Heike Schwender

Der Weltenschreiber


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darauf geachtet, bei Einbruch der Nacht wieder auf der Anhöhe zu sein. Zwischen den Grashalmen zu sitzen, den Rücken an einen großen und angenehm flachen Stein gelehnt, gibt ihm ein Gefühl von Sicherheit, das er auf seinen Erkundungsgängen niemals spürt. Seltsam in diesem kargen und so leeren Land.

       Der Wind frischt auf und es wird merklich kühler. Er würde gerne ein Feuer machen, aber es gibt in der näheren Umgebung kein Holz und den Turm möchte er nicht noch einmal betreten. Er tröstet sich mit dem Gedanken, dass er sowieso keine Streichhölzer hat. Sicher, er könnte lernen, wie man ein Feuer auf andere Art entfachen kann. Zeit genug hätte er.

       Es gibt auch kein Essen oder wenigstens Wasser. Seit er hier ist, plagen ihn ein nie gekannter Hunger und Durst, auch wenn es seinem Körper nichts auszumachen scheint, dass er weder das eine noch das andere stillen kann. Manchmal – wenn er Glück hat an zwei, drei Tagen die Woche – regnet es, und obwohl er durchnässt noch stärker friert, öffnet er begierig den Mund, um wenigstens den schlimmsten Durst zu löschen. Wenn er doch nur ein paar Eimer oder Flaschen hätte ...

       Alte Zeilen kommen ihm in den Sinn: ein gemaltes Schiff auf einem gemalten Ozean. Der sanfte Wind täuscht nicht über die Flaute hinweg.

       Die Nächte sind lang unter dem unbekannten Sternenhimmel. Allein der Alabastermond wirkt vertraut, auch wenn er jede Nacht als Vollmond kommt und nur eine flache Bahn über den Himmel zieht, niemals hoch über dem Horizont. Er verbringt die dunklen Stunden mehr dämmernd als schlafend, mit halbgeöffneten Augen in den Himmel blickend, wo sich manchmal eine Sternschnuppe zeigt, silbern blitzend oder in einem kräftigen Jadegrün. Dann sinkt er etwas tiefer in den Halbschlaf, während er auf den Morgen wartet.

       Er ist allein und ohne Kompass.

      Kapitel 6

      Sarah blickte sich in dem kleinen Raum um. Ihr erster Eindruck war der von Leere gewesen. Aber Kargheit traf es besser. In dem Zimmer befanden sich ein Schreibtisch und ein Stuhl. Sonst nichts. Die Wände waren kahl, bar jeden Details. Keine Bilder, keine Lichtschalter, keine Tapete. Die vielleicht einst weiße Farbe wirkte schmutzig. Das wenige Licht, das es schaffte, in den kleinen Raum vorzudringen, kam von einem winzigen vergitterten Fenster, das sich fast in Höhe der Decke an einer Seite des Zimmers befand.

      Sarah näherte sich langsam dem Schreibtisch. Der Raum kam ihr trostlos vor, als wolle er ihr eine traurige Geschichte erzählen und fände nur nicht die richtigen Worte. Der Schreibtisch war aus dunklem Holz und übersät mit Kerben und Brandlöchern. Das Ganze hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Schlachtfeld als mit dem Mobiliar eines Schriftstellers. Sarah erschauerte bei dem Anblick, ohne genau zu wissen, weshalb.

      Neben den Einkerbungen und Löchern hatte auch blaue Tinte ihre Spuren auf dem Schreibtisch hinterlassen. Auf seiner Platte bildeten die unterschiedlich geformten Flecken ein Muster, dessen Bedeutung nicht zu erraten war. Oder doch?

      Ein paar von ihnen zogen mit einem Mal Sarahs Aufmerksamkeit auf sich. Es war, als würden sich unter den Flecken Buchstaben verbergen, die grob übermalt worden waren. Sie versuchte, die Schriftzeichen darunter zu erraten und kam zu dem Schluss, dass es sich bei zweien um ein R handeln müsse. Ein weiterer könnte einmal ein A gewesen sein. Und in der Zeile darüber – noch ein R? Und davor ein O? Sarah hielt inne. Die Buchstabenkombination kam ihr vage bekannt vor. Sie dachte angestrengt nach, aber die Erinnerung ließ sich nicht greifen.

      Um sich abzulenken und dem Gedanken Zeit zu geben, sich unbewusst in ihr zu formen, unterzog sie den Schreibtisch und auch den Stuhl einer näheren Prüfung. An dem Stuhl war nichts Besonderes. Einfach, hölzern, grob geschnitzt. Die Sitzfläche war sichtbar abgenutzt, was Sarah stutzig machte. Ein derart abgenutzter Holzstuhl war ihr noch nicht untergekommen. Er musste über Jahrhunderte hinweg in Gebrauch gewesen sein! Die Universität von Paris war zwar alt, aber so alt? Vermutlich war der Stuhl ursprünglich nicht für diesen Raum angefertigt, sondern erst später hierher geschafft worden.

      Sarah wandte sich dem Schreibtisch und vor allem der einzelnen Schublade zu, die direkt unter der Tischplatte mittig angebracht war. Das Schloss schien verbogen, so als wäre schon einmal jemand hier gewesen und mit Gewalt in die Geheimnisse der Lade eingedrungen. Dieser Gedanke traf Sarah unvorbereitet und auch der nachfolgende warf sie für einen kurzen Moment aus der Bahn. Ihr Großvater! Wie hatte sie nur so blind sein können?

      Seit Monaten hatte sie fast täglich einen Blick auf die drei Notizzettel geworfen, die eingerahmt in ihrem Flur hingen. Die Notizen ihres Großvaters, die sie aus dem Fundus der Universitätsbibliothek ungefragt entwendet hatte. Und dort – auf einem der Papiere – standen einzelne Buchstaben, die ihr Großvater notiert hatte. Deshalb war ihr die Buchstabenfolge so bekannt vorgekommen! Auf dem Notizzettel stand Le Morte Darthur. Sarah merkte, wie ihr Herz anfing, schneller zu schlagen. War das möglich? Hatte sie endlich eine Spur gefunden, die es ihr erlaubte, die Nachforschungen zu verfolgen, die ihr Großvater vor seinem Verschwinden betrieben hatte? Eine Spur, der sie – wie damals ihr Großvater – nachgehen konnte? Würde sie nun endlich erfahren, was aus ihm geworden war?

      Sarah zwang sich selbst zur Ruhe. Zwar hatte sie – vielleicht – einen Teil der Notizen ihres Großvaters entschlüsselt, aber noch war nicht klar, ob sie das wirklich weiter brachte. Sie wusste ja nicht einmal, wie viele solcher Notizen es ursprünglich gegeben hatte! Die drei losen Zettel, die sie, nun ja, gefunden hatte, waren sicher nicht alles gewesen.

      Trotzdem nahm sie sich vor, diesem Hauch einer Fährte nachzugehen. Sie zog ihr eigenes Notizbuch hervor und schrieb den Titel von Sir Thomas Malorys Buch hinein, wobei sie die Buchstaben, die sie meinte, unter den Tintenflecken erkannt zu haben, unterstrich.

      Anschließend wandte sie sich wieder der Schreibtischschublade zu. Mit wenig Hoffnung, darin etwas zu finden, zog sie den Schub langsam heraus und blickte gespannt hinein. Sie behielt recht damit, dass kein Gegenstand darin lag. Dennoch aber war die Lade nicht direkt leer. Auf den hölzernen Unterboden hatte irgendjemand mit Tinte eine Skizze gezeichnet, die Sarah nun verwirrt ansah. War das eine Karte? Wenn ja, hatte sich niemand die Mühe gemacht, sie zum besseren Verständnis mit Namen zu versehen.

      Dort, die gestrichelte Linie könnte eine Grenze darstellen. Und der Strich, der sich in Schlangenlinien um sie herum bewegte war dann vielleicht ein Fluss? Sarah merkte schnell, dass sie mit dieser Karte nichts anfangen konnte. Dennoch wollte sie diesen Hinweis nicht einfach unbeachtet zurücklassen, also übertrug sie die Zeichnung so genau wie möglich in ihr Notizbuch und schloss anschließend die Schublade.

      Zum Nachzeichnen der Karte hatte sie auf dem hölzernen Stuhl Platz genommen, der trotz seiner harten Sitzfläche erstaunlich bequem war. Nun blieb sie noch einen Augenblick lang sitzen und verinnerlichte die Atmosphäre, die in diesem kargen, dämmerigen Zimmer herrschte. War hier tatsächlich jemand gesessen, stundenlang vielleicht, um zu schreiben? Sarah schloss die Augen und rief sich den Notizzettel ihres Großvaters in Erinnerung, auf dem Malorys Buchtitel vermerkt war. Dort stand noch etwas anderes, sie sah es im Geiste direkt vor sich:

       Theorie:

       Arbeitsplatz eines Weltenschreibers, Malorys Muse?

       Schöpferische Unterstützung bei Arthus-Saga?

       Frage:

       Warum die Hinweise auf diesen Ort in Coleridges Werk?

       Nächster Schritt:

       Malorys Darthur unter die Lupe nehmen

      Sarah dachte angestrengt nach. Natürlich war sie diesem Hinweis nachgegangen. Unter den Büchern ihres Großvaters war sie auch auf Malorys Werk gestoßen und hatte es zweimal gründlich gelesen. Ihrer Meinung nach hätte das nicht nur aufgrund des ungewohnten Schreibstils Anerkennung verdient gehabt, sondern auch wegen der nicht allzu knapp bemessenen Seiten. Aber Fehlanzeige. Sie hatte keinerlei Hinweise in dem Buch gefunden. War es ihrem Großvater auch so ergangen? Hatte diese Spur ins Leere geführt? Auf seinem Notizzettel hatte er jedenfalls nichts weiter festgehalten.