Heike Schwender

Der Weltenschreiber


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und jagte einem ... ja – wem oder was jagte sie da eigentlich nach...?

      Als sie am späten Vormittag die Universität erreicht hatte, war sie kurz davor gewesen, einfach wieder kehrtzumachen und ihre ganze Mission abzublasen. Das Gebäude an sich genügte schon, um sie eingeschüchtert in ihrem Schritt stocken und in ehrfürchtiger Entfernung anhalten zu lassen. Nicht nur die wuchtigen Säulen und Türmchen machten die Universität zu einem so eindrucksvollen Ort. Sarahs Zögern war vor allem dem Zwiegespräch geschuldet, das sie in Gedanken mit den vielen Statuen führte. Wie ein Bataillon waren sie aufmarschiert und hatten sich auf alle erdenklichen Vorsprünge und Zinnen verteilt, um von ihren erhabenen Aussichtspunkten kopfschüttelnd auf sie herabzublicken, während Arroganz ihre kalten steinernen Augen verdunkelte und ein hämisches Lächeln um ihre festgefrorenen Lippen spielte. Es war offensichtlich, dass sie wussten, weshalb Sarah hier war. Sie wussten um ihr Vorhaben, das Studium in diesen heiligen Hallen zu beenden. Sarah war ihrer weiteren Fürsorge nicht wert.

      Und als wäre dieser Aufmarsch an Marmor nicht schon genug gewesen, stieß Sarah dazu noch an eine ganz andere – und weitaus realere – Barriere. Unzählige Stimmen, die sich in ihren lärmentwöhnten Ohren zu einem undefinierbaren Summen und Dröhnen verdichteten und zu ebenso vielen jungen Menschen gehörten, deren unbeirrbar wogender Strom in Sarah das Bild der Seine hervorrief. An manchen Stellen war sich das Wasser einig. Es floss schneller und zielgerichteter. An anderen jedoch traf es auf unerwartete Hindernisse, eine Untiefe, bestehend aus einem Grüppchen Studenten oder einem der kultivierten Bäume, die den Platz vor dem Universitätsgebäude schmückten.

      Sarah stand da und ließ das unheimliche Bild auf sich wirken. Nach der Einsamkeit, in die sie sich während der vergangenen Monate regelrecht vergraben hatte, stieß sie das lärmende Leben gleichermaßen ab und faszinierte sie. Überall standen und saßen Studenten. Unter den in Reih und Glied gepflanzten Bäumen, zwischen den Säulen der Universitätskapelle, auf den Umrandungen der Springbrunnen. Vom munteren Plätschern der Fontänen war kein Laut zu hören, so sehr sich das Wasser auch anstrengte, seine Vorherrschaft an diesem von Menschen gezähmten Studienort wiederzuerlangen.

      Später wusste Sarah gar nicht, wie lange sie einfach nur da gestanden und versucht hatte, mit den ungewohnten Menschenmassen und dem zermürbenden Lärmpegel zurechtzukommen. Ohne dass es ihr gelang. Also entschied sie sich dazu, ihre Aufgabe so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, um diesem Ort entfliehen und in die Abgeschiedenheit ihrer Wohnung zurückkehren zu können. Sie war noch nicht wieder bereit für dieses bunte, lärmende Leben, das den jungen Menschen hier so leicht von der Hand ging. Sie hoffte, sie würde eines Tages wieder zu ihnen gehören – hatte sie denn jemals zu ihnen gehört? – aber selbst wenn ihr das gelänge, war dieser Tag noch fern.

      Mit dieser Erkenntnis holte sie einmal tief Luft und lief dann zielstrebig über den Platz in Richtung eines kleineren Eingangs. Zielstrebigkeit hatte in diesem Fall sehr viel mit Slalomlaufen gemein, aber Sarah schaffte es tatsächlich, in relativ kurzer Zeit den Platz zu überqueren, ohne allzu oft angerempelt zu werden oder gar andere Studenten mit einem versehentlichen Stoß aus deren philosophischen Gedanken und Diskussionen zurück in die Wirklichkeit zu holen. Das würde der Beginn der nächsten Vorlesung schon früh genug erledigen.

      Sarah manövrierte sich also erfolgreich von dem Gedränge auf dem Vorplatz in das Gedränge innerhalb der Universität. Ein kurzer Blick hinaus auf den Innenhof hielt sie davon ab, diesen Weg einzuschlagen.

      Auf dem Hof, der nicht allzu groß war und eingekesselt zwischen hohen Sandsteingebäuden mit grau gedeckten Zinnen lag, hatte sie sich sowieso immer gefangen gefühlt. Wie in einer von Türmen und Giebeln geschmückten, ausweglosen Falle. Und nun – vollgepackt mit Studenten – erweckte der Innenhof erst recht den Eindruck, als wäre er das geöffnete hungrige Maul einer riesigen unterirdischen Kreatur, die sich gerade ausgiebig am universitären Buffet bedient hatte. Der erschreckende Anblick genügte, um Sarah davon abzubringen, sich über den Hof auf die andere Seite des Universitätsgeländes zu kämpfen.

      Sie hatte sich auch schon oft gefragt, ob man die hohen weißen Sprossenfenster in die umliegenden Sandsteingebäude eingesetzt hatte, um das Gefühl des Eingesperrtseins auf dem rechteckigen Innenhof zu verringern. Hätte sie jemals jemand nach ihrer Meinung dazu gefragt, hätte sie nicht gezögert, ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass dieses Ansinnen gründlich fehlgeschlagen war. Die vielen Fenster vermittelten eher den Eindruck, als würden unsichtbare Gestalten den armen hilflosen Tropf, der sich da so wehrlos und ungeschützt über den Hof bewegte, von allen Seiten beobachten und kontrollieren.

      Also blieb nur der Weg durch das Gebäude selbst. Sarah begann, sich zwischen den jungen Leuten im Inneren der Universität hindurch einen Weg zu bahnen. Das stellte sich als einfacher heraus als gedacht. Anscheinend hatte das angenehm frühsommerliche Wetter den Großteil der Studenten nach draußen gelockt.

      Sarah erklomm weitläufige Treppen, schritt durch hallende Flure und erreichte schließlich ihr Ziel, das Büro ihres Doktorvaters.

      Sie meldete sich im Sekretariat an. Professor Valière leitete noch ein Seminar und tauchte erst einige Minuten später vor seinem Büro auf. Die folgende Unterredung würde nicht in die Liste der wenigen tiefsinnigen Gespräche, die Sarah bisher in ihrem Leben geführt hatte, eingehen. Fast hatte es sogar den Anschein, als wäre auch Professor Valière froh darüber, die leidige Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und die sowieso nur mündliche Vereinbarung über die Anfertigung und Korrektur einer Doktorarbeit ad acta zu legen. So einfach löste sich eine Aufgabe in Luft auf.

      Nach dem sehr kurzen Gespräch schüttelten sie sich einvernehmlich die Hand und gingen beide ihrer Wege. Der Professor auf zu neuen Taten und Ufern, Sarah hinaus aus dem Büro in einen langen Flur, dessen Nacktheit ihr auf einmal Angst machte.

      Ziellos folgte sie dem Flur, nicht so recht wissend, was sie als nächstes tun sollte. Zurück in ihre Wohnung? Aber zu welchem Zweck? Na schön, sie könnte zum Beispiel mit dem Aufräumen und Saubermachen anfangen, aber immerhin hatte sie heute bereits die Generalüberholung ihres Lebens hinter sich gebracht. Die ihrer Wohnung konnte da ruhig noch bis morgen warten.

      Ehe Sarah sich versah, landete sie in einem ganz anderen Teil der Universität. Vollkommen unbewusst fand sie ihren Weg zu dem Ort, der ihr der Liebste war: die Bibliothek. Und warum eigentlich nicht? Hier hatte sie schon immer Zeit zum Nachdenken gefunden. Also würde sie das auch heute tun können. Und vielleicht würde sie diesen Raum sogar – wie so oft in der Vergangenheit – mit einem Plan verlassen. Einem neuen Ziel.

      Sarah schlenderte langsam durch die Reihen der Bücher. Zog manchen Band heraus, blätterte in ihm, stellte ihn wieder zurück. Ließ ein Regal hinter sich, um sich einem anderen, interessanteren zuzuwenden. Zog hier ein Buch heraus, stellte dort ein Buch wieder auf seinen vorgesehenen Platz inmitten der bibliothekarischen Kameraderie zurück.

      Sie wusste nicht, wie viel Zeit sie dort zwischen ihren Freunden verbrachte. Und sie wusste auch nicht, wie lange sie das eine Buch in der Hand hielt. Sie hielt es in der Hand, aufgeschlagen, und starrte mit blinden Augen auf die Seite, die sich zufällig für sie geöffnet hatte. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sie das Geschriebene auch wirklich bewusst las. Aber dann kamen ihr die Zeilen sofort wunderbar vertraut vor: Coleridges Rime of the Ancient Mariner. Die gesammelten Werke von Samuel Taylor Coleridge waren unter den Büchern gewesen, die sie vor einigen Jahren auf dem Dachboden ihrer Mutter entdeckt hatte. Schulterzuckend hatte diese erlaubt, dass Sarah die komplette Kiste mit Büchern einfach an sich nahm. Anscheinend handelte es sich dabei um Überbleibsel aus der Wohnung ihres Großvaters und waren nach dessen Verschwinden bei seiner Frau, Sarahs Großmutter gelandet. Nach deren Tod hatten sie ihren Weg auf den Dachboden von Sarahs Mutter gefunden.

      Sarah erinnerte sich nur zu gut daran, dass sie all diese Bücher durchforstet hatte, in der Hoffnung, einen Hinweis auf das seltsame Verschwinden ihres Großvaters zu entdecken. Coleridges Gedichte hatten ihr so gut gefallen, dass sie einen Großteil von ihnen mehrmals gelesen hatte.

      Sarahs Blick fiel wieder auf die Worte vor ihr: Like one, that on a lonesome road/ Doth walk in fear and dread,/ And having once turned round walks on,/ And turns no more his head;/ Because he knows, a frightful fiend/ Doth close