Katharina Gato

Bittere Erdbeeren


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bekannt von den musikalischen Sparten, so war es nur logisch, dass es Operetten sein mussten, im Operettenhaus.

      Eines Tages war sie allein zu Hause. Die Mutter schloss stets das Wohnzimmer ab, wenn sie nicht anwesend war und zeigte somit schon früh ihr Misstrauen den Kindern gegenüber. Das Telefon im grünen Telefonmäntelchen stand auf einem kleinen Telefonschrank am Eingang des Durchgangsesszimmers. Da die Kinder keine Dummheiten machen sollten und womöglich telefonieren könnten, gab es nun etwas ganz Neues: Ein modernes Telefonschloss. Die Nr. 112 konnte man im Notfall trotz des Schlosses wählen, das zeigte der Papa den Schwestern.

      Die Mutter predigte schon sehr früh den Kindern, dass man nicht den Hörer abnehmen sollte, weil die Post mithöre. Das war sicher als Drohung gemeint, damit sie es nicht wagten, zu telefonieren. Aber nun, so ganz allein… wo sie doch Sängerin werden wollte… Die Post war für Kathi eine Institution, die alles ist - so wie Polizei, Feuerwehr, Behörden, auf jeden Fall etwas Offizielles, eben eine Behörde.

      Also atmete Kathi tief ein und aus, sang sich ein wenig ein und nahm den Hörer ab. In das Tut-Tutut hinein, nannte sie brav ihren Namen und ihren Wohnort, sagte klar und deutlich, dass sie Operettensängerin werden möchte und sie hoffe, dass sie entdeckt werde. So sang sie in ihrer schönsten Weise das Lied, das sie oft auf der Schallplatte bei den Eltern gehört hatte: „Du bist die Rose vom Wörthersee.“

      Für Kathi folgten Tage der inneren positiven Aufgeregtheit. Immer wieder scharwenzelte sie um die Mutter herum, wenn sie vom Briefkasten kam. Als die Mutter fragte, warum sie da nun ständig mit in das Treppenhaus zum Briefkasten lief, zuckte sie nur mit den Schultern und schmunzelte ein wenig konspirativ. Aber es kam leider kein Brief von der Post, der sie berühmt gemacht hätte. Das war dann erst einmal für sie erledigt. Vorerst.

      Weihnachten nahte und Kathi freute sich sehr darauf. Denn dieses Mal sollte es anders werden. Das übliche Weihnachten zu Hause war bisher verbunden mit Gedichten aufsagen, Weihnachtsmännern, die Angst machten und einer Mutter, die in getragener Stimme die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel vorlas: „Und es begab sich aber zu der Zeit…“

      Es war furchtbar langweilig. Das gemeinsame Singen in Ordnung. Am schönsten war es, wenn Kathi ganz allein „Maria durch ein Dornwald ging“ singen durfte. Dann saßen alle still und gerührt da und Kathi fühlte Stolz, Freude und Liebe in sich. Sie musste aber leider trotzdem meist mit Britta zusammen die nicht wirklich geliebte Blockflöte spielen. Dieses Weihnachten war das erste Mal Singen in der Hauptkirche St. Petri. Es wurde im Chor viel geprobt für das berühmte Quempas-Singen.

      Heiligabend am Nachmittag. Die Menschen standen Schlange vor der Petrikirche. Die Kirche war überfüllt, Klappstühle wurden dazu gestellt. Und die Chorkinder warteten aufgeregt hinten im Kirchenschiff neben dem Haupteingang im Probenraum. Die Chorkinder kamen auf ein Zeichen von Frau Koller in Zweierreihen von hinten durch den Hauptgang in die Kirche. Mit ihren schönen, bis zu den Füßen reichenden schwarzen Gewändern und den weißen Krägen, einem langen, weißen Holzstab mit Kerzenhalter und einer brennenden Kerze in der äußeren Hand. Sie schritten langsam und andächtig zur feierlichen Eingangsmusik von hinten durch den Mittelgang nach vorn in das Kirchenschiff zum Altar, wo die große prachtvolle Krippe aufgebaut stand. Das langsame Schreiten fiel allen Kindern schwer, das sah man. Aufgeregt und voller innerer Freude wurde der feierliche Gang zu einer echten Herausforderung. Selbst für die routinierteren Kinder.

      Kathi nahm währenddessen wahr, wie die älteren Besucher am Rande der Bank sitzend, mit Tränen der Rührung in den Augen flüsterten: „Wie Engelchen!“, und versuchten noch kurz ein leichtes Streicheln am Ärmel. War das schön! Vorn angekommen, teilten sich die Chorkinder in Vierergruppen auf und schritten andächtig auf ihre Plätze. Links und rechts sowie in der Mitte auf der Empore die größeren, vorn an der Krippe im Hauptgang blieb Kathi mit der Gruppe der Kleinsten für den letzten Quempassatz. Dann ertönte von der Empore links: „Den die Hirten lobeten sehre“, rechts: „und die Engel noch viel mehre“, Mitte oben: „Fürcht euch fürbaß nimmer mehre“ dann an der Krippe unten (Kathi sang immer ein wenig lauter…) „euch ist geboren ein König der Ehrn“. Gemeinsam erschallte der Refrain aller Gruppen: „Gottes Sohn ist Mensch geborn.“ Dieses war einmalig und neu in Hamburg. St. Petri wurde zum beliebtesten Weihnachts-Gottesdienst durch dieses Quempassingen. Es kam von der Beliebtheit her sogar noch vor dem großen Weihnachtsfest im Hamburger Wahrzeichen, dem Michel.

      Danach gingen alle glückselig nach hinten in den Probenraum, denn jetzt gab es einen Imbiss für die Chorkinder und die Angehörigen. Der Vater hatte Dienst. Die Mutter und Britta waren bei dem Gottesdienst dabei und schauten sich nach Kathi um. Kathi freute sich auf die heiße Wiener Knackwurst, aber nicht auf das ganze Drumherum mit den Anderen, mit Mama und Britta, denn in ihrer Anwesenheit spürte sie wieder die Einsamkeit in der Dreierkonstellation und die angespannte Hab-Acht-Haltung in ihr, was man Kathi zu ihrem Bedauern auch äußerlich ansah. In dem Fall sagten dann irgendwelche Kinder oder Erwachsene zu ihr: „Nun verhalte dich mal ruhig und nicht so hektisch.“ Die tiefe Einsamkeit verstärkte sich dadurch noch. Mit dem Gefühl der Verlassenheit, nicht dazuzugehören, immer schüchtern, verlegen und nervös stand sie dort herum. So unruhig und zappelig. Zumindest empfanden andere es so.

      Heute, am Heiligabend, kam Kathi die Intuition zu Hilfe. Sie wuselte sich durch die Menschenmengen zu Frau Koller hindurch und fragte, ob sie denn nicht helfen könne beim Würstchen ausgeben. Frau Koller fand das sehr aufmerksam und freute sich aufrichtig. Kathi bekam ein Geschirrtuch dreieckig um die schmalen Hüften und die Lockenpracht zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Sie stand hinter aufgestellten Tischreihen, lächelte charmant und fühlte sich wie eine große Kellnerin. Keine Einsamkeit. Vollends war sie beschäftigt, Würstchen mit einer Zange auf einen Pappteller zu legen, der groß und gebogen auf ihrer kleinen flachen Hand lag. Senfklecks dazu und eine Scheibe Weißbrot. Alle waren hungrig. Alle wollten etwas von ihr. Und sie musste nicht einmal Angst haben, dass es einen Nackenschlag gibt, wenn etwas herunterfiel.

      Unter den Tisch hatte sie einen kleinen Hocker geschoben, darauf stellte sie ihren Teller mit Würstchen, bückte sich blitzschnell und biss zwischen Essensausgabe und Lächeln hinein. Sie war sich sicher, dass es keiner bemerkte, schon gar nicht, dass es ein paar Würstchen zu viel waren, bis ihr wirklich übel wurde. Übel, aber glücklich. Das war paradiesisch!

      Alle drei fuhren mit der U-Bahn nach Hause. Die Mutter verzichtete das erste Mal und zur Freude der Kinder, auf das Lesen der Weihnachtsgeschichte, da das bereits durch den Pastor in der Petrikirche geschehen war. Ohne angsteinflößenden Weihnachtsmann. Sie durften schon vom bunten Teller naschen, auf den sich die Schwestern seit Tagen freuten. Leider war Kathi immer noch übel. Der Papa kam irgendwann dazu, sie sangen wie immer die Weihnachtslieder, spielten Blockflöte und packten endlich die Geschenke aus. Dabei ging an diesem Heiligabend ein langersehnter Wunsch in Erfüllung: Ein ganzes Stück Käse, ganz für sie allein. Nicht wie sonst, in Scheiben geschnitten, durch die man Zeitung lesen kann, wie der Vater stolz erklärte. Kathi konnte einfach reinbeißen! Wenn ihr doch bloß nicht so schlecht gewesen wäre.

      An diesem Heiligabend war die Welt in Ordnung. Glückselig mit einem Glas Glühwein. Den durften die Schwestern, obwohl sie sehr jung waren – verdünnt versteht sich – an Heiligabend trinken. Glückseliger Dusel, einschlafen ohne Einsamkeit, ohne Weinen, ohne Ängste, einfach so. So wie Kathi wie ein Engelchen gesungen hatte, so schlief sie auch ein. Und kein Mensch hätte in diesem Moment glauben können, dass sie draußen auf dem Hof oder im „Schulkindergarten“ ziemlich heftig die Jungs verprügelte.

      TROTZ UND MISSTRAUEN 1967

      „Kathilein, komm doch mal bitte her, ich muss mit dir sprechen.“ Wenn die Mutter in diesem freundlichen Ton sie mit dem Spitznamen ansprach, dann war etwas im Busch. Aber was? Was wollte sie? Kathi ging langsam, zögerlich, wie eine geprügelte Katze auf die Mutter zu. „Komm, setz dich mal auf meinen Schoß.“ Sie strich dabei Kathi über die Wange. „Was ich dir jetzt sage, darf dich nicht erschrecken, ich weiß, dass wir dir etwas versprochen haben. Bisher konnten wir dich bei Oma, Tante Ruth oder Tante Gertrud unterbringen, wenn Papa und ich allein sein wollten, aber nun ist es etwas Anderes.“

      Kathi wurde flau im Magen. Die Aufenthalte