Heike Schwender

Der Weltenschreiber


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weiter reden, hörte mit halbem Ohr zu und versuchte hin und wieder, möglichst in den passenden Momenten, eine verständnisvolle Zustimmung in das recht einseitige Gespräch einfließen zu lassen. Mit dem Hörer ging sie gemächlich zurück in den Flur und dachte insgeheim darüber nach, welchem Teil ihrer Nachforschungen sie heute weiter nachgehen sollte. Den Nachforschungen, die hiermit begonnen hatten ...

      Sarah blieb vor drei Bilderrahmen stehen, die ihren Flur schmückten. Die darin eingefassten Notizblätter erschienen widersprüchlich im Vergleich zu dem Chaos, das in ihrer restlichen Wohnung herrschte. Aber dem war nicht so.

      Diese Notizen hatten ihre ganz eigene Bedeutung. Sie waren der Anfang. Der Beginn.

      Und während Sarah versuchte, ihrer Mutter das Gefühl zu geben, dass mit ihrer Tochter alles in Ordnung wäre und sie ein ganz normales Gespräch führen würden, war sie mit ihren Gedanken schon wieder weit weg, bei den Notizen ihres Großvaters, die sie vor gut einem halben Jahr in der Universitätsbibliothek gefunden und heimlich entwendet hatte. Heimlich, weil sie wusste, dass die Seiten offiziell der Bibliothek gehörten, aber auch irgendwie trotzig, da diese Notizen ursprünglich von ihrem Großvater stammten und sie das Gefühl hatte, dass sie ihr als Erbin eigentlich zustanden. Der Ursprung ihrer Nachforschungen befand sich in diesen drei Bilderrahmen, die so trügerisch unscheinbar den sonst kargen Flur ihrer kleinen Wohnung schmückten.

      Die junge Frau stand in ihrem T-Shirt und den Boxershorts in dem chaotischen Flur ihrer kleinen Mansardenwohnung. Ihr Kopf war den drei Bilderrahmen zugewandt, aber ihre Augen blickten weit weg ins Leere. Dort sahen sie Notizen, Schriften, Buchstaben, Bücher und Zahlen.

      Sarah gönnte ihrer Mutter ein verständnisvolles Knurren.

       //Etwas geschah, was nicht hätte geschehen sollen. Was nicht hätte geschehen dürfen. Etwas Böses war dort draußen. Es breitete sich aus und kam näher. Und näher. Langsam, aber stetig. Und bei weitem nicht so vorsichtig, wie es sich für das Böse eigentlich gehört hätte. Hier war keine Unsicherheit zu spüren, nur ein furchtbares Wissen um das eigene Können und viel Selbstbewusstsein. Überheblichkeit fast. Das Böse kam näher und entpuppte sich als einer der anderen. Er kam näher und war nicht aufzuhalten. Es versuchte, eine Verbindung mit seinem anderen Ich einzugehen, aber irgendwie wurde es von dem Eindringling daran gehindert. Es war allein und das Böse kam näher.//

      Kapitel 2

      Als Sarahs Telefon das nächste Mal klingelte, war sie gerade dabei, die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zu ziehen. Mit gerunzelter Stirn verhielt sie mitten im Schritt und starrte zurück in die läutende Wohnung. »Das darf doch nicht wahr sein«, dachte sie verärgert. Da hatte sie sich nun endlich dazu aufgerafft, ihre Wohnung zu verlassen und nun dachte dieses verflixte Telefon, es könne sie davon abhalten.

      »Aber nicht mit mir!«, beschloss Sarah siegessicher, trat durch die Wohnungstür hinaus in das Treppenhaus und zog die Tür heftiger hinter sich zu, als nötig gewesen wäre.

      Ihr Weg führte durch den nur spärlich beleuchteten Hausflur, während das Klingeln hinter ihr bei jedem ihrer Schritte leiser wurde und schließlich ganz verklang. Nachdem Sarah die weit ausladenden, knarzenden Holztreppen hinter sich gebracht hatte, stand sie im Erdgeschoss neben den säuberlich in einer Reihe befestigten Briefkästen. Nun trennte sie nur noch die zweiflügelige schwere Eingangstür von der Welt dort draußen. Sarah atmete einmal tief ein und wieder aus. Sie war wirklich schon zu lange nicht mehr hier gewesen.

      Mit dieser gruseligen Feststellung griff sie nach dem goldfarbenen massiven Türknauf und zog die Eingangstür nach innen. Als sie so das letzte Hindernis aus dem Weg geräumt hatte, machte sie zwei große Schritte und stand in der Welt der Lebenden.

      Die Welt der Lebenden begann in einem kleinen Nebensträßchen in Paris. Sarahs Wohnung lag zentral, aber ruhig in der Rue de Grenelle. Welchem glücklichen Umstand sie ihren bezahlbaren Mietpreis verdankte, wusste sie nicht. Im besten Fall war ihr Vermieter ein Philanthrop. Vielleicht war er aber auch nur äußerst zufrieden damit, eine derart ruhige Mieterin in einer seiner Wohnungen zu haben, die sich so gut wie nie außerhalb ihrer vier Wände blicken ließ.

      Das Haus in ihrem Rücken, stand Sarah da und fühlte eine unerklärliche Angst in sich aufsteigen. So mussten sich Krieger gefühlt haben, die sich hinter ihren schützenden Barrikaden hervorwagten, um einem übermächtigen Feind entgegenzutreten. Sarah runzelte erneut die Stirn. Was zum Henker war nur los mit ihr? Wann genau hatte sie den Moment verpasst, in dem ihre Abneigung vor der hektischen Realität zu einem so starken Gefühl wie Furcht wurde? Fast schon wollte sie ob dieser Erkenntnis panisch werden, aber dann gab sie sich einen Ruck. Es half alles nichts. Sie musste sich diesen seltsamen Ängsten stellen. Es sei denn, sie hätte tatsächlich vor, den Rest ihres Lebens in ihrer kleinen Mansardenwohnung zu verbringen.

      Sarah riss sich von dem Haus los, das ihr noch einen gewissen Schutz vor der wartenden Realität vorgegaukelt hatte, und ging die Straße hinunter in Richtung ihrer Universität.

      Alles, was sie brauchte, war ein bisschen Zeit, um sich wieder in der eigentlichen Welt zurechtzufinden. Und um sich mit ihr abzufinden. Die Einsamkeit ihrer Wohnung schien sie in einem fast undurchdringlichen Kreislauf gefangen gehalten zu haben, aus dem sie nun erst wieder ausbrechen musste. Lange Zeit hatte sie sich vor der Welt dort draußen versteckt und zusammen mit unzähligen Büchern in ihrer Wohnung vergraben. Aber nun stand ihr Entschluss fest. Die Studien, die sie während der vergangenen Monate betrieben hatte, waren alle im Nichts verlaufen. Jetzt war es an der Zeit, sich wieder mit der Welt außerhalb ihrer vier Wände – ob sie damit ihre Wohnung oder ihren Verstand meinte, war Sarah selbst nicht ganz klar – zu befassen. Deshalb – zurück zu den Lebenden!

      Sie verhielt ihren Schritt und sah sich um. Ihr Blick erfasste die lange, gerade Straße und die schnell an ihr vorbeirasenden Autos. Sie hörte euphorisches Gelächter und verfolgte es bis zu einer Gruppe Jugendlicher zurück, die inmitten des Gehwegs standen und sich unterhielten. Da waren Musikfetzen, die aus einer Seitenstraße drangen. Irgendwo vor ihr weinte ein Kind. Sie hatte ganz vergessen, wie laut und hektisch das eigentliche Leben war!

      Ein raschelndes Geräusch machte sie auf den Wind aufmerksam, der neben ihr durch die Zweige eines Ahorns strich, der einer in Reih und Glied stehenden Ahornkompanie angehörte, die wohl dem grauen Gehsteig einen täuschend grünen Anstrich geben sollte. Eines der Ahornblätter löste sich vom Baum und segelte langsam nach unten. Sarah folgte dem herabfallenden Blatt mit den Augen. Es war ein seltsames Gebilde, das es nicht eilig hatte, seine Reise zu beenden und auf dem Boden der Tatsachen anzukommen. Kein einzelnes Ahornblatt, das zur Erde schwebte – stattdessen war es ein kleines Stückchen Ast, an dem noch zwei Ahornblätter saßen. Und diese Anordnung machte das Gebilde zu einer Kuriosität, die in unendlich langsamen Kreisen stetig tiefer sank. Immer rundherum. Rundherum. Tiefer und tiefer. Bevor es den Boden berühren konnte, wandte Sarah den Blick ab. Sie mochte den vorherbestimmten traurigen Ausgang dieses kreiselnden Dramas lieber nicht mitansehen. Zu sehr erinnerte er sie an ihr eigenes kleines Leben. Ihre eigenen kleinen Kreise.

      Dieses Gebilde war anders. Aber dennoch würde es mit der gleichen unausweichlichen Gewissheit am Boden ankommen wie gewöhnliche Blätter, die der regelmäßig wehende Wind vom Baum rupfte. Nur ohne deren Leichtigkeit.

      Sarah ließ ihren Blick über die Häuserzeile neben ihr gleiten. Die Gebäude waren fast durchgehend weiß gestrichen und strahlten eine renovierte Eleganz aus, die so manch anderem Häuserblock in dieser Gegend fehlte. Auch hier bestanden die Häuser weitgehend aus Wohnungen, nur im Erdgeschoss reihten sich mehrere Geschäfte aneinander. Sarah konnte ein kleines Café und ein Reisebüro ausmachen. Und dahinter – war das nicht eine Buchhandlung? Trotz ihres neu gefassten Vorsatzes, den Büchern keine so große Macht mehr über ihr Leben einzuräumen, fühlte sie sich von der Buchhandlung doch magisch angezogen. Die fünfzig Meter bis zu dem Schaufenster waren rasch zurückgelegt und sie sah hinein. Enttäuschung machte sich in ihr breit. Eine von diesen Buchhandlungen war das also.

      Sie starrte auf die Auslage, die aus nicht viel mehr bestand als dem derzeitigen Bestseller, der natürlich in den eindrucksvollsten Posen zwischen schreiend bunten Plakaten zur Geltung