Heike Schwender

Der Weltenschreiber


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das vollständige Gedicht erneut zu lesen, als sie auf einmal stutzig wurde.

      Sie wusste nicht wieso, aber einzelne Wörter des gelesenen Absatzes schienen ihr auf einmal deutlicher als die übrigen. Immer wenn Sarah sich auf sie konzentrierte und den Absatz direkt ansah, fiel es nicht weiter auf. Die Worte fügten sich alle wunderbar zusammen und formten in eifriger Selbstverständlichkeit den kompletten Text. Aber als sie dann ihre Gedanken erneut wandern ließ und das Gedicht – die Worte, Verse, Strophen – vor ihren Augen unscharf zu werden begann und langsam verschwamm, so passierte dies nur mit einem Großteil des Textes. Einzelne Worte hingegen standen ihr nach wie vor deutlich umrissen vor Augen: lonesome, fear, dread, frightful fiend, close.

      Sarah holte tief Luft. Wie war das möglich? Und was sollte das? Sie zögerte noch kurz und versuchte, sich davon zu überzeugen, dass sie eigentlich wichtigere Dinge zu tun hatte – zum Beispiel sich um ihr komplettes Leben zu kümmern – aber die Neugier siegte.

      Bevor sie am heutigen Vormittag den Schritt aus der Einsamkeit ihrer Wohnung hinaus in die Welt gewagt hatte, hatte sie sich die Zeit genommen, nach ihrem verschollenen schwarzen Notizbuch zu suchen. Und das Glück war ihr hold gewesen. Unter einem unordentlichen Stapel Papier, das dem schiefen Turm von Pisa Konkurrenz machen konnte, hatte sie das kleine Büchlein entdeckt. Es einzustecken und wieder bei sich zu tragen, gab ihr seltsamerweise in der hektischen Welt, die vor ihrer Wohnung auf sie wartete, ein Gefühl der Sicherheit. Das Notizbuch war wie ein Anker, das sie noch immer mit ihrem bisherigen Lebensinhalt verband. Und nun konnte es sich sogar wieder nützlich machen.

      Sarah griff in ihre Jackentasche und zog das schwarze Büchlein hervor, um die Worte darin festzuhalten, die in Coleridges Rime so seltsam hervorgehoben wurden.

      Dann machte sie sich an den Rest des Textes. Ein paar Seiten weiter vorne stieß sie noch einmal auf einen Absatz, der auf die gleiche unerklärliche Weise mit den Wörtern spielte: Day after day, day after day,/ We stuck, nor breath nor motion;/ As idle as a painted ship/ Upon a painted ocean. Aufgeregt stellte sie fest, dass ihr der ganze Absatz vor Augen erschien, wenn sie die Worte nicht direkt ansah und las. Rasch wanderten die Sätze in ihr Notizbuch und die nächste Stunde verbrachte Sarah damit, den restlichen Text des Buches systematisch nach weiteren Hinweisen abzusuchen. Aber Fehlanzeige. Die bereits notierten Teile des Rime of the Ancient Mariner waren die einzigen, die sich so seltsam verhielten.

      Sarah stellte sich mit ihrem Notizbuch ans Fenster und sah nachdenklich nach draußen. Der Tag war inzwischen schon fortgeschritten. Der Wind hatte an Stärke zugenommen und den Himmel mit Wolken bedeckt. Grauen Wolken. Regenwolken. Vor der Universität waren nur noch vereinzelte Studenten zu sehen. Irgendwie wirkten sie ziellos. Oder übertrug sie da nur ihre eigenen Gefühle auf unbeteiligte Dritte? Sie kamen ihr vor wie Nachzügler, die der Haupttrupp der studentischen Armee zurückgelassen und vergessen hatte, als er sich aufgemacht hatte, in Richtung Pariser Innenstadt zu rollen, um dort erst in den Abend und anschließend ins Nachtleben zu starten.

      Sarah grübelte über den Sätzen aus ihrem Notizbuch ohne so recht zu wissen, was sie damit anfangen sollte. Das Ganze klang wie eine Warnung oder ... ein Hilferuf. So, als hätte jemand versucht, vor etwas wegzulaufen, das ihn verfolgte. Derjenige war einsam, hatte Angst und wurde von etwas Bösem gejagt, das ihm schon sehr nahe gekommen war. Oder war dieser Teil eine Warnung an eine andere Person und das Böse war diesem nahe gekommen? Oder stand es ihm vielleicht nahe? Sarah spürte, wie ihr bei diesen Überlegungen richtiggehend kalt wurde. Irgendwie berührte sie das, was sie aus den angegebenen Worten zu lesen glaubte. Aber weiter brachte es sie nicht.

      Also wandte sie sich dem anderen Abschnitt zu. Hier waren nicht nur einzelne Worte hervorgehoben. Eher handelte es sich um die Beschreibung eines Zustandes. Eines immer gleichen Zustandes. Derjenige, der um Hilfe rief, steckte fest. Tagelang. Ohne sich bewegen zu können. War er etwa ein Gefangener? Hatte ihn das Böse aus dem anderen Teil des Gedichtes eingeholt? Aber ... der andere Abschnitt folgte eigentlich erst später in dem Gedicht. Also beschrieb jemand hier seine Gefangenschaft und warnte dann eine andere Person vor der Gefahr, die dieser von jemandem drohte, der ihr nahe stand?

      Sarah stand so lange grübelnd am Fenster der Universitätsbibliothek, bis sie eine Dame mittleren Alters höflich aber bestimmt hinauskomplimentierte.

      Immer noch nachdenklich ging sie die Flure entlang, ohne viel von ihrer Umgebung wahrzunehmen. Der Vergleich mit dem gemalten Schiff auf einem gemalten Ozean stellte sie vor ein Rätsel. Sollte hier nur die Gefangenschaft, die Bewegungsunfähigkeit verdeutlicht werden oder steckte noch mehr dahinter? Irgendwo in dem Text musste es doch auch einen konkreten Hinweis geben!

      Und dann fiel es ihr so plötzlich ein, dass sie beinahe gegen eine unsichtbar vor ihr auftauchende Glastür gelaufen wäre. Natürlich! Das Bild war der Hinweis! Ein gemaltes Schiff auf einem gemalten Ozean! Wieso war ihr das nicht früher eingefallen?

      Sarah hatte während ihres Studiums genug Zeit in diesen Fluren und Räumen verbracht und aufgrund ihrer Neigung, während des Lernens kurze oder auch lange Spaziergänge durch die Flure zu unternehmen, doch sehr viele Ecken und versteckte Winkel des Gebäudes kennen gelernt. Und dieses Bild ... sie hatte es schon einmal gesehen! Ein Schiff auf einem Ozean.

      Rasch wandte sie sich um und eilte in die andere Richtung. Zwei Treppen nach oben, durch einen weiteren Gang und um eine Biegung. Dann blieb sie schweratmend vor dem Gemälde stehen, das ihr soeben wieder eingefallen war. Ein Schiff auf einem Ozean.

      Ihrer Meinung nach handelte es sich um kein besonders gutes Gemälde, die Farben waren viel zu kitschig gewählt, so dass der beabsichtigte romantische Sonnenuntergang eher zu einem Stelldichein der unterschiedlichsten Lila- und Rosatöne wurde. Aber da war es! In einem verstaubten, goldenen Rahmen zeigte es ein Schiff, das über ein von Wellen zerrissenes Meer fuhr, hinein in den wartenden rosaroten Sonnenuntergang.

      Sarah stand vor dem Bild und starrte die kitschige Farbgebung an. Da war sie also. Aber was nun?

      Aus irgendeinem Grund war sie sich sicher, dass sie den Hinweis richtig verstanden hatte und sich an genau dem Ort befand, an den sie irgendwer bringen wollte. Wer?, fragte eine kleine Stimme irgendwo in ihrem Inneren, die sie erst einmal erfolgreich verdrängte. Alles zu seiner Zeit. Die junge Frau machte sich daran, das Bild genau unter die Lupe zu nehmen.

      Da waren die sturmgepeitschten Wellen, deren Schaumkronen sich in perfekt arrangierter Harmonie rings um das Schiff brachen. Das Boot selbst war eines jener alten Segelschiffe, die einem sofort vor Augen standen, wenn man an eine romantisch verklärte Vergangenheit dachte, in der Piraterie nicht brutal und habgierig, sondern verwegen und ehrenhaft war. Aber das, was das gesamte Bild dominierte, war der Himmel. Der stürmische Sonnenuntergang, der bereits in den Wellen zu erahnen war, fand hier seinen Höhepunkt.

      Zerrissene Wolken, die von den letzten Lichtfetzen des Tages durchdrungen wurden. Die allgegenwärtige Farbe war Rosa in unterschiedlichen – und oft auch undenkbaren – Variationen, von einem Rosa mit leichtem Blaustich bis hin zu einem mit orangenem oder rostbraunem Schimmer. Nicht nur, dass diese unglaubwürdige Farbgebung den Himmel in ihrer Gewalt hatte. Sie spiegelte sich auch in den Wellen wider und – in Sarahs Augen die größte Ungerechtigkeit – selbst die armen Matrosen auf ihrem hölzernen Segelschiff blieben nicht von ihr verschont.

      Die junge Frau ließ ihren aufmerksamen Blick mitleidig über die schemenhaft dargestellten Matrosen wandern, die sich auf verschiedenste Weise an Bord des Schiffes betätigten und tapfer versuchten, nicht nur mit der grauenhaft überwältigenden Farbgebung, sondern auch mit Wind und Wetter zurecht zu kommen. Ihre Augen blieben schließlich an dem Matrosen hängen, der ihrer Meinung nach die schlimmste Aufgabe zu erfüllen hatte: In dem Korb am oberen Ende des größten Mastes stand er dem rosaroten Himmel am nächsten und war dafür verantwortlich, in der kitschigen Umgebung nach so realen Gefahren wie Untiefen oder feindlichen Schiffen Ausschau zu halten.

      Der nur verschwommen gemalte Mann schien seine Arbeit aber dennoch ernst zu nehmen und auch gut darin zu sein – denn sein ausgestreckter rechter Arm wies warnend in die Ferne. Besser gesagt, nach hinten. Sarah stutzte. Der gemalte Arm zeigte nach rechts aus dem Bild, während das Schiff ganz offensichtlich nach links unterwegs war. Was nur hatte das zu bedeuten? Wurden die armen Matrosen