Katharina Gato

Bittere Erdbeeren


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      Nach Außen, da war diese vierköpfige Familie mit dem wunderschönen Elternpaar, entzückenden begabten Kindern, die Flöte spielten, sangen, turnten, Ballett tanzten, einfach nett. Und jedes einzelne Familienmitglied arbeitete an diesem Außenbild auf seine eigene Weise. Niemand durfte hinter die Kulissen schauen. Darin sah Kathi ihre Aufgabe, auch wenn Alpträume sie plagten. Es waren meist wiederkehrende Albträume, Einbrecher, die ihr Zuhause nahmen und die Mutter, den Papa sowie die Schwester töteten. Nur sie blieb unter dem Bett unentdeckt und wusste, dass sie verhungern und sterben musste. Und überall Blut. Dann wurde sie von ihrem eigenen Schluchzen geweckt.

      Manchmal ergänzte sich der Traum, indem ein Mann kam, sie unter dem Bett hervorholte und sagte: „Vertraue mir, du bist in Sicherheit“, steckte seine Hand in ihre Hose und flüsterte: „Wenn du ganz still bist, passiert dir nichts.“ Der Mann sah mal aus wie der Jens von oben, mal wie der Organist der Kirche, der sie auch in der Realität häufig auf den Schoß nahm und besabberte und befingerte und mal sah er aus wie der Papa. Wie ihr geliebter Papa. Der sie vor der oft brutalen Mama beschützen wollte. Kathi hatte doch nur ihn! Der Preis war hoch. Aber das wusste Kathi damals nicht. Sie war ein Kind von fünf Jahren und all das war ihre Normalität. Nichts weiter.

      PURE FREUDE

      Ein tiefes Einatmen. Luft anhalten und spüren, wie sich die Luft im Brustraum ausbreitet, im Zwerchfell, im Bauch. Mit dem langen Ausatmen formt sie leise und doch kräftig einen hellen klaren Ton. „Mii_______“

      Kathi, mit blonden, langen Korkenzieherlöckchen, den blauen Augen und einem so fröhlichen und liebenswerten Gesicht, steht eingereiht zwischen den Sopranstimmen neben ihrer Schwester. Britta sieht sehr schlank, ernst und hübsch aus mit ihren pechschwarzen, langen Haaren, die sie heute zu einem Pferdeschwanz gebunden hat. Stolz und zufrieden lässt Kathi den Ton klingen. Wie aus einem inneren Gefängnis schwebt er auf einer Wolke durch den kleinen, weit geöffneten Mund hinaus. Ein langer, wohlklingender, klarer Ton, der aus ihrem tiefsten Inneren kommt.

      Oma und Opa waren selten zu Besuch zu Hause. Aber sie sagten schon früher, dass einmal etwas aus ihr werden würde, bei dieser wunderschönen Stimme.

      Mama hatte tatsächlich nach Kathis sechstem Geburtstag im Hamburger Kinderchor der Hauptkirche St. Petri nachgefragt, ob ihre Töchter in den Chor könnten. Kathi tanzte sich inzwischen wöchentlich auf Spitzenschuhen in der Ballettschule Boter-Adam die Füße wund und blutig und hasste diese Schmerzen in den Füßen. Aber das sei normal, wenn man schon mit vier Jahren Spitzenschuhe bekomme. Sie ging täglich zum Turnen. Blockflöte spielte sie bereits und auch hier fiel den Eltern das bemerkenswerte musikalische Talent ihrer kleinen Tochter auf. Nun also auch noch Chor.

      Kathi war furchtbar aufgeregt. Die Mutter zog ihr die Sonntagssachen an, weiße, kratzige, gestrickte Kniestrümpfe, einen karierten Faltenrock, eine weiße Bluse und eine Klubjacke mit Hamburgemblem und goldenen Knöpfen daran. Britta durfte etwas legerer gehen, sie war nun schon fast neun Jahre alt. Mit der U-Bahn einmal Umsteigen am Hauptbahnhof, bis Mönckebergstraße die U3. Die gelbe Linie. Dann durch einen langen Bahnhofsgang, Treppen hoch und vor ihnen ragte hoch hinaus die imposante Kirche St. Petri.

      Mama kämmte Kathi noch einmal durch die Locken vor der Tür zum Gemeindehaus, was schrecklich ziepte und feuchtete ihre Hand mit Spucke an, um die Stirnlocken im Zaum zu halten. Dieser Geruch von Spucke, ob es das Taschentuch war, mit dem sie ihr die Mundwinkel oder Wangen versuchte, sauber zu machen oder die Haare zurückstrich, dieser Geruch, war für Kathi unerträglich. Ihr war häufig kurz vorm Sich-Übergeben, ein Ekelschauer lief ihr von den Zehen über den Rücken bis in den Nacken. Ein: „Mama, nein, bitte nicht“, wurde ignoriert.

      So standen sie zum ersten Mal alle drei vor Frau Koller. Frau Koller war eine kleine Frau, die sehr selbstbewusst wirkte. Mittelblonder Kurzhaarschnitt und ein leicht gerötetes Gesicht, das großes Engagement und Begeisterungsfähigkeit ausstrahlte.

      Kathi war immer noch vom Ekelgefühl der Spucke gebannt und ihr saß die Angst vor dem Vorsingen im Nacken. Sie wusste nicht, was auf sie zukam und das machte ihr Angst. Da sie die Kleinste, aber auch die Pfiffigste war, sollte sie beginnen.

      Mama, wie immer wunderschön, mit schickem Kleid und moderner Frisur, setzte sich hinten mit Britta auf die Stühle. Kathi stand neben Frau Koller am Klavier. Frau Koller stimmte Töne an, die sie nachsingen sollte. Hohe Töne, tiefe Töne. lange, kurze. Je höher die Töne wurden, desto klarer wurde ihre Stimme, desto fester und doch weicher, melodischer, fließender. In dieser Form und mit diesem Gefühl, hatte Kathi das selbst noch nie erlebt.

      Frau Koller ermutigte sie, spielte kleine hohe Melodien und Kathi folgte immer leichter, immer leidenschaftlicher, fröhlicher und inniger. Es gab kein Richtig oder Falsch.

      Frau Koller fragte, ob sie denn ein Lied singen könne, aber vor Aufregung fiel Kathi gar nichts ein. Frau Koller stimmte auf dem Klavier: „Wenn ich ein Vöglein wär“ an und fragte, ob sie das nachsingen könne. Und ob. Kathi sang glockenklar und hell, dass selbst Mama vor Rührung zwei Tränen herunter kullerten, Britta den Mund geöffnet hielt und Frau Koller, nachdem der letzte Ton verklungen war, ergriffen der Mutter sagte, dass Kathi hier in jedem Fall richtig sei. Sie würde sich glücklich schätzen, wenn Kathi dabei sein könnte in ihrem Kinderchor der Hauptkirche St. Petri. Kathi hätte ein so gutes, musikalisches Gehör, dass es gar nichts ausmachte, dass sie nicht nach Noten singen könne.

      Nun war Britta dran. Sie tat sich etwas schwer, weil sie, perfekt wie sie nun einmal war, nur nach Noten singen wollte und durch die Blockflöte könne sie es ja schon, im Gegensatz zu ihrer kleinen Schwester, die „nur“ immer nach Gehör spielte und sang. Doch Britta sollte auch nach Gehör singen, was für sie weitaus schwieriger war. Die Unterschiedlichkeit der Schwestern wurde wieder einmal hier sehr deutlich. Sie wurden beide im Chor angenommen.

      Und nun, vier Wochen später, standen die Schwestern nebeneinander in der Reihe des ersten Soprans und sangen sich warm. In Kathi kehrte Ruhe ein. Dieses Gefühl beim Singen, diese Abwesenheit in der Realität, in anderen Ebenen schweben, die sich watteweich wie Wolken anfühlten, die alles vergessen ließen. Jeder Schmerz, körperlich oder seelisch, jede Angst vor Verlust, Hunger, das tiefe Gefühl der Einsamkeit… weggetragen auf Tonschwingen ins Nichts. Ein Fest. Ein Fest für die Seele. Es war ein inneres Ankommen. Freude in ihr. Pure Freude. Sie betete zum ersten Mal am hellichten Tage in sich selbst hinein, ganz leise und dankte Gott für dieses Gefühl, für diesen Tag. Für dieses Erleben.

      Britta ging nur einige Male mit ihrer kleinen Schwester an der Hand in den Chor. Ihre Ängstlichkeit, allein mit der Kleinen U-Bahn zu fahren nahm zu und sie hatte keine große Freude am Chorsingen. Kathi wurde mit ihren sechs Jahren nun wieder die Große, die der älteren Schwester Mut machte. Sie bemerkte, dass Britta während der Halts mit zusammengekniffenen Augen auf die Schilder der Bahnsteige schaute. Wie sich später herausstellte, war sie ziemlich kurzsichtig. Nun waren die Beiden wieder so vereint, wie sie es früher oft als Schwestern waren, wenn die Mutter nicht da war und keinen Keil der Konkurrenz zwischen sie treiben konnte. Kathi merkte sich markante Punkte beim Einfahren des Zuges und die Länge und Spitzen der Buchstaben auf den Schildern. Britta hielt sie bei der Hand. Sie waren ein Team, das sich für kurze Zeit gegenseitig Halt gab.

      Schon einige Wochen später durfte Kathi sich allein auf den Weg machen. Es gab jedes Mal am Ende der Stunde eine Fahrscheinausgabe durch Frau Koller für das nächste Mal. Ein gelber, kleiner Zettel mit Tagesstempel des Datums der nächsten Probe. Hiermit durfte man am Stempeltag sogar den ganzen Tag über in ganz Hamburg fahren. Für jede Probe gab es zwanzig Pfennig und für einen Auftritt zwischen 1,20 DM und 1,50 DM Gage. Das war eigen verdientes Geld und Kathi kauft sich stolz dafür Dauerlutscher, Süßigkeiten oder Pommes im Bahnhof nur für sich. Manchmal gab sie etwas davon ihrer Schwester als Preis, bei ihr im Zimmer sitzen zu dürfen.

      Kathi fuhr nun ganz allein quer durch die große Hansestadt. Alle Ängste waren dahin und die Freude, endlich singen zu dürfen, unendlich groß. Das Singen begann ihr Leben zu verändern. Kathi wurde selbstbewusster.

      Sie wusste schon sehr früh, dass sie unbedingt Sängerin werden wollte. Operettensängerin. Wenn der Papa hinter der Bühne am Hamburger