Sanne Prag

Kein Sommernachtstraum


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die Besucher aus dem All aussehen und was sie denn im Wald da wollen.

      TIEF IN DER NACHT

      Judith hatte bereits eine lange Fahrt hinter sich. Sie war spät losgezogen – viel zu spät. Ihre Augen waren zu ganz kleinen Schlitzen zusammengekniffen und starrten verbissen über den Rand des Lenkrades. Nachts fahren war immer schwierig. Sie war zwar nicht nachtblind, aber sie bildete sich ein, nichts zu sehen. Sobald sich Dunkelheit über die Straße legte, wurde sie ein Maulwurf oder eine Fledermaus, blind und ohne Radar. Vor ihr war eine dunkle Fläche. Die Welt ohne Farbe schuf Mythen und schrumpfte den Ausblick auf ein winziges Fenster. Die Augen wuchsen dabei aus dem Kopf. Sie fraßen sich an Formen fest und schufen ihre eigene Sage: War das dort ein Baum oder ein Mensch? – Der Moment, in dem Mystik passiert – das Wunder gibt Antwort, wenn etwas nicht zu erkennen ist: Vielleicht war das dort ein übrig gebliebener Saurier oder ein Alien?

      Sie hatte ja eigentlich viel früher fahren wollen, aber da waren noch zwei Patienten, die sie betreuen musste. Wenn sie jetzt länger nicht da war, wollte sie alles geordnet haben. Sie brauchte Ordnung, um ihre chaotische Seite in Ruhe wuchern zu lassen …

      Und dann gab es plötzlich kein warmes Wasser mehr in der Praxis. Aus mit den Wohltaten der Zivilisation – es kam kalt. Die Therme blieb stumm, als sie an dem Hahn mit dem roten Punkt drehte, kein Aufheulen, kein Surren – Stille in dem weißen Körper. Sie brauchte zwar kein Warmwasser, wenn sie nicht da war, aber sie wollte die Tage in dem „Waldhotel“ in Ruhe verbringen, nicht ständig an die Therme denken müssen. Judith neigte dazu, an Problemen herumzukauen. Jedes Mal, wenn die Therme verweigerte, schlich sie in kleinen Kreisen um die Zeitschaltuhr und rief dann schließlich doch an – den Mann, der es regeln konnte.

      Der Schutzengel aus den höheren Regionen der Installation aber war unwillig. Das war er immer.

      Er betrachtete die alte Anlage jedes Mal mit Abscheu. Wenn sie keine neue kaufe, versicherte er ihr, würde die Zentralheizung nie funktionieren. – Das war der übliche Verlauf – meist verlangte sie beharrlich und widerständig, dass er das System wieder einschalten sollte, mit einem Knopf – sie wusste nie, welchem. Technik war nicht ihre starke Seite. Es gab da einen Knopf, einen alles regelnden Knopf an dem kleinen rechteckigen Ding, das angeblich Macht über den weißen Thermenkörper hatte. Das kleine rechteckige Ding hatte ein Geheimnis: Es hatte viele Funktionen – kleine Sonnen und Monde und verschiedene Zeichen. Irgendeine Einstellung war die mit der Macht. Der Erzengel von Installateur wusste das. Er hielt aber sein Wissen geheim, wohl aus finanziellen Gründen. Aber manchmal hatte er ein Installations-Gewissen und dann hatte sie wieder einmal eine Chance. So war nach einigen Diskussionen die Therme auch diesmal zum Leben erwacht und hatte warmes Wasser gespendet … Das wäre ein beglückendes Ereignis gewesen – aber es war viel zu spät geworden. Die Tage waren wohl im Sommer lang, aber jetzt war es dunkel. Es war stockfinster, sie musste ihre Augen anstrengen, um weit genug zu sehen – und da gerade beschloss das Navi auszufallen. Auch ein Rütteln am Zigarettenanzünder hatte nichts gebracht. Es hatte sich höflich aber endgültig von ihr verabschiedet.

      Sie versuchte, das Gefühl von Verlorenheit zu unterdrücken, aber in dem Blindflug, in dem sie nun unterwegs war, hatte sie sich schon auf einer Baustelle verfahren, weil einer von den Richtungspfeilen umgefallen war. Immer wenn sie die Orientierung verlor, nahm ein mächtiges Gefühl Platz, ein allumfassendes Gefühl. Eine ungeheure Leere breitete sich aus. Sie fühlte sich auf dem Mond ausgesetzt, Bedrohung in einer fremden Welt – im Weltraum. Die anderen kannten sich alle aus, sie nicht. Alle anderen wussten, wo sie hinwollten, nur sie nicht. Auf der Baustelle vor einer Stunde war sie im Niemandsland gelandet, Ende des Asphaltes, kleine weiße Kiesel, Ende der Pfeile, ein abgestellter Lastwagen in der nächtlichen Steinwüste. – Die anderen wussten alle, wo sie hinwollten, nur sie nicht. Aber diese Baustelle konnte es wohl nicht gewesen sein.

      Auto war Freiheit, Selbstständigkeit, Möglichkeit zum spontanen Entschluss, aber für sie tatsächlich nur auf gewohnten Strecken. Die Reise ins Unbekannte, in die ungewohnte Freiheit brachte sie jedes Mal an die Grenzen der Depression. Welch ein Widerspruch! Ein ständig schales Drücken in der Magengrube verlangte immer Klarheit, damit alle ihre Organe wieder an die richtige Stelle fielen. Sie brauchte Orientierung, um wieder in dieser Welt zu sein, nicht auf dem Mond.

      So klammerte sie an ihrem Lenkrad und fuhr durch die Nacht, immer im Zweifel, immer in Unsicherheit: War sie am richtigen Weg oder am falschen?

      Sie war inzwischen sehr angespannt, und gereizt sowieso. Sie musste sehr langsam fahren. Langsam war notwendig, weil sie sonst die Hinweisschilder nicht entziffern konnte. Autos stauten sich hinter ihr. Ameisen liefen auf ihrem Rücken auf und ab. Besonders arg wurde es, wenn ein Fahrer hinter ihr ungeduldig dicht an ihre Stoßstange fuhr. Vor ihrem inneren Auge sah sie seine weiß verkrampften Knöchel am Lenker. Sie glaubte, durch die schwarzen Scheiben sein wutverzerrtes Gesicht zu sehen, und hatte das Gefühl, sich in Luft auflösen zu müssen. Bei Patienten bearbeitete sie das: Jeder hatte das Recht auf seinen Quadratmeter Boden, sagte sie immer, hatte das Recht, vorhanden zu sein, wenn er doch geboren war! Aber wenn einer knapp an ihre Stoßstange fuhr, vergaß sie die weisen Worte sofort – und wollte sich auflösen in ein rosiges Nirwana ohne Störung und Stoßstangen.

      Sie hatte sich nach der Baustelle wieder in die Autoschlange gereiht und versuchte nun, die Wegweiser alle auf mindestens 100 Meter zu lesen. Das ging nicht, denn sie hatte eine große graue Fläche vor Augen, die jeden Ausblick verstellte, das Heck eines Lastwagens. Das war sehr beunruhigend, denn sie konnte doch nicht so langsam fahren, dass sie die Schilder in Ruhe auf zehn Meter entziffern konnte.

      Sie konnte nicht die aufhalten, die doch wussten, wo genau ihr Weg war, und sie allein wusste es nicht.

      Schließlich hatte sie die Abfahrt geschafft, die sie mit einiger Wahrscheinlichkeit für die richtige hielt. Die Landstraße schlängelte sich nun unentschlossen vor ihr her. Sie war durch ein Dorf gekommen und empfand zuerst große Erleichterung. Menschliche Siedlungen waren Orte der Unterstützung. Aber angesichts der stockdunklen Fassaden kamen ihr Zweifel. Langsam war sie zwischen den schlafenden Fensterreihen durchgefahren – ungesehen. Keiner wusste von ihrer Existenz – keiner hier. Wenn sie die Erde verschluckte, war sie einfach spurlos weg …

      Sie fuhr weiter, durch ein Waldstück mit sehr hohen alten Bäumen. Über ihr ein schmaler Streifen Sternenhimmel. Irgendwo hinter den Baumriesen leuchtete ein Mond. Die Stämme wirkten bläulich dunkelgrau und verloren sich im Schwarz. Da fiel die Elektrik des Autos aus. Einfach so, plötzlich. Der Kamerad, mit dem sie gemeinsam durch die dunkle Welt gezogen war, stand leblos, ohne Schnurren, ohne irgendeinen Laut.

      Es war grauenhaft. Nichts rührte sich mehr. Kein Licht, kein Motor, nichts. Wieso war der so einfach tot? Wer hatte ihn getötet?

      Aliens fielen ihr ein. Würde jetzt gleich ein Raumschiff über ihr erscheinen und sie mit einem Strahl hochbeamen? Als Versuchsobjekt. Würden sie ihr alle Zähne reißen und sie mit Krankheiten infizieren – nur so, aus Wissensdurst? Einfach aus Forscherdrang? Funktionierten Aliens wie Menschen? Und was würde dann sein – ein Restleben in einem weißen Käfig?

      Sie fühlte sich wie ein Astronaut, dessen Verbindung zum Raumschiff abgerissen war. Ein Bild von einem sehr hellen Menschen in einem Anzug wie ein Marshmallow-Männchen drängte sich vor, frei schwebend im unendlichen, stockdunklen All, hinter ihm einzelne Sterne, die dünne, helle Schnur zum Raumfahrzeug gerissen. Die Gestalt schwebte davon. Was war dann? Wie konnte man im luftleeren Raum heimfinden? Wie konnte man Richtung machen? Vielleicht schwimmend? Nein, nicht ohne Luft. Sie saß wie versteinert, starrte durch die Windschutzscheibe und hielt sich am toten Lenkrad fest.

      Dann machte sich Restvernunft bemerkbar. Sie konnte keine Aliens sehen und Autos waren auch nur Maschinen, die halt gelegentlich Defekte hatten. Sie ließ das Fenster ganz herunter und setzte sich damit den unsichtbaren Bedrohungen des Waldes aus. Die Luft war angenehm und die dunkle Masse der Bäume machte leise Geräusche.

      Sie könnte bis zum Tagesanbruch sitzen bleiben, war aber dann vor dem gleichen Problem wie gerade eben – es war nicht klar, ob jemand vorbeikäme, ob der halten würde, Hilfe leisten … Denn sie wusste ja nicht, wo sie war, und sie