Heike Schwender

Der Weltenschreiber


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Erstarrung zu lösen und erneut mit der Umwelt auseinanderzusetzen. Ach was, Umwelt! Mit diesen beiden Eindringlingen vor ihrer Wohnungstür, die drohten, ihre ganze kleine Welt komplett durcheinander zu bringen!

      Sarah merkte, dass der jüngere Mann anfing, Zeichen von Ungeduld zu zeigen. Das alles ging ihm wohl zu langsam! Hah! Sollte man ihn doch mal mit einem Geist aus seiner Vergangenheit konfrontieren, einem Geist, der sein ganzes Leben bestimmte! Sie war drauf und dran, ihm aus lauter Irritation einen wütenden Blick zuzuwerfen, als ihr auf einmal etwas klar wurde. Der junge Mann wusste Bescheid! Er wusste von ihrem Großvater und kannte auch ihren Namen. Vielleicht war er ja bereits mitten in einer Geistergeschichte gefangen und war sich dessen auch bewusst?

      Und was hatte es mit diesem anderen Mann auf sich, der angeblich ihr lange verschollener Großvater sein sollte? Sarah wagte einen vorsichtigen Blick in seine Richtung. Zwei blaue Augen trafen sie völlig unerwartet. Blau. Ihre eigenen Augen waren auch blau, wenn auch in einem dunkleren Ton als die des Fremden. Die junge Frau verspürte den stürmischen Drang, diesem Mann ein Wort zu entreißen. Irgendeines. War er wirklich ihr Großvater? Warum sprach er dann nicht mit ihr? Warum ließ er das seinen Begleiter erledigen, der ihr doch völlig unbekannt war?

      Und auf einmal begriff Sarah, dass es diesem Fremden genauso ging wie ihr. Er wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Vielleicht sprach gerade das dafür, dass er wirklich ihr Großvater war.

      Die junge Frau sah ein, dass sie so nicht weiterkommen würden. Es lag wohl an ihr, auf die unerwartete Enthüllung zu reagieren. Weil sie sich ihrer Stimme nicht sicher war, räusperte sie sich ausführlich. Die banale Handlung gab ihr ein willkommenes Gefühl für die Wirklichkeit zurück. Dann blickte sie die beiden Männer mit entschlossenem Gesichtsausdruck an. Sie würde nicht herausfinden, ob die beiden die Wahrheit sprachen, wenn sie nicht erst einmal auf ihre Geschichte einging!

      »Kommen Sie doch bitte herein«, lud sie die Fremden mit einer fahrigen Handbewegung zum Betreten ihrer Wohnung ein und trat einen Schritt zur Seite, um sie hindurchzulassen. Ganz kurz meinte sie eine kleine innere Stimme fragen zu hören, ob das denn wirklich so klug sei, aber sie gab dieser Stimme keine Möglichkeit, zu ihr durchzudringen. Sie hatte sich dazu entschieden, das Wagnis einzugehen. Also würde sie einfach abwarten müssen, was dabei herauskam.

      Die beiden Männer schienen überrascht darüber, dass sie keine weiteren Erklärungen zwischen Tür und Angel abgeben mussten, um sie zu dieser Einladung zu überreden. Sarah bemerkte mit innerer Belustigung, dass der jüngere Mann dem Älteren einen leichten Schubs versetzen musste, damit sich dieser aus seiner Erstarrung löste und in Bewegung setzte.

      Erst als die beiden in ihrem kleinen Flur standen und nicht so recht wussten, wohin mit sich selbst, fiel Sarah wieder ein, dass es noch einen anderen Grund gegeben hätte, die Fremden nicht hereinzubitten. Sie spürte, wie sich eine brennende Röte auf ihrem Gesicht breitmachte, als ihr bewusst wurde, wie schlimm es für Außenstehende in ihrer Wohnung eigentlich aussehen musste. Sie selbst war daran gewöhnt und nahm die chaotische Unordnung gar nicht mehr wahr, aber diese beiden Fremden …

      Sarah räusperte sich erneut. Dann ertappte sie sich bei einer weiteren fahrigen Handbewegung, die den Flur und irgendwie auch die noch unsichtbare restliche Wohnung mit einschloss.

      »Verzeihen Sie das Chaos. Ich war gerade dabei, ein wenig Ordnung…« Ihre Stimme driftete ab. Wozu der Aufwand. Diese Ausrede hätte nun wirklich jeder in einer solchen Situation gebraucht.

      *

      Drinnen. Wir sind wirklich drinnen.

      Matthew konnte es noch nicht vollkommen glauben. Irgendwie hatte er sich das alles schwieriger vorgestellt und sich schon gefragt, wie sie es nur schaffen könnten, die Frau davon zu überzeugen, dass es sich bei Dupoit tatsächlich um ihren Großvater handelte. Gerade sein Aussehen ließ ja nicht sein Alter erahnen.

      Doch sogleich wurde Matthews Aufmerksamkeit wieder weg von der Fremden und hin zu ihrer Wohnung gelenkt. Das bizarre Zettelkunstwerk am Eingang war eindeutig nur ein Vorgeschmack gewesen. Auf beiden Seiten des kleinen Flurs drängten sich schiefe Stapel kopierter Blätter, auf denen leere Wasserflaschen balancierten. Ein runder Papierkorb hatte wohl schon vor Tagen ächzend unter der Last rechteckiger Pizzakartons kapituliert, die als wütende Horde über ihn hergefallen sein mussten. Gleich daneben bemühte sich eine Plastiktüte, die leeren Verpackungen von Fertigsuppen und einigen Schokoriegeln im Zaum zu halten. Der Blick in das Wohnzimmer war nicht wesentlich besser. Überall im Raum war schmutziges Geschirr verteilt, aber zahlreicher noch waren die unzähligen Türme aus Büchern und Notizzetteln, die sich auf schier unmögliche Weise der Schwerkraft trotzend in die Höhe wanden. Sie belegten sämtliche Tische sowie die Sitzflächen der meisten Stühle, das Sofa und auch einen Teil des Bodens. Jetzt bekam Matthew eine Vorstellung davon, warum die Wohnung so aussah und sich überall die Spuren von Fertignahrung stückchenweise durch die Räume zogen. Sarah war nicht etwa von Natur aus zu unordentlich oder zu faul zum Kochen. Nein, die Bücher und Blätter sprachen deutlich: Das hier war die Wohnung einer Person, die wie besessen an einer Sache arbeitete und darüber die Welt um sich herum vergaß. Noch etwas fiel ihm auf. Diese Wohnung bildete das beste Abbild seines eigenen Geistes, das er sich zur Zeit vorstellen konnte.

      Die Bücher und Notizen waren es auch, die Dupoit ins Auge sprangen. Als sie seiner Enkelin ins Wohnzimmer folgten, fiel sein Blick auf drei Notizzettel auf einer Kommode, und obwohl er die hastig hingekritzelten Worte nur überflog, legte sich eine düstere Ahnung auf sein Herz. Es war genauso wie damals. Sie war auf der gleichen Spur, der er einst gefolgt war. Sie war wie er...

      Dupoit hob den Kopf und blickte Sarah an.

      *

      Sarah spürte den Blick des älteren Mannes in ihrem Nacken und drehte sich zu ihm um. Stahlblaue Augen sahen sie an. Sarah hatte das Gefühl, als blickten sie ihr direkt in die Seele.

      Sie schluckte hart und bemerkte hinter dem Mann die drei eingerahmten Notizzettel, die inmitten des unsäglichen Chaos, das in ihrer Wohnung herrschte, seltsam ordentlich an der Wand hingen.

      Ihre Augen wanderten zurück zu dem inquisitorischen blauen Blick, der kompromisslos ihr Innerstes nach außen kehrte.

      Sie wusste plötzlich, dass dieser Mann das Chaos in ihrer Wohnung verstand. Und wenn sie vorher noch an seiner Identität gezweifelt hatte, nun war sie sich ihrer sicher. Dieser Mann mit dem dichten Haar, das an den Schläfen bereits grau wurde, den blauen Augen und dem faltenlosen, maskenhaften Gesicht, war ihr Großvater! Dieser scheinbar Fremde war trotz seines zeitlosen Aussehens Henri Dupoit, der vor über dreißig Jahren spurlos verschwunden war.

      Sarah öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber die Worte verharrten ihr im Hals und wollten nicht heraus. Stahlblaue Augen beobachteten sie, als sie sich mühsam räusperte und einen erneuten Anlauf unternahm. Die Worte kamen. Leise und begleitet von einem unsicheren Zittern, aber sie fanden ihren Weg hinaus in die Welt und in die Wirklichkeit:

      »Ich habe dich gesucht, grand-père.«

       //Müde ... es war so ... müde. Es musste ... sich konzentrieren. Die Antwort ... sie war da, beinahe greifbar. Verschwunden. Dort ... hinter der nächsten Seite. Ganz unten. Das Kapitel ... was machte es hier? Es kam doch erst später. Die Zeilen ... sie verschwammen vor seinen Augen. In dem Moment, in dem es sie ansah, verschoben und versteckten sie sich. Es hätte sich auch gerne versteckt. Denn es konnte spüren, wie der Moment näher kam. Der Moment, in dem das Böse gewinnen würde. Es würde letztendlich triumphieren. Länger ... länger konnte es diesem Druck einfach nicht mehr standhalten. Schon jetzt kam es ihm so vor, als hätte es nie einen anderen Zustand gegeben. Dieser hier würde ewig dauern. Hatte bereits ewig gedauert. Blieb nur ... der Weg. Bis Hilfe eintraf, würde es zu spät sein. Es konnte das Böse nicht länger abwehren. Es würde zerbrechen. Heute, vielleicht morgen. Dennoch musste es die Möglichkeit wahrnehmen. Musste seinem anderen Ich mitteilen, wo es zu finden war. Wo es den Kampf gegen das Böse verloren hatte. Wo sein Innerstes vernichtet worden war. Die Antwort lag ... in seiner Art. Seinem Ursprung. Seiner Herkunft. Den Büchern.//

      Kapitel 12