„Und jetzt hätten wir gerne Toast und Würstchen.“
Ezra spürte, wie Erschöpfung in seinen Rücken kroch.
Aber er lief in die Küche. „Schafft ihr zehn Schinken-Käse-Toasts und vier Mal Würstchen? Ich muss Gästematratzen besorgen, bin in einer halben Stunde wieder da.“
Die große Anführerin hatte sich ein Geschirrtuch um den Kopf gebunden und schälte gerade den mumifizierten Spitzenvorhang aus der Kredenz. Ezra war abgehetzt, obwohl er eigentlich souverän dreinschauen wollte. „Bring ich dann raus“, sagte sie über die Schulter.
Da überkamen ihn warme, freundliche Gefühle seinem Helfertrupp gegenüber.
ABEND
Judith hatte sich einen Platz in den bequemen Fauteuils beim Empfang gesucht – ein Beobachtungsposten mit Rotwein und einer Zeitung. Sie war sich nicht sicher, wen oder was sie beobachten konnte, aber letztendlich war es kaum möglich, in das Zimmer von Dr. Dilmon zu gehen und dort einfach Fragen zu stellen. Der Empfang war wohl die wahrscheinlichste Stelle, an der sie zu beobachten war. Sie hatte fast ein schlechtes Gewissen, als sie sich in den mächtigen Fauteuil kuschelte und dabei mit der Hand über das weiche Leder glitt. Es fühlte sich luxuriös an. Der Sitz umschloss ihren Körper angenehm beschützend und sie nahm einen tiefen Schluck Rotwein, legte die Zeitung zurecht - und sah eine Katze. Eine reizende gefleckte noch ziemlich junge Katze, die an der Wand entlanglief, und aus ihrem Maul baumelte ein Mäuseschwanz.
Und dann sah sie einen schlanken sehr elegant gekleideten Herrn mit gelbem Halstuch durch die Halle schreiten und Kurs auf den Empfang nehmen.
Der junge blonde Mann, er hieß Ezra, das wusste sie inzwischen, sah die Katze. Seine Augen weiteten sich, seine Hände verkrampften sich und sein Blick heftete sich an der Katze fest. Die Pupillen wurden größer und ängstlicher. Er verließ seinen Empfang mit kleinen Stechschritten und baute sich zwischen der Katze und dem eleganten Herrn auf. Das war ein Versuch, die Maus vor dem an Schönheit und Reinlichkeit gewöhnten Blick abzudecken.
Das war schwierig, denn die Katze hatte die Maus gerade ausgelassen. Es war nicht klar, war sie ihr ausgekommen oder wollte sie spielen, jedenfalls versuchte sich die Maus in Sicherheit zu bringen – unter einem schweren Sitzmöbel, und die Katze sprang hintennach. Ezra war im Stress, das war zu sehen. Der elegante Mann bemerkte aber von der Aktion anscheinend nichts. „Ich fahre aus“, sagte er. „Hier ist ein Brief für Red.“ Er reichte ein gelbes Kuvert über den Empfang.
Da kam Frau Dr. Dilmon gerade langsam von der Treppe. Der Mann fixierte sie. Mit breitem Lächeln ging er auf sie zu. Es wirkte falsch, fand Judith. „Hortense, meine Liebe.“ Er streckte ihr strahlend die Hände entgegen. Sie schaute erstaunt, fragend. Der Blick eines Menschen, der den anderen noch nie im Leben gesehen hat.
Die Katze angelte heftig unter dem Fauteuil mit der Vorderpranke. Es machte dumpf bumsende Geräusche.
Der Mann mit dem Halstuch nahm keinen Blick von Hortense Dilmon. „Es ist natürlich eine Weile her, liebste Hortense, aber du musst dich einfach an uns erinnern!“ Sie ließ ihren Blick schnell über sein Gesicht gleiten, es glomm kein Funke auf. Sie schaute zu Boden. Ihre Hand wanderte zu ihrer Wange. „Unsere schöne gemeinsame Zeit“, rief er. Ihr Blick kam verloren hoch und sagte deutlich: Keine Ahnung. Schließlich versuchte sie ein Lächeln und reichte ihm eine unsichere Hand. „Entschuldigen Sie“, sagte sie leise, und dann lauter: „Ich muss gleich weiter.“ Sehr schnell ging sie aus der Empfangshalle in den nächsten Raum. Der elegante Mann blieb kurz stehen und eilte ihr dann nach. In der Türe blickte er in alle Richtungen, schien sie aber nicht mehr sehen zu können. Schließlich drehte er sich um und kam wieder zurück. Seine Lippen waren fest zusammengepresst und sein Kiefer hart. Jetzt fixierte er Ezra.
Judith hatte beobachtet, wie Ezra den Blick hob, der noch immer an der Katze festgefressen war, um dem eleganten Mann viel Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Sie sah klar, er wollte dessen Augen zu sich zu holen, weg von den Tieren. Die Maus schien inzwischen den sicheren Platz gefunden zu haben, denn die Katze schaute gespannt, voll konzentriert, in den Spalt unter dem Möbel.
Der elegante Herr mit dem Halstuch schrieb etwas auf den Umschlag. Ezra stand unentschlossen daneben. Kurze Blicke irrten immer wieder zu der Katze. Sie konnte sich auch vorstellen, was ihn beschäftigte: Wenn er die Katze hinaustrug, blieb die Maus unter dem Sitz, unbeobachtet. Das war keine gute Lösung. Judith sah auf seiner Stirne den Konflikt, denn Mäusejagd im Foyer war auch keine Lösung. Hin- und hergerissen zwischen zwei unmöglichen Möglichkeiten, musste er den gereizten Mann beruhigen, der an seinem Pult stand.
„Hortense ist ein unbedarftes Mädchen“, sagte der in dem Moment ein wenig zu laut. „Wie ein kleines Kind. Von einer Minute zur anderen weiß sie nicht mehr, was sie wollte. Das war immer schon so“, warf der hin. Irgendetwas wollte er noch sagen, aber es kam nicht. Er wechselte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, und schließlich ging er hinaus zu seinem gelben Sportwagen.
Die Katze war vor dem Fauteuil, unter dem ihre Maus saß, in Warteposition gegangen.
ABEND
Ezra hatte beschlossen, die Katze die Maus bewachen zu lassen. Es war eine hübsche Katze und seiner Erfahrung nach waren die meisten Menschen Katzen eher zugetan als Mäusen. Auch wenn es einzelne Katzenfeinde gab, war in dieser Situation die Katze das kleinere Übel. Er musste das Problem in Angriff nehmen, wenn die Gäste in den Zimmern waren, gut aufgehoben und nicht im Empfangsraum – später – viel später. Jetzt machte er einen Abstecher in „seine“ Küche, um festzustellen, was dort alles nicht funktionierte. Aber der Zustand war nicht so schlecht. Er beorderte zwei Damen in den zweiten Stock, um die Matratzen aufzublasen und mit Wäsche zu versehen, für die Schulklasse auf Ausflug. Das Essen war großteils fertig. Er würde beim Bedienen helfen, sonst war das nicht zu schaffen.
„Habt ihr Essen auf die Zimmer gebracht?“, fragte er in die Runde. Eine der drei nahm gerade die Ente aus dem Grill „Die Dilmon ist eine hochnäsige Person“, sagte sie. „Am Nachmittag wollte sie einen Toast und als ich den hochgebracht habe, hat sie ihr Buch weggelegt und gesagt: ,Stellen Sie meine Schuhe auf den Balkon.‘ Als ob ich ihr persönlicher Dienstbote wäre.“
Ezras Ohr nahm diese Beurteilung von Frau Dr. Dilmon wahr, aber sein Hirn war mit der Verrechnung von Extraleistungen beschäftigt. Er überlegte, dass er einen Modus finden musste, um das zu überblicken. Natürlich war das kein echtes Hotel, aber man musste zumindest alle Funktionen eines echten Hotels einführen. Alles, was ein echtes Hotel ausmachte, musste bereit sein, um den Anschein eines echten Hotels nicht zu stören. „Bitte seid so lieb und steckt mir einen Zettel in die grüne Kluppe neben dem Telefon, wenn ihr etwas irgendwohin bringt. Ich glaube, das ist die einfachste Art, alles zu verrechnen. Gar nicht lange diskutieren, sondern einfach aufschreiben, was ihr wohin gebracht habt.“
Da sah er die Biologin an der Küche vorbeigehen.
Wieso war die in dem Gang? Was wollte die dort?
Er machte am Absatz kehrt und folgte ihr. Gerade sah er sie noch um die Ecke biegen, dann hörte er eine Stimme. Die kannte er, tief und vibrierend – Zimmer 5 – Red Warhol.
Sie sagte: „Da war so ein Typ, der behauptet, mich zu kennen.“
„Und, was hast du gesagt?“
„Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Er hat sich benommen, als ob wir mal zusammen gewesen wären. Kann ich mir aber nicht vorstellen, oder?“
Ezra wischte an der neuen Messingtürschnalle von der Speisekammer – für den Fall, dass einer um die Ecke schaute.
„Wie sah er denn aus?“
„Lang, dünn, mit auffallendem Halstuch – ich kann‘s mir einfach nicht vorstellen …“, fügte sie hinzu.
Dann näherten sich die Schritte der beiden der Ecke. Ezra nahm langsam und deutlich sichtbar sein Tuch von der Türschnalle und begab sich offiziell zu seinem Empfang. Als er an den