden, soll mir finanziell die Rückkehr ermöglichen und mich als augenscheinlich verheiratete Frau vor übergriffigen Männern retten. Was für ein tolles Geschenk. Gretas Genesung schreitet voran und dann endlich fliegen wir über Helsinki nach Bangkok und von dort weiter in den Norden Thailands. Nach 20 Stunden Reisezeit landen wir in Khon Kaen. Morgen werden wir ins Kloster einziehen.

      Schweigen im Kloster

      Monate im Voraus habe ich uns mit einem befreundeten Pärchen aus Hamburg für den heutigen Abend zum Essen verabredet. Im ersten Moment