Robert Hoffmann

Die unbeschriebene Welt


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Sie schüttelt den Kopf und zeigt in eine Richtung quer über den Platz.

      »Dafür ist es zu weit weg, auf der anderen Seite des Flusses.«

       Sie steigt von der Plattform hinunter und reicht mir die Hand.

      »Willkommen in Memoria, Paul.«

       Unsere Augen treffen sich zum ersten Mal für einen längeren Moment.

      »Ich hoffe, meine Prothese hat dich nicht erschreckt?«, fragt sie.

       Ich schüttle den Kopf.

      »Nein.«

      »Ja, das war schon ein Schock, als ich hier ohne Erinnerung aufgewacht bin und dann bemerkte, dass mir ein Unterschenkel fehlt. Stattdessen nur diese Prothese.«

      »Das kann ich mir vorstellen«, erwidere ich.

      »Damals hatte sie noch eine Gummi-Manschette, hat ziemlich echt ausgesehen. Ich hab sie jedoch entfernt, so komme ich viel besser ran, um sie hin und wieder zu reparieren«, erklärt sie und streckt ihr linkes Bein — die Prothese — vor. Die Stange endet in einem ebenso metallenen Fuß, der in einem gewöhnlichen Schuh steckt. Sobald sie ihr Gewicht verlagert, gibt eine Feder fein dosiert nach, sodass ihre Bewegungen geschmeidig bleiben.

      »Ich hab es überhaupt nicht an deinem Gang bemerkt.«

      »Ich bin damit genauso beweglich wie jeder andere.«

      »Und du hast keinerlei Erinnerung an einen Unfall?«

       Sie schüttelt den Kopf.

      »Nein, in all den Jahren kein einziges Mal.«

      »Würdest du es überhaupt noch wissen wollen?«, wirft Will ein.

      »Anfangs ... aber mittlerweile ... es würde ja nichts ändern«, erwidert sie.

       Sobald ihr Mund ein Lächeln formen will, zeichnet sich ein feines Grübchen auf ihrer rechten Wange ab. Sie streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht und schaut mich sanft an.

      Aus einer Gasse taucht eine ältere Frau auf und kommt zielstrebig auf uns zu. Maria blickt zu ihr hinüber und ihr Lächeln verschwindet.

      »Judit, wie geht es Sebastian?«, fragt sie.

      »Nicht gut ... ich ... ich suche Jules, weißt du, wo er ist?«

      »Ich glaube im Theater«, erwidert Maria. »Will, zeige Paul doch sein neues Haus, dann kann ich mit ihr nach Jules suchen.«

      »Okay«, erwidert er.

       Er zeigt in eine Straße.

      »Zum Bellusplatz geht es dort am Primus entlang bis zur Brücke.«

       Ich verlasse mit ihm den Brunnenplatz und blicke kurz zurück zu Maria, sie biegt mit Judit in eine Seitengasse ab.

      »Maria ist offensichtlich sehr wichtig in Memoria«, sage ich.

      »Ja, sie kümmert sich quasi um alles, was mit der Stadt zu tun hat.«

      »Dann ist sie so etwas wie die Bürgermeisterin?«

      »Äh ... das Wort kommt mir bekannt vor ... ich glaube, das ist sie wohl, obwohl wir hier dieses komische Wort nicht verwenden.«

       Wir laufen an großen und kleinen Häusern vorbei, kaum eines gleicht dem anderen. Die meisten Fenster sind eher unregelmäßig angeordnet, sie formen mit den Türen unsymmetrische Gesichter, manche fröhlich andere grimmig dreinschauend. Wir treffen auf einen Fluss und folgen dem Ufer. Will erklärt mir, dass vom Wasserfall drei große Flüsse abgehen. Vom Plateau aus gesehen befände sich links der Primus, in der Mitte der Secum und ganz rechts der Ora. Vor uns taucht eine elegante Holzbrücke auf, die auf einem Bogen über dem Fluss zu balancieren scheint. Ein Dunstschleier verstärkt die Dämmerung und gibt den erleuchteten Fenstern der Häuser einen diffusen Lichtkegel. Hin und wieder erscheinen darin Silhouetten, die wie Pupillen in die Stadt blicken und den Häusergesichtern Charakter verleihen.

      »Was ist mit Sebastian?«, frage ich.

      »Weiß nicht ... er ist schon sehr alt. Jules hat ihn auf über hundert geschätzt.«

      »Wer ist Jules?«

      »Er und Ben sind bei uns quasi die Ärzte.« Zum ersten Mal sehe ich Will mit ernster Miene. »Schade, dass wir hier kaum noch Neuankömmlinge wie dich haben.«

      »Wie viel leben hier eigentlich?«

      »Wir sind nun auf unter eintausend geschrumpft.«

      »Und wie lange ist es her, seitdem der Letzte vor mir erschienen ist?«

       Er blickt grübelnd in die Luft.

      »Hm ... es muss etwa ein Jahr her sein, da ist Jules auf Austin getroffen. Das war verrückt, Jules war völlig außer sich — nicht so besonnen wie du, Paul. Austin wollte ihn beruhigen, nicht eben seine Stärke, da wurde Jules handgreiflich. Austin verlor die Balance, schlug hart mit dem Kopf auf, ja, da lag er dann mit blutender Kopfwunde. Irgendwas muss daraufhin in Jules klick gemacht haben. Er vergaß seine Aufregung, behandelte die Wunde mit einer Pflanze und zerriss sein Hemd, um Austin zu verbinden. Ja, und so wurde er schließlich unser Arzt.«

      »Aber auch Jules ist nicht wieder eingefallen, was er zuvor tat und wie er hierherkam?«, frage ich, obwohl ich die Antwort schon erahne.

      »Nein, auch er kann sich nicht mehr erinnern.«

      »Ist das da vorne die Bellusbrücke?«

      »Ja, aber lass uns zuerst zum nächsten Bona-Fama.«

      »Bona ... Wohin?«

       Er zeigt auf ein Gebäude gleich neben der Brücke.

      »Das Bona-Fama ist ... eine Art Lager, in das quasi jeder hineinstellen kann, was er nicht mehr benötigt oder anderen geben möchte.«

      »Eine Tauschbörse?«

       Er überlegt und schüttelt den Kopf.

      »Eigentlich nicht. Du musst ja nichts tauschen. Dort gibt es alles, was man so braucht wie Nahrung, Kleidung ... ja und womöglich auch Matratzen und Bettdecken. Oder wodrauf willst du heute schlafen?«

      »Ja, richtig.«

       Sein Gesicht strahlt mit einem Mal.

      »Mina ist bei uns die Frau für Kleidung, Polster und Stoffe. Sie ist so süß und wunderschön wie ein Engel, sag ich dir. Sie stellt immer was ins Bona-Fama.«

      Gleich am Eingang des Lagers stehen einige Handkarren. Will nimmt einen davon, zieht ihn hinter sich her und drückt die Schwingtür auf. Er berührt eine Fläche an der Wand, und große Quadrate an der Decke fangen an zu leuchten. Der hohe Innenraum ist mit Trennwänden in drei Abschnitte unterteilt. Umlaufend befinden sich schmale Fenster direkt unterhalb der Decke, doch zu hoch, als dass man hinausschauen könnte. Auf der rechten Seite befindet sich ein Regal mit seltsamen, silbernen Platten, darüber eine Schale mit Globen und daneben ein weiteres Regal mit kleinen Gefäßen, aufgerollten Tüchern und einer Schere.

      »Das ist unsere kleine Not-Apotheke«, meint er und zeigt auf das Regal.

       Ich nicke. Mein Blick fällt auf einen blauen Sessel, er steht inmitten einer Ansammlung von Möbelstücken, gegenüber vom Eingang. Ich ziehe ihn hervor und setze mich hinein.

      »Sehr bequem!«

      »Dann rauf damit auf den Karren«, erwidert er.

       Wir packen den Sessel und legen ihn auf die Ladefläche. Auf der rechten Seite führt ein Durchgang zum nächsten Bereich. Hier sind diverse Lebensmittel auf Regale verteilt. Daneben gibt es Schüsseln, Töpfe und Besteck.

      »Werden die Lebensmittel nicht irgendwann schlecht?«

      »Nein, wir kümmern uns regelmäßig darum. Und alles, was zu schnell verdirbt, ist dort drüben im Kühlfach«, erklärt er und zeigt auf eine metallene Klappe in der Wand. Er nimmt ein Stück Brot, eine Kräuterpaste und eine Wurst aus dem Regal und legt sie in den Karren.

      »Honwurst,