Robert Hoffmann

Die unbeschriebene Welt


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Mal höre ich ein knirschendes Geräusch über uns. In diesem Moment fällt ein Schwall von Geröll und Staub auf uns herab. Ich ziehe im Reflex die Arme über meinen Kopf. Zum Glück kommen keine größeren Brocken bis zu uns hindurch. Die Luft ist wieder mit Staub durchsetzt, und ich höre ihn heftig husten.

      »Vermutlich haben wir dafür keine Zeit mehr«, meine ich.

      »Ja, womöglich«, keucht er.

      »Mir fällt gerade was ein, ... oben hab ich einige Stangen gesehen, die aus dem Geländer ragen. Ich werd mich mal umschauen.«

       Er nickt und klopft sich den Staub von seinem Oberkörper.

      »Einen Versuch ist es wert.«

       Ich gehe, das Geländer prüfend, die Treppen hinauf. An einigen Stellen ist es so verbogen, dass sich die Querstreben am oberen Ende von der Brüstung gelöst haben. Ich umgreife eine Strebe und ziehe sie, ohne viel Kraft anzuwenden heraus. Wenn er meinen Namen kennt, wird er sicher auch wissen, was mit mir passiert ist. Vielleicht sind wir ja zusammen hergekommen? — Nein, dann hätte er wohl anders reagiert.

      »Denkst du, dass dein Bein in Ordnung ist, nichts gebrochen oder verrenkt?«, frage ich, als ich wieder bei ihm bin.

      »Alles okay, ich kann es sogar etwas bewegen«, erwidert er.

      »Genug, um den Fuß herauszuziehen, sobald ausreichend Platz da ist?«

       Er nickt. Ich suche eine gute Position, um die Stange anzusetzen.

      »Bereit?«

      »Sicher.«

       Ich beginne den Stein zu rollen, klemme die Stange immer weiter nach vorne und drücke sie mit beiden Händen — noch ein bisschen, noch etwas. Verdammt! Kein Anzeichen eines Drehpunkts. Stattdessen biegt sich die Stange zunehmend. Ich hole etwas Schwung und presse mit aller Kraft. Ein knirschendes Geräusch und es macht »Plong«. Die Stange knickt in der Mitte ein und der Brocken rollt mit Wucht zurück.

      »Vorsicht!«, schreie ich, springe zur Seite und kann mich gerade noch auf den Beinen halten. Jemand tippt mir auf die Schulter; ich zucke zusammen und drehe mich um. Er lächelt mich breit an und streckt mir seine Hand entgegen.

      »Ich bin William, kannst mich Will nennen. Danke für deine Hilfe, Paul.«

      »Keine Ursache, Will. Aber sag mir, woher kennst du mich?«

      »Ich kenn dich nicht ... nur dein Namen. Den hast du vorhin laut genug gerufen, war nicht zu überhören.«

      »Ach ja, stimmt. Aber wie kommst du darauf, dass es mein Name war? Ist doch eher ungewöhnlich, seinen eigenen Namen zu rufen.«

       Er humpelt zum Geländer, stützt sich dort ab und klopft sich den Staub von der Kleidung.

      »Okay, lass mich raten, du weißt nicht mehr, wie du hierher kamst und wer du eigentlich bist, stimmt‘s?«

      Ich nicke. »Denk nicht, dass du womöglich der Erste bist, dem es hier so ergangen ist. Ob du es glaubst oder nicht, es ist uns allen passiert.«

      »Allen? Aber es ist nicht von Dauer?«

      »Wir erinnern uns mit der Zeit an bestimmte Dinge wie ... an unseren Namen oder zum Beispiel an — sagen wir — Pizza.«

      »Ich weiß, was eine Pizza ist, das ist nicht mein Problem.«

      »Dann geht das bei dir schneller, ich brauchte dafür ne Weile. Aber sag, kannst du dich auch daran erinnern, je eine gegessen zu haben?«

      »Natürlich ...«, erwidere ich und suche nach einer Erinnerung, aber alles endet mit dem Aufwachen am Plateau. Für einen Moment durchfährt mich wieder diese Unruhe. »... ich ... nein ... wie ist das nur möglich?«

       Will verlagert das Körpergewicht prüfend auf den lädierten Fuß.

      »Tja, das ist die Frage. Lass uns erst mal von der Treppe runter«, meint er und zeigt die Stufen hinab. Ich nicke.

      »Wenn wir uns erinnern, dann nur sehr eingeschränkt. Es fehlen quasi die Erlebnisse«, er kratzt sich am Kopf. »Wie sagt es doch Maria immer: Das faktische Wissen — also zum Beispiel, was eine Pizza ist — kommt zurück, aber nicht die gedanklichen Verknüpfungen.«

       Mir wird schwindelig, und ich sacke auf einer Treppenstufe zusammen.

      »Willst du mir damit sagen, dass niemand hier irgendeine Ahnung hat, was eigentlich passiert ist?«

      Er nickt.

      »Aber ... dann brauchen wir Hilfe. Wo ist die nächste Stadt?«

       Er setzt sich neben mich.

      »Es gibt hier nur eine Stadt und allen dort erging es so wie dir ... aber Paul, das ist halb so wild, uns geht es trotzdem gut.«

      »Nur eine Stadt? Du meinst die Siedlung unten am Fluss?«

      »Ja, Memoria.«

      »Memoria? Wie lange bist du schon hier?«

      »Meinst du in Tagen?«

      »Zum Beispiel.«

      Er prustet. »Also ... wo soll ich anfangen? Es wird dich überraschen, aber der Tag ist hier 28 Stunden lang.«

      »Was? Wie kommt ihr darauf?«

      »War nicht einfach rauszufinden, wo ja quasi alle Geräte, die wir so bei uns hatten, nicht mehr funktionieren. Zum Glück besaß Alex noch so eine altmodische Uhr«, erklärt er. »Okay, also alle hundert Tage feiern wir das Gründungsfest ... lass mal überlegen ... ja, vor Kurzem hatten wir das Zwanzigste, somit bin ich hier vor etwa ... zweitausend Tagen aufgewacht.«

      »Das sind ... über fünf Jahre?«

       Will blickt grübelnd nach oben.

      »Wenn du es in die 365 Tage aufteilst. Aber es sind ja 28 Stunden pro Tag, zudem haben wir hier auch keine Jahreszeiten.«

       Ich schüttle den Kopf und überlege, ob ich ihm glauben soll.

      »Das ist mir erst aufgefallen, als ich einmal vom Schlittschuhlaufen träumte«, erklärt er und steht von der Treppenstufe auf. »Lass uns nach Memoria gehen. Maria richtet dir ne Unterkunft ein und du kannst dich erst mal einfinden.«

       Ich richte mich auf und spüre, wie mein Magen knurrt. Wir folgen den Stufen, bis sie auf der Höhe des Sees enden. In der Nische hinter dem Wasserfall dominiert wieder das donnernde Getose. Er deutet in eine Ecke, von der aus eine flache Rampe in einen Tunnel führt. Hier hängen weitere diffus schimmernde Lampen von der Decke.

      »Dort entlang«, meint er.

       Ich kneife die Augen zu als wir aus dem Tunnel in die helle, offene Landschaft treten. Ein beißender Hunger macht sich bei mir bemerkbar.

      »So eine Pizza könnte ich jetzt wirklich vertragen«, sage ich.

      Er lacht. »Die haben wir leider nicht, aber andere leckere Dinge ... wie Mohnkuchen, Honwurst und Karmon.«

      »Karmon«, murmele ich.

      »Ja, das sind kleine runde Knollen, womöglich so ähnlich wie Kartoffeln.«

      »Ich verstehe das einfach nicht, ich erinnere mich an den Geschmack von Kartoffeln, aber nicht daran, jemals eine gegessen zu haben.«

      »Ich weiß, aber glaub mir, daran wirst du dich schnell gewöhnen.«

      Memoria

      ( : )

      Der Weg führt durch weite Felder aus ockergelbem Gras. Hüfthohe Blumen mit großen, weißen Blüten durchziehen das Land in verschlungenen Linien. Die Luft ist angefüllt mit Pollen, welche im Abendlicht rosa schimmern. Das entfernte Rauschen des Wasserfalls wird zunehmend von Vogelgezwitscher überlagert. Will deutet auf die tief am Horizont stehende Sonne und erklärt mir, dass sie sich auf einer Kreisbahn bewege, deren Mittelpunkt sich nie ändere und weit über dem Horizont liege. Daher sei es nachts nie richtig dunkel.

      »Die Sonne, so haben wir