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Entweder sie ackerten sich von Anfang bis Ende durch, oder sie waren eben nicht auf dem Laufenden mit ihrer Belesenheit. Sarah beugte sich vor und las erschauernd den Titel des nicht allzu dünnen Wälzers: Das Dunkel der Finsternis.

      Ihr höflich interessiertes Lächeln gefror zu einem ungläubigen Gesichtsausdruck. War das etwa ihr Ernst? Anscheinend. Und wie es aussah, verkaufte sich das Machwerk auch nicht schlecht. Oder warum wäre die Auslage sonst völlig frei von alternativen Werken? Eine eigenständig richtige Entscheidung im Sinne des Verkäufers schien man den Kunden hier nicht zuzutrauen.

      Sarah spürte so etwas wie Trauer in sich aufsteigen. Ihr guter Vorsatz, sich künftig in weniger Büchern zu vergraben, begründete sich ausschließlich auf dem Wissen, dass sie sonst nicht wieder in diese reale Welt zurückfinden würde. Reiner Überlebensinstinkt. Aber es hatte nichts damit zu tun, dass sie Bücher nicht zu schätzen wüsste. Im Gegenteil – sie liebte Bücher! Aber sie liebte vor allem die Auswahl, die Möglichkeiten. Das nicht zu haben, hatte sie während ihrer Studien oft zur Verzweiflung getrieben. Vorgeschriebene Werke, in denen sie etwas zu finden hoffte, das sich nie blicken ließ. Was sie wollte, war eine komplette Buchhandlung voller Bücher, von denen sie noch nie etwas gehört hatte. Unbekannte, fantastische Welten, die sie vor ihrem geistigen Auge auferstehen lassen konnte. Abenteuer, Mysterien und ein romantisches Treffen mit jenem Fremden, den sie in der Realität bis heute noch nicht hatte finden können, aber von dem sie sicher war, dass er in den romantischen Passagen diverser Bücher auf sie wartete. Immer und immer wieder. Wann sie wollte. Wo sie wollte. Und wie sie wollte. Sarah lächelte.

      Und sie erinnerte sich daran, warum sie eigentlich hier war. Hier, auf dem Gehweg vor diesem verstörenden Schaufenster. Hier, auf dem Weg zu ihrer Universität, um ihrem Professor mitzuteilen, dass aus ihrer Doktorandenkarriere nichts werden würde. Und wenn sie ehrlich mit sich selbst war, hätte ihr das eigentlich schon längst klar sein müssen. Ihr Promotionsthema hatte sie damals einfach allzu leicht ad acta gelegt und für etwas aufgegeben, das ihr wichtiger war. Unbestimmter. Zielloser. Aber wichtiger.

      Sarah seufzte. Sie hatte das Gefühl, als bestünde ihr Leben aus unzähligen Abzweigungen, die sich aneinander reihten und von ihr Entscheidungen verlangten, die sie oft nicht zu treffen wusste. Und nach jeder Entscheidung taten sich neue Wahlmöglichkeiten auf, die sich der von ihr veränderten Wirklichkeit angepasst hatten. Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Es war zu spät, um ihre Entscheidung für die Promotion rückgängig zu machen. Diese Abzweigung in ihrem Leben hatte sie genommen, war einige Zeit auf ihr entlanggegangen und dann abrupt auf einen anderen Pfad gewechselt, der ihre privaten Studien in den Mittelpunkt stellte. Dieser Pfad jedoch hatte sie auch nicht an das ersehnte Ziel gebracht. Welches Ziel?, fragte sich Sarah insgeheim. Hatte sie da überhaupt eines? Oder lag ihr Bestreben nur darin, ein lohnendes Ziel zu finden?

      Stattdessen war sie auf diesem neuen, nicht unbedingt sehr gut ausgewiesenen kleinen Pfad immer im Kreis herumgelaufen, wie in einem Labyrinth ohne Ausweg. Und nun war sie unversehens auf ihren ganz persönlichen Minotaurus getroffen. Er hatte sie zum Anhalten gezwungen. Zum Nachdenken. In gewisser Weise hatte er ihr die Grenzen ihrer Suche aufgezeigt. Da stand sie nun also und versuchte, zu der Abzweigung von damals zurückzugelangen. Runter vom kreiselnden Pfad, die Promotionsstraße zurück und dann an der Kreuzung auf zu einer neuen Entscheidung! Keine weiteren Studien. Keine Doktorarbeit.

      Sarah runzelte die Stirn, als sie in ihrem Bewusstsein auf Gedanken traf, die weniger euphorisch klangen und deshalb von ihr bis jetzt ausgeklammert und verdrängt worden waren. War sie sich denn wirklich sicher, dass sie mit dieser Entscheidung, die sie nun getroffen hatte, glücklich werden würde? Nicht ihre abgebrochene Doktorarbeit war das Problem. Aber das so rätselhafte Verschwinden ihres Großvaters beschäftigte sie immer noch. Egal wie sehr sie sich auch dagegen sträubte und versuchte, diesen Gedanken aus dem Weg zu gehen – was nicht leicht war, da sie nun einmal irgendwo in ihr selbst ihr Zuhause hatten. Und ihr Gewissen konnte sich einfach nicht so recht damit abfinden, dass sie die Suche nach ihrem Verwandten aufgeben und abhaken wollte.

      Sarah stand versunken vor dem Schaufenster zu einer ihr unbekannten, oberflächlichen Welt und grübelte. Hatte sie denn die Suche wirklich einfach aufgegeben? Ihr kam es nicht so vor. Im Gegenteil – sie hatte viel Zeit mit einer Aufgabe verbracht, die ihr niemand aufgezwungen, aber zu der sie sich selbst verpflichtet gefühlt hatte. Nichts daran war einfach gewesen. Und einfach würde es jetzt auch nicht werden, wenn sie sich davon lossagte und Abstand von ihren Studien nahm. Aber ihr blieb keine Wahl. Wenn sie es jetzt nicht tat, würde sie es nie tun! Schon jetzt würde es ihr verdammt schwer fallen, in ein möglichst normales Leben zurückzufinden. Je länger sie damit wartete, umso schwerer wäre es. Und nicht nur das. Sie konnte es sich auch einfach nicht länger leisten, völlig auf das Leben um sie herum zu verzichten. Nicht nur der emotionale Faktor – Sarah wusste, dass sie emotional ein Wrack war – spielte dabei eine Rolle. Auch ihre finanziell nicht mehr allzu rosige Lage fing an, ihr Sorgen zu bereiten.

      Sarah stand inmitten des lärmenden Pariser Lebens auf dem unebenen Gehweg und starrte auf das knallig bunte Schaufenster der Buchhandlung, die nur diesen verflixten Bestseller ausstellte. In der Scheibe sah sie eine verwaschene Version ihres Selbst. Runzelte dieser Schatten tatsächlich die Stirn? Sarah seufzte. Ihr Leben war genau wie dieses Spiegelbild – nicht echt. Nur ein Abglanz von dem, was es sein könnte.

      Am Ende wusste Sarah gar nicht, ob sie sich jemals wieder von dem Schaufenster der kleinen Buchhandlung hätte losreißen können, das ihr sowohl die Oberflächlichkeiten der Welt als auch ihr eigenes unzureichendes Leben vor Augen führte. Auf eine seltsame, nicht nachvollziehbare Art und Weise schien sie dieses leere, aber dennoch vielversprechende Fenster in eine andere, angeblich bessere Welt, magisch anzuziehen. Sarah ertappte sich ungläubig bei der Überlegung, ob sie nicht doch dem Inneren des Ladens einen Besuch abstatten sollte, um sich den ausgestellten Bestseller einmal näher anzusehen.

      Wahrscheinlich konnte man es deshalb als glückliche Fügung betrachten, dass sie einer der Passanten bei dem Versuch, sich an ihr vorbeizuschieben, heftig anrempelte. Sarah spürte den Stoß in ihrer Seite und kam ins Taumeln. Benommen, wie sie sowieso schon war, schaffte sie es gerade noch, ihr Gleichgewicht zu halten und nicht auf dem grau gepflasterten Gehweg zu landen. Nur kurz begegneten ihre Augen denen des Mannes, der sie so unsanft gestreift hatte. Der Ausdruck darin kam ihr seltsam vor. Alt, traurig und ein bisschen besorgt. Sie fand nicht die richtigen Worte, weder um den Mann, noch um dessen Blick treffend zu beschreiben. Allzu schnell wandte sich der Fremde ab, murmelte irgendetwas und lief eilig weiter die Straße hinunter. Sarah starrte dem unauffällig gekleideten Mann wütend nach. Und erst in diesem Moment fühlte sie eine tiefe Erleichterung, die sich in ihr ausbreitete und darin begründet schien, dass sie nicht länger in der Welt des Schaufensters gefangen war.

      Sarah atmete tief durch. Sie war drauf und dran, sich erneut der Auslage der kleinen Buchhandlung zuzuwenden, aber irgendetwas hielt sie davon ab. Es war, als würde sie eine kleine Stimme in ihrem Kopf davor warnen, sich noch einmal in diesen unerklärlichen Bann ziehen zu lassen. Also ließ Sarah ihren Blick stattdessen nach vorne wandern, weiter die Straße hinunter. Hinter der nächsten Häuserzeile lag ihre Universität. Und dort würde sie nun hingehen, ihren Doktorvater suchen und ihm von ihrem Entschluss erzählen, die Sache mit der Promotion abzublasen. Dass sie sowieso schon seit Monaten anderen, unabhängigen Studien nachgegangen war, wollte sie aber lieber verschweigen.

       //Ein harter unbeugsamer Griff umschloss es. Lückenlos und endgültig. Eine Brutalität ging davon aus, die unnötig und deshalb nur umso grausamer war. Noch nie hatte es etwas Derartiges gespürt. Noch nie war es auf solch abscheuliche Weise behandelt worden. Und hätte es auch nie für möglich gehalten, dass es einmal dazu kommen würde. Es erforschte seine Gefühle und fand Schmerz, Enttäuschung, Furcht und Verzweiflung. Es staunte ob dieser Ausbeute. Bis jetzt hatte es nicht gewusst, dass es überhaupt in der Lage war, solche Gefühle zu empfinden. Erneut versuchte es, eine Verbindung zu seinem anderen Ich herzustellen, aber vergeblich.//

      Kapitel 3

      Im Nachhinein wusste Sarah gar nicht mehr, wie sie an diesen Punkt gekommen war. Sie hatte doch eigentlich nur ein Gespräch mit ihrem Professor führen und die in