George Sand

Geschichte meines Lebens


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und dies Leben in der Wiege zeigt sich mir als ein außerordentlich langes und von einer sanften Eintönigkeit erfüllt.

      Meine Mutter arbeitete früh an meiner Entwickelung, und wenn mein Gehirn auch keinen Widerstand leistete, so war es doch auch in keiner Weise voraus und hätte sich vielleicht erst spät thätig bewiesen, wäre man ihm nicht zu Hülfe gekommen. Gehen konnte ich, als ich zehn Monate alt war; sprechen lernte ich ziemlich spät, aber als ich angefangen hatte, einige Worte zu sagen, lernte ich die andern sehr schnell und mit vier Jahren las ich, sowie meine Cousine Clotilde; wir Beide waren wechselsweise durch unsre Mütter unterrichtet. Man lehrte uns auch Gebete und ich erinnere mich, daß ich sie ohne Anstoß von einem Ende zum andern hersagte, aber nicht das Geringste davon verstand — ausgenommen die ersten Worte des letzten Gebetes, das wir hersagen mußten, wenn wir, wie das oft geschah, unsere Köpfe auf ein Kissen legten. Es begann: Mein Gott, ich gebe dir mein Herz! Ich weiß nicht, warum ich dies besser als alles Andere verstand, denn es ist viel Metaphysik in diesen wenigen Worten; aber gewiß ist, daß ich es verstand, und daß es die einzige Stelle in meinen Gebeten war, bei welcher ich an Gott dachte und an mich selbst. Das Vater unser, den Glauben und das Ave Maria konnte ich sehr gut auf französisch, mit Ausnahme der Bitte: gieb uns heute unser täglich Brod! — aber wenn ich diese Gebete wie ein Papagei lateinisch hergeplappert hätte, würden sie nicht unverständlicher für mich gewesen sein.

      Man ließ uns auch La Fontaine's Fabeln lernen; aber als ich sie fast alle konnte, waren sie mir noch immer ein verschlossenes Buch. Ich glaube, ich war es so müde, sie herzusagen, daß ich darum mein Möglichstes that, um sie recht spät zu verstehen und erst im Alter von 15 oder 16 Jahren wurde mir ihre Schönheit klar.

      Man hatte sonst die Gewohnheit, das Gedächtniß der Kinder mit einer Unmasse von Schätzen anzufüllen, die über ihrem Begriffsvermögen stehen. Die kleine Anstrengung, die man ihnen dadurch verursacht, tadle ich nicht; Rousseau, der dieselbe in seinem „Emile“ ganz verwirft, setzt das Gehirn seines Zöglings der Gefahr aus, in Unthätigkeit so zu verdummen, daß es die Dinge, die für sein späteres Alter aufbewahrt sind, nicht mehr zu lernen vermag. Es ist gut, die Kindheit so früh als möglich an eine mäßige, aber tägliche Uebung der Geistesgaben zu gewöhnen; man beeilt sich nur zu sehr, ihnen köstliche Dinge darzubieten.

      Es giebt keine Literatur zum Gebrauch für kleine Kinder, alle die hübschen Gedichte, die man ihnen zu Ehren gemacht hat, sind geziert und mit Worten überladen, die nicht aus ihrem Wörterbuche stammen. Die ersten Verse, die ich gehört habe, sind folgende, die wahrscheinlich Jedermann bekannt sind und mir meine Mutter mit der frischesten und sanftesten Stimme vorsang:

      „Wir wollen in die Scheune geh'n,

       Um das weiße Huhn zu seh'n;

       Es legt ein Ei von Silber fein,

       Das soll für unser Kindchen sein.“

      Der Reim ist nicht eben reich; aber darauf kam es mir nicht an und das weiße Huhn, das silberne Ei, das man mir jeden Abend versprach und nach dem ich Morgens schon nicht mehr verlangte, machte auf mich den lebhaftesten Eindruck. Das Versprechen kam immer wieder und mit demselben die naive Erwartung. Freund Leclair, erinnerst Du Dich daran? auch Dir hat man jahrelang dies wunderbare Ei versprochen; es erweckte nicht Deine Habsucht, aber es erschien Dir als ein poetisches, anmuthiges Geschenk des guten Huhnes. Und wenn man Dir das silberne Ei gegeben hätte, was hättest Du damit gemacht? — Deine schwachen Hände hätten es nicht zu halten vermocht und Dein unstäter, wechselnder Sinn wäre dieses dummen Spielzeugs bald müde geworden. Was liegt an einem Ei, was liegt an einem Spielzeuge, das nie zerbricht? Aber die Einbildungskraft macht Etwas aus Nichts und die Geschichte dieses silbernen Eis ist vielleicht die aller materiellen Güter, deren Besitz unsere Begierde reizt. Der Wunsch ist viel, der Besitz ist sehr wenig.

      Am Vorabend des Weihnachtsfestes sang mir meine Mutter ein ähnliches Lied vor; da dies jährlich aber nur einmal geschah, kann ich mich nicht mehr darauf besinnen. Desto deutlicher erinnere ich mich meines festen Glaubens an den Vater Noël, der als ein kleiner Greis mit weißem Barte erschien, durch den Schornstein in's Kamin hinunterstieg und um die Mitternachtsstunde ein Geschenk in meinen kleinen Schuh legte, das ich dann beim Erwachen fand. Mitternacht! diese phantastische Stunde, welche die Kinder nicht kennen, und die man ihnen als das unerreichbare Ziel ihres Wachens zeigt! welche unglaublichen Anstrengungen habe ich gemacht, um nicht vor der Ankunft des guten Alten einzuschlafen! ich hatte zugleich das größte Verlangen und die größte Angst, ihn zu sehen; aber es gelang mir nie, mich bis dahin wach zu erhalten, und am folgenden Morgen war mein erster Blick für den Schuh am Rande des Kamins. Welche Bewegung verursachte mir die Umhüllung von weißem Papiere! denn der Vater Noël war von außerordentlicher Reinlichkeit und versäumte nie, seine Gabe sorgsam einzuwickeln. Ich lief barfuß hin, um mich meines Schatzes zu bemächtigen; es war niemals ein sehr kostbares Geschenk, denn wir waren nicht reich. Es war nur ein kleiner Kuchen, oder eine Orange, oder ganz einfach ein schöner rother Apfel. Aber das erschien mir so köstlich, daß ich es kaum zu essen wagte. Die Einbildungskraft spielte auch hierbei ihre Rolle — sie ist das ganze Leben des Kindes.

      Ich kann Rousseau, der alles Wunderbare als Lüge verwirft, durchaus nicht beistimmen. Die Vernunft und der Unglauben kommen früh genug und von selbst; ich erinnere mich genau des Jahres, als ich zuerst an der Existenz des Vaters Noël zu zweifeln begann. Ich war fünf oder sechs Jahr alt und dachte: es möchte wohl meine Mutter sein, die den Kuchen in meinen Schuh legte. Darum erschien er mir aber auch weniger schön und weniger wohlschmeckend, als die andern Male und ich fühlte eine Art von Bedauern, daß ich nicht mehr an den guten Alten mit weißem Barte glauben konnte. Ich habe meinen Sohn länger daran glauben sehen, denn Knaben sind einfältiger als Mädchen. Er machte, ebenso wie ich, große Anstrengungen, um bis Mitternacht wach zu bleiben; das mißlang ihm ebenso wie mir, aber am folgenden Morgen fand er, wie ich, den wunderbaren Kuchen, der in den Küchen des Paradieses gebacken ist. Aber auch für ihn war das erste Jahr des Zweifels das letzte, wo der gute Alte erschien. Man muß den Kindern die Speisen vorsetzen, deren sie gerade bedürfen und muß ihrem Alter nicht voraneilen, so lange ihnen das Wunderbare zusagt, muß man es ihnen geben; aber sobald sie anfangen, desselben überdrüssig zu werden, muß man sich wohl hüten, den Irrthum zu verlängern und den natürlichen Fortschritt ihrer Vernunft zu hemmen.

      Das Wunderbare aus dem Leben des Kindes streichen, ist ein Eingriff in die Gesetze der Natur. Ist nicht die Kindheit selbst ein geheimnißvoller Zustand des Menschen und voll unerklärter Wunder? Woher kommt das Kind? Hat es nicht vielleicht, ehe es im Mutterschooße seine Gestalt gewann, im unergründlichen Schooße der Gottheit irgend ein Dasein gehabt? Entstammt das Theilchen Leben, das es erfüllt, nicht jener unbekannten Welt, in die es zurückkehren soll? Die rasche Entwickelung der Seele in unsern ersten Jahren; der wunderbare Uebergang aus einem chaotischen Zustande in ein verständiges und geselliges Dasein; die ersten Sprachbegriffe, die unbegreifliche Thätigkeit des Geistes, welcher lernt, nicht allein den äußern Dingen, sondern auch dem Thun, dem Gedanken, dem Gefühl einen Namen zu geben — dies Alles gehört zu den Wundern des Lebens und ich wüßte nicht, daß sie irgend Jemand erklärt hätte. Ueber das erste Zeitwort, das ich von kleinen Kindern aussprechen hörte, bin ich immer ganz erstaunt gewesen. Ich begreife, wie sie das Hauptwort lernen — aber die Zeitworte, und besonders die, welche Neigungen ausdrücken, sind etwas Wunderbares. Wenn das Kind seiner Mutter z. B. zum ersten Male sagen kann, daß es sie liebt, ist das nicht, als ob es eine höhere Eingebung empfangen und ausgedrückt hätte? Die äußere Welt, in welcher sich dieser arbeitende Geist bewegt, kann ihm noch keinen deutlichen Begriff von den Regungen der Seele gegeben haben. Er hat bis dahin nur in seinen Bedürfnissen gelebt und das Erwachen seines Verständnisses ist nur durch die Sinne vor sich gegangen. Das Kind will sehen, greifen, schmecken und alle äußern Gegenstände, deren Gebrauch es zum größten Theile nicht kennt, von deren Ursache und Wirkung es nichts weiß, müssen Anfangs wie eine räthselhafte Erscheinung an ihm vorübergehen. Hier beginnt nun die innere Verarbeitung: die Einbildungskraft erfüllt sich mit diesen Gegenständen; das Kind träumt im Schlafe; es träumt wahrscheinlich auch, wenn es nicht schläft, wenigstens kennt es während einer langen Zeit den Unterschied des schlafenden und wachenden Zustandes nicht. Wer kann sagen, warum es durch einen neuen Gegenstand erschreckt oder erheitert wird? Wodurch empfängt es den unbestimmten Begriff des Schönen und des Häßlichen? Durch eine Blume,