Katharina Gato

Bittere Erdbeeren


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Sie verstand nicht, warum sie erst ihr Lieblingsgericht bekam und danach Bestrafung.

      Samstag. Papa hatte wieder Dienst.

      Die Kinder durften in die Badewanne. Britta war schon neun Jahre alt und die Mutter hielt sie für zu groß, um mit der kleinen Schwester zusammen zu baden. Erst durfte Britta baden, dann stieg sie heraus, alles dampfte und Kathi legte sich in die Wanne und ließ viel warmes Wasser nachlaufen. So herrlich war das, in diesem lauwarmen, schon etwas schmutzigem Wasser, frisches heißes nachlaufen zu lassen. Eine halbe Badebrausetablette, die Britta ihr übriggelassen hatte, die soo gut nach Fichtennadeln duftete, löste sich langsam an ihren Füßen ganz kribbelig auf. Das war schön. Reinigung, Wärme. Kathi genoss es sehr. Wenn das Wasser immer heißer wurde, bekam sie davon eine Gänsehaut. Sie spürte sich. Sie fühlte sich lebendig.

      „Kathi, bist du so weit, dass wir Haare waschen können?“, rief die Mutter aus der Essdiele. Der Zauber war vorbei. Nun kam wieder das grobe Haarewaschen, wo die Augen so schrecklich brannten. Die Mutter baute sich vor der Wanne auf und Kathi tauchte rückwärts mit den Haaren unter, um die Haare nass zu machen. Dann schnell den Waschlappen vor die Augen gedrückt, so hatte sie es mal im Friseursalon Meier gesehen, wo Mama zur Kaltwelle ging. Da bekam sie immer einen weißen Waschlappen beim Haarewaschen auf die Augen. Kathi war stolz, sich das gemerkt zu haben, denn so war das Brennen in den Augen erträglicher.

      Die Mutter massierte den Kopf und es ziepte in dem langen lockigen Haar. „Aua! Es brennt, es brennt so in den Augen!“, Kathi wollte schnell Wasser für die Augen nachlaufen lassen.

      Aber die Mutter kochte innerlich. Wieder lief alles aus dem Ruder und dieses störrische Kind machte nie, was es machen sollte. So packte sie nicht nur die Wut, sondern auch den Nacken der kleinen Kathi und drückte sie mit dem Kopf unter Wasser und schimpfte dabei unentwegt.

      Kathi kämpfte. Kathi packte nackte Angst. Drückte sich hoch, zappelte mit den Armen, prustete. Doch der eiserne Griff der Mutter ließ kein Entkommen zu. Da besann sie sich in all der Panik auf ihre Technik, die sie immer wieder mit Britta geübt hatte: „Wer kann länger unter Wasser die Luft anhalten?“ Kathi ließ bewusst und plötzlich los, so wie sie es zigmal geübt hatte. Sie hielt still die Luft an, das Gekeife der Mutter drang wie dumpf wie durch Watte zu ihr durch. Im Kopf rauschte es, ihre Arme wurden locker, keine Gegenwehr mehr. So verharrte sie sekundenlang.

      „Kathi! Kathi! Was ist?“ Die Mutter riss schnell ihr Kind hoch. „Oh Gott, was habe ich getan, oh Gott, was habe ich gemacht?“ Sie war außer sich, während Kathi schlapp halb in ihren Armen, halb über dem Wannenrand hing. Instinktiv blieb sie in der Haltung, schnappte aber nun kräftig nach Luft.

      Der Papa war zum Dienst, kein Beschützer da. Mama rief nach Britta. Britta kam aufgeregt herangeeilt, sah erfasste die Situation.

      „Hilf doch mal, Kathi aus der Wanne zu ziehen!“, bat die Mutter sichtlich verstört. Mit vereinten Kräften holten sie sie raus. Kathi hustete und war rot angelaufen im Gesicht. Es war eine wirkliche Leistung gewesen, so lange die Luft anzuhalten, aber sie hätte es sogar für länger, wenn nicht sogar für immer getan.

      FÜNFZIG PFENNIG

      Kathi mochte die Schule nicht besonders. Sie durfte mit sechs Jahren nicht eingeschult werden und musste in den Schulkindergarten, weil sie Linkshänderin war und auf rechts umerzogen werden sollte. Sie fühlte sich damit oft anders, am Rande. Eine weitere Verschickung war erfolgt. Dieses Mal mit den Eltern, die sich freiwillig gegen einen Obulus als Betreuer dem Jugendhilfswerk zur Verfügung stellten. Die Mutter war gelernte Kindergärtnerin und der Vater konnte als Turnlehrer von Kinder- und Jugendgruppen im Sportverein und somit mit pädagogischen Erfahrungen aufwarten.

      „Dann wird Kathi es nicht so schwer haben, es ist ja kein Vertrauensbruch“, dachte die Mutter. Aber leider konnte sie auch bei der Verschickung nicht aus ihrer Haut. Sie blieb, wie sie war: Besonders streng zu ihrer Tochter. Häufig stellte sie Kathi in die Ecke, wenn die anderen Kinder schlafen mussten oder auch spielten. Britta war bei der Tante untergekommen.

      Kathi spürte einen enormen Druck in ihrer Brust. Sie konnte kaum atmen. Ihr Asthma wurde schlimmer und sie fühlte sich verraten. So viele Bestrafungen durch die Mutter vor den anderen Kindern? Das war kaum auszuhalten. Aber sicherlich wollte sie es besonders gut machen. Oder sollte es anderen Kindern eine Warnung sein? Wenn sie schon so schlimm mit der eigenen Tochter war. Was tat der Vater in dieser Zeit? Kathi wusste es nicht. In jedem Fall half er ihr nicht. Sie bekam ihn dort in dem Schullandheim in Wedel kaum zu Gesicht. Und wenn, hielt er sich aus allem heraus, was die Mutter entschied oder tat.

      Und nun diese verdammte Schule. Kathi wurde von den Lehrern gemocht, das spürte sie. Obwohl sie sich oft so konträr verhielt. Wenn ihr ein Thema Spaß machte, machte sie mit, meldete sich hin und wieder sogar und es war gut.

      Aber wenn sie etwas nicht interessierte, saß sie nur da, träumte aus dem Fenster und wirkte eher teilnahmslos und zurückgezogen. Sobald die Pausenglocke läutete, stürmte sie mit den Jungen nach draußen.

      Warum sie so oft in Prügeleien verwickelt war? Sie wusste es nicht. Aber dieser Kick, dieses Adrenalin, was ihr auch zu Hause immer wieder durch die Adern schoss: „Bekomme ich Prügel? Wie fühlt sich Mama heute? Hab ich heute genug zu essen? Wird der Papa wieder in mein Bett kommen? Streiten sie sich wieder? Werden sie mich allein lassen? Wie überstehe ich die Nacht mit den Albträumen?“

      Das machte etwas mit ihr. Und wenn sie frech war, jemanden ein Bein stellte, ihn anspuckte oder schubste, dann war da wieder das vertraute Gefühl. Das Gefühl von Hitze und Kälte gleichzeitig, von Angst, die lähmte und mobilisierte, von Aufregung, die nur ihr Ventil im blinden Aktionismus fand. Es waren oft die kleineren Jungen. Mädchen schlug sie nie. Häufig wurde sie auf dem Schulhof eingekesselt von anderen Jungen und manchmal gesellte sich auch ein Mädchen dazu und sie skandierten: „Kathi, Kathi, hautse, hautse, immer auf die Schnauze!“

      Und manches Mal wurde ihr schwarz vor Augen, vor Angst, vor Schmerz, vor… ja was eigentlich? Es fühlte sich ähnlich an, wie damals, als Dieters Bruder sie mit der Faust an der Schläfe traf und sie in Ohnmacht fiel. Bei den Schlägereien war es nur kurz davor, aber es fühlte sich ähnlich an.

      Im Unterricht machte sie Blödsinn. Mit Krampen aus Papier schießen, eine Wasserpistole einsetzen oder mit dem Stuhl kippeln. Sie hatte inzwischen einen Einzelplatz ganz hinten. Und wenn es ganz arg wurde, flog sie raus. So ein Tag war gerade mal wieder. Sie stand draußen vor der Klassenzimmertür, durfte sich nicht entfernen und langweilte sich. Dieses Gefühl, ausgesperrt zu werden, kannte sie. Es hatte für sie keinen Schrecken mehr. Hier vor der Klassentür passierte ihr nichts und die Stille war irgendwie unerträglich, aber auch gut. Sie versuchte leise in ihrem Kopf und im Herzen zu singen. Das beruhigte sie und tat gut. Der Chor war das, worauf sie sich in der Woche freute. Oder, wenn sie singen konnte und sie niemand hörte. All die Schlager der Langspielplatten von der Mutter. So sang sie innerlich gerade „Heißer Sand“ von Mina. Aber es wollte nicht so trösten wie sonst. Sie schaute sich aus Langeweile alle Jacken an, die an der Garderobe hingen.

      Dann griff ihre Hand wie von selbst in die Jackentasche der ersten Jacke. Es war pure Neugierde, was wohl darin sein könnte. Ein vertrautes Gefühl von Aufregung, der Angst, dass es jemand sehen könnte. In diesem Gefühl, diesem wohlvertrauten und doch ebenso schrecklichem Gefühl, verharrte sie und ging systematisch jede Jackentasche durch. In einer Jacke fand sie eine wunderschöne, schillernde Glasmarmel, die nahm sie schnell an sich und steckte sie in ihre selbst gebügelte Lastexhose.

      Das spezielle Bügeln hatte der Papa ihr gezeigt. Wenn die Hose nach dem Schleudern noch nass war, wurde sie auf Bügelfalte aufeinandergelegt und unter der Matratze gerade mittig ausgerichtet, dann war sie am Morgen wie durch Zauberhand nur vom Schlafen gebügelt und hatte eine glatte Falte in der Mitte. Sie liebte diese Steghosen, auch wenn sie dieses klamme, feuchte Etwas morgens nicht gern anzog. Manchmal dauerte es bis zur fünften Stunde, bis sie am Körper getrocknet war.

      Und nun verschwand die Marmel in der Hosentasche. Damit sie sich nicht abzeichnete, wurde geschwind ein zerknülltes Stofftaschentuch hinzugestopft. In einer blauen Jacke, ihr Herz pochte laut, fühlte