Claudia Hirsch

Von der Freiheit, ich zu sein


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zu sehen gäbe, dass noch viel Arbeit zu tun wäre bevor das Gelände für die nächste Gruppe bezugsbereit ist. Wir sind die ersten, die nach so einer Pause das Grundstück betreten. Als wir aus dem Pick-up steigen, sehe ich Erstaunen und auch einen Anflug von Mitleid in den Augen der Freunde. Auch in mir steigt ein mulmiges Gefühl auf bei dem Gedanken, hier schon bald acht Tage zu wohnen. Aber ich weigere mich, meine Gefühlsregung nach außen zu lassen und gebe mich betont lässig. Es ist, man könnte sagen, rudimentär. Außer einer kleinen schwarzen Katze, die sich wahnsinnig freut, uns zu sehen, gibt es hier hauptsächlich Wildnis. Brachland mit ein paar Holzkonstruktionen und einem See. Mir fehlt im Moment die Vorstellungskraft, wie ein Hier-Leben aussehen könnte. Wir begehen das ganze Grundstück und kämpfen uns durch das kniehohe Gras. Ich bin froh, als wir wieder ins Auto steigen und zum nächsten Grundstück fahren.

      Weil es auf dem offiziellen Projektland keine Privatsphäre gibt, lebt das Mindfulness Team auf einem anderen Grundstück, keine zwei Kilometer entfernt. Es ist der künftige Altersruhesitz eines Universitätsprofessors aus Khon Kaen, der eng mit dem Kloster von Ajahn Somchei verbunden ist. Bis der Professor hier irgendwann einmal einzieht, stellt er seinen Besitz dem Mindfulness Project kostenfrei zur Verfügung.

      Gleich zu Beginn einer langen Auffahrt, die an einem wunderschön eingewachsenen See endet, steht ein langgezogenes Gebäude, das das weiße Haus genannt wird. Hier leben vier Langzeit-Volontäre, allesamt junge Frauen mit ihren drei Hunden. Daneben unter Bäumen versteckt in einem Ein-Zimmer-Häuschen wohnt Pedro. Er ist schon seit zwei Jahren im Mindfulness Project und der best friend aller Frauen. Praktischerweise ist er schwul, weshalb das auch so gut klappt. Das orangefarbene Haupthaus liegt direkt am Seeufer. Hier wohnen Anja und Christian mit Kerry und Adrian. Sie bilden das Basisteam. Kerry ist für den Nutzgarten im Projekt zuständig und Adrian als Klimatechniker für alles, was kaputt gehen kann. Und das ist so ziemlich alles. Dem tropischen Klima ist kein Material gewachsen. Leder schimmelt, Gummi löst sich auf, Holz wird von Termiten pulverisiert, Plastik in Kürze brüchig.

      Durch eine Glasschiebetür betreten wir das Innere des Hauses, das ganz aus Lehm gebaut ist. Sie führt uns in ein Durchgangszimmer, das irgendwann mal ein Wohnzimmer sein wird. Doch noch ist es Lagerraum. Hier werden Greta und ich die nächsten Nächte schlafen. Nachdem wir die Hamburger Freunde verabschiedet haben, richten wir uns ein. Wir rollen eine Matte aus, schützen unseren Bereich mit einem Moskitonetz vor Krabbelgetier und einer kleinen, sehr aufdringlichen Katze, was nur mäßig gelingt. Einige der den Raum beherrschenden Kisten und Kästen, nutzen wir als Trennwand zu den anderen haarigen Mitbewohnern. Nachts werden wir den Raum auch mit vier Hunden teilen. Es ist auf seine ganz eigene Art gemütlich. Einen Wermutstropfen birgt die Wohnungssituation jedoch, denn es gibt kein frei zugängliches Badezimmer. Zur Dusche und zur Toilette geht der Weg durch Anjas und Christians Schlafzimmer. Nachts durch ihr Zimmer zu tapern, ist für mich problematisch. Das Gefühl, ihre Privatsphäre zu stören, schränkt mich in meiner Freiheit ein, zu pinkeln, wann immer ich will und muss. Aber was soll´s, man kann nicht alles haben. Vielleicht ist die Strategie des wenig Trinkens ein probates Mittel? Ich probiere das in der ersten Nacht aus und tatsächlich führt es dazu, dass ich weit über die Nacht hinaus, insgesamt zwölf Stunden, nicht zur Toilette muss. Doch ich habe die Wirkung von Hitze in Kombination mit körperlicher Bewegung unterschätzt. Schon am Morgen habe ich ein merkwürdiges Blasengefühl. Ich hatte solange keine Blasenentzündung, dass ich sie jetzt, hier mitten auf dem Land, auch nicht wahrhaben möchte. In der Hoffnung, dass es sich um einen vorübergehenden Anflug handelt, beginne ich gleich morgens ganz viel zu trinken.

      Die zentrale Medizin

      Für den heutigen Morgen steht das Aufräumen des Projektlandes auf dem Plan. Es sind nur noch zwei Tage, bevor der Workshop beginnt. Doch bevor es an die Arbeit geht, trifft sich das Team im Küchengebäude zu einem der üppigsten Frühstücke, die ich je erlebt habe. Irgendjemand findet sich immer, der ungefragt einen Haufen Eier brät, eine andere bereitet frisches Obst zu. Pedro, der großartig kocht und seine Fähigkeiten zum Wohle aller während des Projektbetriebs einbringt, zaubert einen Schokoladenporridge. Von allem gibt es Unmengen.

      Pedro ist Brasilianer und in den Favelas Rios aufgewachsen. Schon im letzten Jahr habe ich mitbekommen, dass er als Kind von seinem alkoholkranken Vater schlimm terrorisiert wurde. Damals erzählte er, dass er manchmal Schwierigkeiten hätte, Anteile seines Vaters nicht auf Christian zu projizieren. Dummerweise hieß auch sein Vater Christian, was für ihn eine scharfe Trennung der beiden Persönlichkeiten noch schwieriger zu machen scheint. Oberflächlich betrachtet ist Pedro ein liebevoller und glücklicher junger Mann. Doch ab und zu triggert irgendetwas seine Schattenseite und es öffnet sich ein dunkler Abgrund, aus dem es unbeherrscht und aggressiv brodelt. In solchen Momenten arbeitet er sein Vaterthema offen an Christian ab. Ihre Beziehung ist von einem extrem dynamischen Auf und Ab geprägt. Das bringt an manchen Tagen die Atmosphäre um sie herum zum Knistern und fühlt sich gar nicht gut an. An anderen Tagen wieder liegen sich die beiden in den Armen. Das ist überhaupt etwas, was im Mindfulness Project häufig zu beobachten ist. Es ist eine der wichtigsten Übungen, die zentrale Medizin. Im Projekt geht es um Heilung auf allen Ebenen. Heilung der unfruchtbaren thailändischen Erde und Heilung wunder Volontärseelen.

      Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, wie wichtig dabei körperliche Nähe ist. Eine Umarmung stimuliert Billionen Rezeptoren und schüttet das Kuschelhormon Oxytocin sowie das Glückshormon Serotonin aus. Stress wird gemildert, die Herzfrequenz sinkt, Angst wird reduziert, Vertrauen wächst. Und so krault hier schon morgens zwischen Porridge und Obstsalat jede jedem den Kopf, massiert und kuschelt. Das beste Ergebnis versprechen Umarmungen von mindestens 20 Sekunden Länge. Es ist so auffällig anders als in dem Leben, aus dem ich komme, dass es mir völlig unnatürlich erscheint. Ich habe Schwierigkeiten, mich darauf einzulassen. Für mich wirkt es geradezu befremdlich, dass alle acht Teammitglieder in einer Beziehung zueinander stehen und Zärtlichkeiten austauschen, wie es normalerweise nur Pärchen tun. In meiner Welt ist die Vorstellung, dass derartige Nähe mit einem Menschen meiner Geschlechtspräferenz in Sex mündet, fest verankert. Trotzdem probiere ich täglich von neuem, meine Grenzen zu lockern und so wird die gefühlte Ewigkeit, die das Frühstück jeden Morgen dauert, für mich zur Übungszeit.

      Beim Abwasch des Geschirrs an der offenen Spüle neben dem Küchengebäude fällt mein Blick auf ein kleines Häuschen. Frieda, eine Volontärin aus Island meint, dass sich ein Badezimmer darin verbergen würde. Im ersten Moment scheint diese Entdeckung die Lösung für mein nächtliches Toilettenproblem. Doch als ich die Tür öffne, wird klar, dass der Raum schon Jahre keinen menschlichen Kontakt mehr hatte und sich höchstens zu Studienzwecken über Renaturierung eignet. Neben Undefinierbarem liegt auch eine tote Ratte in der Dusche, die als solche nicht mehr zu erkennen ist. Weder die Ratte, noch die Dusche. Hier zu putzen, geschweige denn die Toilette zu benutzen... das traue ich mich nicht. Es wird sich schon eine Lösung finden. Jetzt müssen wir erst einmal an die Arbeit, die Zeit läuft.

      Beide Grundstücke liegen 15 Minuten zu Fuß oder fünf Minuten mit dem Motorrad voneinander entfernt. Eigentlich ein schöner Fußweg, wären die großen Hunde der anderen Bauern nicht. An manchen Tagen fangen sie dich mitten auf dem Weg ab und kommen im Rudel wild kläffend, die Zähne gefletscht von ihren Grundstücken angerannt. Vor einer Woche wurde eine Volontärin ins Bein gebissen, obwohl sie auf einem Motorrad fuhr. Sie trug eine blutende Wunde davon und hatte große Angst, sich mit Tollwut infiziert zu haben. Die Hunde sehen zwar ungepflegt und räudig aus, aber zum Glück ist ihre Befürchtung nicht eingetreten. Mit diesem Angriff haben die Köter aber deutlich gemacht, dass sie nicht bluffen. So wird jeder Fußweg zu einem Abenteuer und ein langer, stabiler Stock mein ständiger Begleiter.

      

       Ein Rezept

       Schokoladenporridge à la Pedro

       Zutaten

       120 g Haferflocken

       200 ml Wasser

       200 ml Mandelmilch

       2 EL Kakaopulver