Heike Schwender

Der Weltenschreiber


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Von einem Vermieter, der ihn im Laufe der Jahre vollends vergessen zu haben schien. Und erst als er das Buch und seine Schreibutensilien sorgfältig in dem kleinen hölzernen Schreibtisch verstaut hatte, ließ er es zu, dass die schmerzliche Erinnerung ihn übermannte.

      Er sah es noch vor sich, als wäre es gestern gewesen. Nach einem ausgiebigen Spaziergang durch die Pariser Innenstadt hatte er sich in sein kleines Dachbodenzimmer begeben, um seine Sachen zu ordnen und diese Welt hinter sich zu lassen. Nicht für lange, nur für eine Weile. Der Spaziergang sollte eine Art vorübergehender Abschied von der Stadt sein, die ihn mit ihrer eleganten und historischen Schönheit so faszinierte, dass er schon mehr Zeit in ihr verbracht hatte, als ursprünglich geplant gewesen war.

      Er war – wie er dachte, zum letzten Mal – die enge Stiege nach oben ins Dachgeschoss und in das kleine Zimmer gegangen, das dahinter lag. Er brauchte nicht viel zum Leben und das war auch heute noch so. Alfred blickte sich in dem kleinen Zimmer um. Es sah noch aus wie damals, vor gut vierzig Jahren. War es wirklich schon so lange her? Oder so kurz? Er hielt inne. Müßig, sich über so etwas wie Zeit Gedanken zu machen. Sie bedeutete ihm nichts. Alfred sah hinüber zu dem kleinen Schreibtisch und erinnerte sich an die Geschehnisse, als lägen sie nicht schon Jahrzehnte zurück.

      *

       »Ich sitze fest.« Das war der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss, als er das Buch nicht fand. Der erste und der einzige, der zählte. Ein verstörender Gedanke. Ein Gedanke, der sich nicht verdrängen und nicht beschönigen ließ. Ein Gedanke, der – kaum gedacht – in der Leere des Zimmers hängen blieb und keine weiteren Gedanken mehr zuließ. Was sollte es auch für weitere Gedanken geben! Er saß fest. Das war verstörend. Furchterregend. Endgültig.

       Alfred stand reglos vor seinem kleinen Holzschreibtisch, die linke Hand immer noch am Knauf der obersten Schublade, die halb herausgezogen war. Sie hing genau an der Stelle, an der sie immer klemmte. Jetzt müsste sein Blick, der in das Innere der Lade gerichtet war, bereits das Buch vor sich sehen. Das Buch. Sein Buch. Sein Leben.

       Alfred musste feststellen, dass dies eine Situation war, die er nicht so gelassen hinnehmen konnte, wie er das normalerweise mit Überraschungen – gleich welcher Art – mühelos schaffte. Aber das hier war anders. Das war etwas, das nicht sein durfte. Nicht sein konnte. Wer hatte es geschafft, sein Buch zu entwenden? Und warum hatte er nicht gespürt, dass etwas nicht stimmte?

       Alfred zwang sich dazu, die Schreibtischschublade loszulassen – sie blieb halb in der Luft hängen und sah genauso hilflos aus, wie er sich fühlte – und wankte die paar Schritte zu seinem Bett hinüber, das unter einem nicht mehr ganz sauberen Dachfenster stand. Niedergeschlagen ließ er sich auf dem Bett nieder und stützte den Kopf in beide Hände. Sein auf eigenartige Weise jung wirkendes Gesicht war leer, hoffnungslos.

       Wie konnte das passieren? Genau wie die anderen aus der Gilde hatte er eine so enge Bindung zu seinem Buch, dass es einfach nicht möglich war, dem einen etwas anzutun, ohne dass der andere es merkte! Er hätte spüren müssen, dass jemand hier war und seine Hand auf das Buch gelegt hatte. Es hätte ihn so stark treffen müssen, als hätte jemand ihn mit der Hand umschlossen und mit aller Kraft zugepackt.

       Alfred schüttelte hilflos den Kopf. Sein Buch war weg und er saß hier fest. Es schien, als müsste er diesen Tatsachen ins Auge sehen. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. Er war sich nicht einmal sicher, ob es für ihn überhaupt weitergehen würde. Was geschah mit seiner Art, wenn sie von ihrem persönlichen Buch getrennt wurde? Soweit er wusste, war so etwas noch nie zuvor passiert. Nicht nur die enge Bindung zwischen Schreibendem und Buch hatte das verhindert, auch ein unausgesprochener Ethos, das Wissen um die Wichtigkeit eines jeden Buches für ein Mitglied ihrer Gemeinschaft, hatte es völlig undenkbar werden lassen, sich an diesen Büchern zu vergreifen.

       Alfred richtete sich kerzengerade auf und sah blicklos in Richtung des Schreibtisches. Es musste jemand aus seiner Welt gewesen sein! Jemand, der die Macht besaß, ein persönliches Buch an sich zu nehmen, ohne dass der Verbundene etwas davon mitbekam!

       Alfred merkte, wie ihm auf einmal schwindelig wurde. Jemand aus seiner Welt! Wie konnte jemand aus seiner Welt absichtlich ein solches Verbrechen begehen? Er spürte tiefe Trauer in sich aufsteigen. Enttäuschung. Verbitterung. Wut. Gefühle, die er so nicht kannte. Gefühle, die ihn von innen heraus verzehrten. Und als er bei dem Gefühl der Wut angekommen war, wusste er, dass er nicht aufgeben durfte.

       Er saß fest. Na schön, und wenn schon. Während seines langen Lebens hatte er sich bereits in ungemütlicheren Welten aufgehalten! Dann würde er eben hier bleiben. Er musste nicht einmal völlig auf seine Gabe verzichten, da er sich für seine Reise in diese Welt fünf leere Bücher mitgenommen hatte. Auch wenn keines von ihnen seinem eigentlichen Buch in Macht und Bedeutung gleichkam. Sie waren Teil seiner Arbeit, aber nicht Teil seiner Persönlichkeit. Erst eines von ihnen hatte er bisher begonnen, so gefangen war er von der Beobachtung des Lebens, das um ihn herum tobte. Seine Studien über die Menschen hatten ihn völlig von der eigentlichen Arbeit abgehalten. Aber die würde er nun nachholen. Diese fünf Bücher würden die besten werden, die er jemals geschrieben hatte. Er saß fest und hatte Zeit. Er würde sich jedes Wort zweimal überlegen, bevor er es niederschrieb. Jedes Wort wäre auf die anderen abgestimmt und jeder Satz in sich schon ein sprachliches Meisterwerk.

       Alfred musste beinahe über sich selbst lachen, als er bei diesem Gedanken angekommen war. Was hatte er nur schon wieder für hochfliegende Pläne! Aber seine Heiterkeit war nur von kurzer Dauer. Zu schnell war er sich wieder des Ernstes seiner Lage bewusst. Und dann lächelte er grimmig. Warum eigentlich nicht. So konnte er die Zeit, die er hier verbringen musste, am besten nutzen. Und immer dann, wenn seine Arbeit von ihm verlangte, sich neue Geschehnisse und Gefühle zu suchen, über die er schreiben konnte, oder hinauszugehen und sich anzusehen, was mit dem Geschriebenen geschah, würde er nach seinem Buch suchen. Sein Buch war klug. Und treu. Wenn es ihm irgend möglich war, hatte es sicher Hinweise auf seinen Verbleib hinterlassen. Die Frage war nur, wo er nach solchen Hinweisen suchen sollte.

       Alfred seufzte. Aber er musste sie ja nicht gleich morgen finden. Es schien, als würde er noch eine Weile existieren, als wäre der Verlust seines Buches noch nicht sein Ende. Er würde es suchen und er würde es sich wiederbeschaffen. Wenn nicht morgen, dann vielleicht in einer Woche, in einem Monat, in einem Jahr, in einem Jahrzehnt oder in einem Jahrhundert. Was war schon Zeit! Er saß hier fest und hatte alle Zeit der Welt. Alle Zeit dieser Welt.

      *

      Alfred erhob sich schwerfällig von dem Bett, auf dem er – völlig in Gedanken versunken – gesessen hatte. Sein Blick war noch immer auf den kleinen hölzernen Schreibtisch gerichtet, der ihm während der vergangenen Jahrzehnte so nützlich gewesen war. Er hatte damals nicht gewusst, wie lange es dauern würde. Genau genommen wusste er immer noch nicht, wann er sein Buch endlich wiederhaben würde. Aber zumindest schien es, als hätte er eine Spur. Und der würde er nun folgen.

      Zu lange schon hatte er sich einsam gefühlt. Leer. So, als hätte jemand ein Stück aus ihm herausgebrochen, das ihm seither fehlte. Und dieses Stück würde er sich nun wieder beschaffen. Und dann würde er denjenigen, der ihm das angetan hatte, zur Verantwortung ziehen. Er war bereit.

      Kapitel 14

      Als Sarah in ihrer Erzählung zum Ende kam, fühlte sie sich, als wäre sie einen emotionalen Marathon gelaufen. Ihr Großvater hatte sie immer wieder aufgeregt unterbrochen, um Details aus ihrem Leben noch genauer unter die Lupe zu nehmen. Er wollte alles darüber wissen, was sich während seiner Abwesenheit ereignet hatte. Da Sarah selbst keine allzu enge Bindung zu ihrer Mutter hatte und den Kontakt nur noch lose pflegte, war es ihr nicht leicht gefallen, objektiv von den vergangenen Erlebnissen zu berichten.

      Aber irgendwie gelangte sie an ein Ende, das sich in der Gegenwart befand. Ihr Blick traf sich mit dem ihres Großvaters. Auch er sah aus, als hätte ihn das Gehörte stark mitgenommen. Was für ein Gefühlschaos! Der Einzige, dem man die emotionale Müdigkeit nicht