Robert Hoffmann

Die unbeschriebene Welt


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Schale. Sind so lecker ... aber leider grad nicht da.«

       Wir gehen zurück, an den Möbeln vorbei, zu den Kleidern und Polstern. An zwei langen Stangen, die bis zur Mitte des abgetrennten Bereichs verlaufen, hängen unzählige Kleider, Hemden, Jacketts und Hosen. Will meint, ich solle jedoch besser zu Mina gehen, damit sie genau Maß nehmen könne. Die Kleidung hier sei eher als Reserve gedacht, sagt er. Mir fällt eine dunkelgrüne Jacke ins Auge, ich nehme sie vom Bügel und probiere sie an. Sie ist innen mit einem weichen Flanellstoff bedeckt, besitzt zwei große Taschen und passt, als wäre sie für mich geschneidert worden. Will meint, dass sie viel zu warm für Memoria wäre, aber ich lege sie trotzdem in den Karren. Gegenüber der Kleidung liegen zwei aufgerollte Matratzen. Er nimmt eine davon und zeigt auf einen Stapel aus Decken und Kissen.

      Der Karren füllt sich zunehmend. Mir erscheint es etwas merkwürdig, sich all diese Dinge einfach so zu nehmen. Aber Will erklärt, sie seien genau dafür da und dass ich womöglich bald selber etwas ins Bona-Fama stellen würde.

      Der Karren poltert über die Dielen der Holzbrücke. Ich blicke in den dunkelgrauen Himmel.

      »Ist diese Dämmerung ... die Nacht?«

      »Ja, dunkler wird es nicht. Ich weiß, dass die Nächte normalerweise düster sein sollten, aber ich kann mich an keine solche Nacht mehr erinnern«, sagt er und fängt an zu lachen. »Womöglich bekäm ich bei einer dunklen Nacht mittlerweile richtig Angst.«

       Der Platz hinter der Brücke öffnet sich zu einem kleinen Park. In der Mitte entfaltet ein alter Baum seine Krone. Der Stamm wirkt wie ein geschnürtes Bündel aus verschiedensten Pflöcken, als hätte sich ein ganzer Pulk von Bäumen entschieden, zu einem Baum zu verschmelzen. Die mächtigen Wurzeln sprießen bereits über dem Boden in Schlaufen heraus und vergraben sich behutsam in die Erde. Der adrige Stamm verläuft kerzengrade in die Höhe, dann, als würde er an etwas zerschellen, zerbirst die Krone in einem beinahe waagerechten Astgeflecht. Der Baum ist von Sitzbänken umgeben, und um den gesamten quadratischen Platz verlaufen steinerne Säulen, die mit schmalen Bögen verbunden sind. Es ist ein pittoresker Ort, an dem einem Maler vermutlich nie die Motive ausgehen würden.

       Will zeigt auf ein Haus direkt am Platz gegenüber der Brücke.

      »Das dort ist es.«

      »Es ist etwas dunkler als die anderen«, erwidere ich.

      »Ja, weil es noch ganz frisch ist, aber das verliert sich in den nächsten Stunden.«

      »Ist es denn überhaupt schon bewohnbar?«

      »Sicher. Ist bereits ausgehärtet, aber könnte noch etwas riechen«, erklärt er.

       Wir gehen quer über den Platz an dem Baum vorbei. Dann bemerke ich tatsächlich den seltsamen Geruch.

      »Es riecht ... schwer zu beschreiben ... säuerlich?«, meine ich.

      »Kein Problem, bis du deine Matratze hier aufschlägst, hat sich das verzogen.«

       Ein Ruck fährt durch Will, und er fängt an, mit einer aufgesetzten Stimme zu sprechen.

      »So, Herr Paul, wenn ich ihnen ihre neuen Gemächer zeigen dürfte?«

       Er hält die Tür auf, macht eine Verbeugung und winkt mich übertrieben hinein.

      »Zu ihrer Linken sind die Ess- und Kochbereiche. Zur Rechten haben wir ein Wohnzimmer, womöglich für ausgelassene Feierlichkeiten, und wenn sie mir bitte nach oben folgen würden.«

       Er springt mit großen Sätzen die Treppe hinauf. Ich folge ihm.

      »Hier haben wir dann das Schlafzimmer, mit einem Balkon zum Platz und auf der anderen Seite ein Bad.«

      »Danke, Herr William«, entgegne ich. »Fehlen nur noch die Möbel.«

      »Die kannst du dir quasi Stück für Stück aus dem Bona-Fama holen oder du fragst Alex, er macht die Schränke, Stühle und Tische genau auf Maß.«

      »Irgendwie verrückt, ich wache an einem unbekannten Ort auf und bekomme gleich am ersten Tag ein Haus geschenkt. Wie kann ich das je wieder gutmachen?«

       Er blickt mich fragend an.

      »Geschenkt? Es ist ja nur ein Haus. Schließlich braucht ja jeder eine Unterkunft. — Finde einfach etwas, das du machen möchtest, der Rest ergibt sich dann von selbst.«

      »Du meinst etwas Nützliches wie ... Tische schreinern oder Kleidung schneidern? Wer weiß, vielleicht bin ich ja ein Schneider?«

       Er zieht die Augenbrauen hoch.

      »Ja, wer weiß.«

       Ich schüttle den Kopf.

      »Nein, wohl eher nicht. Es ist schwierig herauszufinden, was man ist, wenn man nicht mehr weiß, wer man ist.«

      »Ach was, das ist nicht schwer. Tue einfach irgendwas ... und das bist du dann!«, erwidert er und nickt.

      »Und wenn ich feststelle, dass ich das gar nicht sein will?«

       Er blickt mich wieder fragend an.

      »Dann machst du halt was anderes.«

      Seiner unkomplizierten Logik habe ich nichts Brauchbares mehr entgegenzusetzen.

      »Danke, Will, hoffentlich wache ich morgen nicht auf und habe wieder alles vergessen.«

       Will gähnt und seine Stimmung wechselt schlagartig in eine matte Müdigkeit.

      »Das wirst du nicht. Das ist hier jedem nur einmal passiert«, erwidert er.

      »Woher willst du das wissen?«

      »Also ... ich weiß es einfach!«

       Er taumelt die Treppe hinunter.

      »Richte dich erst mal in Ruhe ein. Bin echt müde, war‘n langer Tag. Maria wird dir morgen sicher die Schmiede zeigen. Du wirst staunen, sag ich dir.«

      »Ich bin gespannt«, erwidere ich.

      Nachdem er gegangen ist, hole ich die Matratze, das Kissen und die Decke aus dem Karren und mache es mir im Schlafzimmer bequem. Als ich die Geschehnisse dieses seltsamen Tages durchgehe, überkommt mich tiefe Müdigkeit, der ich unvermittelt nachgebe.

      Die Schmiede

      ( | )

      Die Sonne blendet mich durch die Augenlider hindurch. Ein Moment von Orientierungslosigkeit. Ich bin ... in Memoria. Erinnerung — so fühlt sich das an. Ich verdränge meine Müdigkeit, stehe auf und tappe zum Balkon. Das Sonnenlicht ergießt sich über den Platz, taucht seine Strahlen in das Grün der Blätter, in das Beige der Säulen und in das Ocker der Häuser. Mitten in dem Farbenspiel erscheint vor mir wieder der rote Lichtreflex, ein Schmetterling, der sich im Blau des Himmels auflöst. In dem großen Baum zwitschert ein gelber Vogel. Ein älterer Mann fegt Laub zu einem Haufen zusammen, und eine Gruppe von Frauen schlendert, ins Gespräch vertieft, an den Säulen entlang. Auch wenn ich mich nicht damit abfinden mag, dass meine Erinnerung möglicherweise nie wieder zurückkommt, fällt es mir doch leicht, diesen Platz als mein neues Zuhause anzunehmen.

      Ich denke, ich werde von der Honwurst probieren und den Sessel vom Karren holen. Wenn mein Aufenthalt hier von Dauer ist, benötige ich natürlich mehr als nur einen Sessel und eine Matratze. Ich sollte ins Bona-Fama zurück und überlegen, was ich noch gebrauchen kann. Vielleicht finde ich dort etwas zum Schreiben, um mir einige Notizen zu machen. Da fällt mir mein Notizbuch wieder ein. Ich gehe zu meinem Jackett und greife in die Tasche. Sie ist leer. Ich muss es oben am Wasserfall vergessen haben. Das Notizbuch ist meine einzige Verbindung zu dem Leben vor Memoria. Bei der Einsturzgefahr wäre es allein wohl zu gefährlich dort hinzugehen, besser ich frage Will.

      ***

      Als ich mit dem Karren vom Bona-Fama zurückkomme, läuft mir Maria entgegen.

      »Morgen Paul, allem Anschein nach kommst du schon gut zurecht. Benötigst du da überhaupt noch meine Hilfe?«

      Ich nicke. »Ja, ich würde mir