Sanne Prag

Kein Sommernachtstraum


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heran. Sie rückte ein wenig zurück. „Und was war das für ein Ort, an dem Sie gefangen gehalten wurden?“, fragte er nach einer kurzen Vorrede.

      Frau Dr. Dilmon saß mit sehr geradem Rücken auf ihrem Sessel. Ihre Hände waren im Schoß gefaltet, die Schultern hochgezogen. Ihre Stimme war ruhig, sachlich, aber kam tief aus der Kehle. Etwas hielt diese Stimme im Hals fest. Sie sagte: „Es war ein Lager im Urwald.“

      „Und wie war das Lager?“

      „Es waren Holzhütten, kleine Holzhütten.“

      „Und wie ist man dort mit Ihnen umgegangen?“

      „Das war normal, einfach. Wasser war genug da, in der Nähe läuft ein Fluss. Ich war nur immer wieder beunruhigt, dass sie es nicht abgekocht hatten. Wir westlichen Menschen vertragen die Bakterien schlecht, die dort normal sind.“

      „Das heißt Sie hatten große Angst, sich eine gefährliche Krankheit zuzuziehen.“

      Sie rückte ein klein wenig auf der Sitzfläche und hob den Kopf: „Nun, das ist ja immer ein Problem. Wer Jahre an unwegsamen, fremden Orten verbracht hat, hat immer diese Sorge.“ Judith merkte eine Veränderung in der Stimmlage und in der Haltung der Schultern. Jetzt hielt die Frau nichts zurück, sondern sie präsentierte etwas. Was wollte sie denn wohl gesagt haben? Was genau an dem, was sie gesagt hatte, war Absicht, musste präsentiert werden?

      …wer Jahre an einem unwegsamen Ort verbracht hat, hat immer diese Sorge… Sie wollte darauf hinweisen, dass sie jahrelang geforscht hatte, schon Jahre im Urwald war?

      Jetzt neigte sich die elegante Dame vor: „Hatten Sie oft Hunger in der Gefangenschaft?“

      „Das Essen war kein Problem.“ Die Schultern hatten sich gesenkt und wanderten dann wieder ein wenig hoch, registrierte Judith. „Ich brauche nicht viel.“ Sie saß weiter mit sehr geradem Rücken. Es entstand eine lange Pause, weil der tüchtige junge Mann sichtbar nicht wusste, ob die elegante Dame noch mehr Fragen hatte… Dr. Dilmon registrierte die Pause und sagte dann schnell: „Man muss nur immer aufpassen, dass man keine Mangelerscheinungen bekommt…“

      Alle warteten auf mehr. Der ältere Mann erbarmte sich und fragte: „Hatten Sie Mangelerscheinungen?“ Er hatte eine besonders tiefe Stimme, die hallte klar im Raum. Gleichzeitig besann sich der tüchtige junge Mann auf seine Rolle und fragte: „Und wie war das dann mit ihrer Befreiung?“

      „Die Mangelerscheinungen sind ein bekanntes Problem“, antwortete die Biologin, als ob es nur eine Frage gegeben hätte. „Aber Gott sei Dank gibt es einige Pflanzen in der Region, die man gut einsetzen kann, um Ausgleich zu schaffen. Verschiedene Abarten der Liane und auch Bodenwuchs…“ Es entstand wieder eine Pause, der junge Mann holte Luft, um seine Frage erneut zu stellen, da sagte die Biologin schnell: „Einige davon sind ziemlich giftig, man muss mit der Dosierung sehr aufpassen. – An diesem Ort vor allem gab es viele Giftgewächse, die aber genau den Mangel ausgleichen konnten, der durch die eintönige Kost immer entsteht.“ Es entstand wieder eine Pause. Judith hatte den Eindruck, Frau Dr. Dilmon wollte diese Pause nicht, es war, als ob sie sich einen Stoß geben würde, wie ein Sprung über einen Abgrund: „Es ist nicht zu vermeiden, dass Giftanreicherung im Körper entsteht“, sagte sie mit fester Stimme. „Das baut sich dann nur langsam wieder ab. Ich bekomme dadurch immer Hautprobleme. Aber gerade an diesem Ort gab es keine andere Möglichkeit.“ Hastig fuhr sie fort: „Mir geht es auch im Moment nicht so gut. Ich glaube, ich kann nicht mehr Fragen beantworten…“ Sie sagte das sehr sachlich – es war keine Veränderung an ihrer Atmung oder ihrer Haltung zu bemerken.

      „Probieren wir vielleicht noch drei Fragen aus dem Publikum?“, versuchte der ältere Mann, die Pressekonferenz am Leben zu erhalten.

      Eine junge, blonde Frau hob die Hand: „Fühlten Sie sich durch sexuelle Übergriffe bedroht?“

      Frau Dilmon sah sie intensiv an. Schließlich sagte sie langsam – mit einer anderen Stimme: „Übergriffe – nein, so war das nicht.“

      Ein junger Reporter fragte: „Waren die Menschen im Lager hauptsächlich einheimisch oder mehr Weiße?“

      „Es schien mir, als ob einige wechselnde weiße Personen sich in einem Dorf mit der dort üblichen Dorfstruktur eingenistet hätten. Es waren nicht immer die gleichen…“

      „Wie viele Leute waren dort?“, rief einer aus der dritten Sesselreihe.

      Dr. Dilmon ließ sich Zeit mit der Antwort: „Genau kann ich das nicht sagen. Ich denke, zu dem Dorf gehörten vielleicht 30 Personen, und dann waren immer so zwischen vier und acht Menschen, die anders aussahen.“

      „Und wie war das nun mit Ihrer Befreiung?“, fragte einer.

      Frau Dilmon veränderte ihre Haltung ein wenig: „Mir geht es wirklich nicht gut.“ Sie sagte das abschließend. „Ich lege mich jetzt hin.“ Sie stand vorsichtig auf. Sie ging vorsichtig zur Türe, als ob sie nicht auf festem Boden ginge. Dann blieb sie stehen und sagte zu dem älteren Mann: „Vielleicht könnten Sie mir helfen, etwas Schriftliches herzustellen, mit Ihrer Hilfe schaffe ich das wohl, wenn es mir besser geht, und das schicke ich dann an ihre Redaktionen…“ Leise schloss sie die Türe auf der Flucht.

      Die Pressekonferenz blieb zurück…

      MITTAG

      Ezra stand an den Tischen vor den Resten der Pressekonferenz und musste aufräumen. Ein Tablett mit Gläsern klirrte leise auf seiner Hand denn er machte wieder einmal einen seiner unmöglichen Jobs. Er fühlte sich nicht sicher, denn es war ihm klar, dass er an diesem Ort ein Wespennest behüten sollte. Der Job war durch Wolfgangs Verbindungen zustande gekommen. Wolfgang, der Freund seiner Kindertage, war Techniker in einem System, das im weitesten Sinne der Landesverteidigung zugeordnet wurde. Und kürzlich erst war er zurückgekommen - von irgendwo aus dem Nahen Osten, und hatte sich sofort gemeldet, dringend, kein Aufschub: „Bist du frei oder machst du was? Nur Studium? Gut. Du wirst gebraucht. Sofort. Wir haben ein massives Problem und alles muss schnell gehen – große Orientierung ist leider nicht möglich. Du musst improvisieren und wahrscheinlich alle deine Systeme einschalten. Streng geheim und akut. Zu wenig Zeit für ordentliche Planung, und die Geheimhaltung macht eine größere Organisation unmöglich.“

      Seit fünf Tagen behütete Ezra nun sein Wespennest. Er hatte noch nicht wirklich Überblick und Wolfgang wusste zuerst einmal auch nichts Genaues und hatte ihn vertröstet – er käme bald – musste noch etwas regeln.

      Es gab ein langes Telefonat mit der Stimme seines Auftraggebers und die ganze Aktion wurde gestartet, dringend, sehr dringend. Ezra musste sofort aufbrechen, vor fünf Tagen, sehr zeitig in der Früh, zu einem „Waldhotel“. Die staatliche Sicherheit war verunsichert. Man war an höchster Stelle beunruhigt. So viel war klar, sonst nichts. Ezra musste einspringen, musste all seine Fähigkeiten einsetzen, an einem Ort im Wald, weit weg von allem, was die Zivilisation geschaffen hatte.

      Von was allem? Denn das war es genau, wofür er zuständig war. Er musste ein Hotel herstellen. Man hatte ihm großzügig Geld gegeben und …

      Ein Ort fernab von unkontrollierbaren Menschenströmen musste aktiv werden und unverdächtig. Das Waldhotel hatte eine Aufgabe, war Zentrum… Wovon? Keiner hatte ihn wirklich aufgeklärt. Er hatte eine Reihe von Personen zu betreuen und es war etwas im Gange, aber keiner sagte ihm genau, was.

      Da war einmal Frau Dr. Dilmon. Es ging darum, ob sie wirklich Frau Dr. Dilmon war oder nicht, so viel wusste er. Sie war nach ihrer Befreiung in dieses Waldhotel gebracht worden – um sich auszuruhen?

      Eine gefährliche Frau? Sie musste betreut und gleichzeitig beobachtet werden. Sie durfte aber nie auf die Idee kommen, dass sie beobachtet wurde. Das was er da zu gestalten hatte, musste aussehen wie ein abgelegenes Hotel, musste sich anfühlen wie ein abgelegenes Hotel und keiner durfte auf die Idee kommen, dass es kein Hotel war. Das sagten die Anweisungen am Telefon.

      Wolfgang würde am nächsten Nachmittag eintreffen, oder irgendwann, wenn er wegkonnte. Vielleicht kam dann Klarheit?

      Ezra